In der Nach-Arafat-Ära bemühen sich
Israelis und Palästinenser wieder darum, einen Weg zum Frieden
zu finden. Aber bis nicht jede Seite die Katastrophe der anderen
Seite mit Einfühlungsvermögen ehrlich zu verstehen versucht *,
ist es wie ein Dialog unter Tauben.
Eines der mutigsten
Statements, das jemals aus der Feder eines jüdisch-israelischen
Intellektuellen kam, wurde von dem Philosophen und Historiker
Yehuda Elkana vor über 10 Jahren gemacht. In einem Artikel, der
„ Ein Lob für das Vergessen" überschrieben war, rief Elkana die
israelische politische, kulturelle und lehrende Elite auf, „den
Holocaust zu vergessen." „ Ich kann mir heute keine wichtigere
politische und erzieherische Aufgabe für die Führer dieser
Nation vorstellen, als im Namen des Lebens sich selbst dem
Aufbau unserer Zukunft zu widmen und sich nicht von Sonnenauf-
bis Sonnenuntergang mit den Symbolen, Gedenkfeiern und
„Lektionen" des Holocaust zu befassen. Es ist ihre Pflicht, die
Dominanz historischer „Erinnerung" über unser Leben zu
entfernen."
Elkanas Erklärung
verursachte extrem heftige emotionale Reaktionen. Seine
Empfehlung wurde nicht nur energisch zurückgewiesen – seit sie
gemacht wurde, ist die israelische Gesellschaft noch tiefer in
Holocaustrituale eingetaucht. Sicher ist zu hinterfragen, ob es
überhaupt möglich ist, solch eine Erinnerung zu unterdrücken
oder zu vergessen. Es ist auch zu hinterfragen, ob es für
Israelis - nicht nur als Juden, sondern auch als menschliche
Wesen - moralisch annehmbar ist, die Erinnerung an diese
schreckliche Katastrophe, eines der größten je begangenen
Verbrechen zu vergessen oder gar aktiv auszulöschen. Man sollte
außerdem fragen, ob es möglich sei, ein holocaustfreies
Gedächtnis herzustellen oder wenigstens eines, in dem der
Holocaust ganz an den Rand gedrückt wird. . Ich habe keine
Antworten auf diese Fragen. Aber Elkana verlangte gar nicht,
dass der Holocaust aus dem individuellen und kollektiven
Gedächtnis verschwindet. Seine Sorge richtete sich gegen die
manipulierte Anwendung (Instrumentalisierung) des Holocaust bei
all denen, die sich damit beschäftigten, und die Überbewertung
der Vergangenheit von israelischen und Diasporajuden auf Kosten
der Gegenwart und der Zukunft. Juden im allgemeinen und
israelische Juden im Besonderen ziehen aus dem Holocaust
entgegengesetzte Lektionen. Die eine Lektion ist ethnozentrisch:
„Es ist unsere Pflicht , stark zu sein, um nicht wie Schafe zur
Schlachtbank geführt zu werden," und, nachdem, was Nichtjuden
uns gegenüber getan haben, haben wir moralisch die Freiheit,
gegenüber Nicht-Juden fast alles zu tun. Genau dies ist die
Haltung, die Elkana wütend gemacht hat. Die andere, die
entgegengesetzte Lektion ist universalistisch: ein Volk, das den
Holocaust durchlebt hat, hat nicht nur eine starke
Verpflichtung, gegenüber Leiden und Ungerechtigkeit übersensibel
zu sein, sondern sollte sich selbst gegenüber anderen human
verhalten, selbst wenn es auf Kosten gewisser materieller oder
politischer Schäden geschieht. Ich lebte viele Jahre in einem
Jerusalemer Vorort, Mevasseret Zion. Dies ist eine neue und sich
entwickelnde Wohngegend, die vor allem von Ashkenazim der
Mittelklasse bewohnt wird. Zunächst war es ein Ort, der 1956
errichtet wurde und von „Marokkanern" (Juden, die aus Marokko
nach Israel einwanderten) bewohnt war. Dann kamen Entwickler und
Unternehmer, die es in Mevasseret umwandelten. In dieser
Siedlung wurde ein neues Absorptionszentrum eingerichtet, das
heute hauptsächlich „Äthiopern" hilft. Dieses Absorptionszentrum
ließ in einigen der neuen Bewohnern von Mevasseret Ängste hoch
kommen und den Neid junger Paare, den Nachkommen der alten
Bewohner. Eine meiner wichtigsten Überlegungen bei der Wahl für
Mevasseret Zion war eine ideologische. Ich wollte nicht jenseits
der Grünen Linie leben, jenseits der Grenze von 1967. Ich wollte
kein „Siedler" sein. Doch die Wahrheit ist, dass ich dennoch ein
Siedler wurde. Bald nach unserer Ankunft kamen palästinensische
Arbeiter aus den Dörfern und Flüchtlingslagern der Umgebung in
unser Haus und die Nachbarschaft. Sie nannten den Ort nicht
Mevasseret. Für sie ist es bis heute Qalunia – sein ursprünglich
arabischer Name – geblieben. Es war nicht das erste Mal, dass
ich Palästinensern aus allen sozialen Schichten begegnete, vom
einfachen Tagelöhner bis zu Kollegen, Professoren an
Universitäten. Sie saßen mit mir zusammen und erzählten mir ihre
Familiengeschichten, von wo sie waren, wohin sie 1948 vertrieben
wurden oder geflohen waren und was jedem Familienmitglied im
einzelnen, oft in zwanghaften Details erzählt, geschehen ist.
Ich muss gestehen, mehr als einmal war ich versucht, die
Gegengeschichte zu erzählen, meine Geschichte und die meiner
Familie und was uns in „unserem" Holocaust passiert ist. Es
waren verschiedene Gründe. Einerseits wollte ich Empathie
demonstrieren, um meinem Partner zu zeigen, wie sehr ich ihn
oder sie verstehe, da auch ich wusste, was eine Katastrophe ist
und was es heißt, Flüchtling zu sein. Andrerseits war ich davon
erfüllt, die eine Geschichte gegen die andere Geschichte zu
stellen, die eine gegen die andere Katastrophe, um die Situation
auszubalancieren, um ein gewisses Gleichgewicht zwischen den
Katastrophen herzustellen. Im Falle von Qalunia mag es sogar
mehr als das gewesen sein, eine gewisse Rechtfertigung für meine
persönliche Präsenz an diesem Ort. Aber meistens überwand ich
mich und hielt mich mit dem Erzählen meiner Geschichte zurück.
Ich hielt mich mit dem Erzählen der Gegengeschichte auch deshalb
zurück, weil ich fühlte, dass die al-Nakba, die palästinensische
Tragödie von 1948, mit dem Holocaust nicht vergleichbar ist –
außer in einem Punkt. Beide Ereignisse hinterließen in beiden
Völkern kollektive und persönliche Traumata. Bis zum heutigen
Tag leben beide im Schatten dieser Traumata. Man kann unmöglich
die Kultur oder das Verhalten verstehen, wenn man nicht den Kern
dieser Ereignisse in ihrer Identität und Erinnerung versteht.
Deshalb war ich sehr froh, als ich vor ein paar Jahren einen
Artikel in diesem Sinn von Edward Said über den Holocaust las,
ein Artikel, der mit Saids charakteristischem intellektuellen
Mut geschrieben wurde. 1948 führten die Juden eine ethnische
Säuberung durch. Die meisten arabischen Bewohner, die damals
dort lebten, wo der israelische Staat errichtet wurde, wurden
brutal aus ihren Häusern vertrieben, oft begleitet von
Massakern, Vergewaltigung und Plünderung. Die Folge davon war
der kollektive Kollaps der palästinensischen sozialen und
politischen Gesellschaft. Sie wurden ein Volk von Flüchtlingen
und Exilanten. Trotzdem kann eine brutale ethnische Säuberung
und Vertreibung nicht mit dem systematischen Genozid im
Holocaust verglichen werden. Dies war ein nie vorher da
gewesenes Verbrechen größten Ausmaßes, ein Verbrechen gegen die
ganze Menschheit. Es war beabsichtigt, am Ende eine Weltordnung
zu schaffen, in der eine Gruppe als „Rasse" alle anderen
„Rassen" beherrschen sollte. Aus einer dritten Perspektive war
die Hineinnahme des Holocaust in das Gespräch und den Konflikt
zwischen uns und den Palästinensern unerträglich, weil die
Palästinenser gar nichts mit dem „Holocaust" zu tun hatten -
außer in der Weise, wie die ganze Menschheit damit zu tun hatte.
Anders ist es mit der Nakba, die direkt zu einem Teil der
Gründungsgeschichte des jüdischen Staates wurde.
Die Geschichte ist jedoch
noch komplizierter. Der Ort, in dem ich lebe, wird anscheinend
mit der biblischen Stadt Motza identifiziert, die tatsächlich
neben dem gegenwärtigen Motza liegt, einem anderen Vorort der
Mittelklassebevölkerung des jüdischen Jerusalem. Kaiser
Vespasian machte sie zu einer Kolonie römischer Soldaten,
Colonia Amosa, die eine byzantinische Siedlung wurde, die
Koloneia genannt wurde, ein Name, den die arabischen Eroberer
fast unverändert übernahmen, als sie das Land im 7. Jahrhundert
eroberten. Alle diese Informationen fand ich in dem Ort, in dem
ich lebe, in einem Band, den der alte palästinensische
Historiker Walid Khalidi geschrieben hat. Dieses Buch dient als
eine Art Memorial für die arabischen Orte, die es einmal gab und
die nach dem 1948 er Krieg und der Kolonisierung durch Juden
verschwanden. Aus diesem Buch erfuhr ich auch, dass vor 1948
hier in Qalunia 900 Araber in 156 Häusern lebten. Touristen und
Pilger beschrieben es als reiches Dorf. Es hatte Zitrusplantagen
und ein Gasthaus für Durchreisende; es war der letzte Rastplatz
vor Jerusalem. Das Dorf wurde am 11. April 1948 als Teil der
Operation Nachshon von der Haganah angegriffen. Der israelische
Historiker Benny Morris schreibt, dass die jüdischen Kräfte zwei
Tage dort blieben, um die völlige Zerstörung des Ortes zu
gewährleisten. Die meisten seiner Bewohner flohen offensichtlich
am 9.4., nachdem Berichte vom Massaker im benachbarten Deir
Yassin bekannt wurden. Einige Juden weisen auf ihre biblischen
Wurzeln im Heiligen Land, was ihnen ein größeres Recht als den
Palästinensern gäbe, dort zu wohnen. Aber mit diesem Argument
muss man 2000 Jahre zurückgehen. Und warum sollten in diesem
Fall die Palästinenser nicht auf nur 57 Jahre zurückgehen? Die
zionistische Forderung, es solle die Situation, wie sie
angeblich vor 2000 Jahren war, wiederhergestellt werden,
unterstützt damit auch die palästinensische Forderung, dass die
Situation wieder hergestellt werden solle, wie sie vor nur einer
Generation bestand. Dieses äußerst seltsame Spiel des „Wer-war-zuerst-da?"
ist eine Absurdität. Tatsächlich ist die Geschichte des Ortes,
in dem ich lebe, ein Fallbeispiel für das, was im ganzen Land
geschah, bevor ich hierher emigrierte. Zwischen 7 und 800 000
Araber wurden aus etwa 400 arabischen Orten vertrieben. Die
meisten Orte wurden dem Erdboden gleich gemacht. Einige wenige
wurden von jüdischen Emigranten bewohnt und ihre Namen
hebräisiert. Eine kleine Anzahl ihrer Bewohner wurde in der
Schlacht getötet oder starben vor Hunger oder Krankheit. Der
größte Teil von ihnen wurden Flüchtlinge und wurden in der
ganzen Region und der Welt zerstreut. Einige wurden „interne
Flüchtlinge", d.h. sie flohen oder wurden aus ihren Wohnungen
vertrieben, und obwohl sie innerhalb der Grenzen Israels
blieben, war es ihnen nicht gestattet, in ihre Häuser
zurückzukehren. Ihr Besitz als der von „Anwesend-Abwesenden"
wurde konfisziert und verstaatlicht. Diese ethnische Säuberung,
die 1948 ausgeführt wurde, sollte in ihrem geschichtlichen
Kontext gesehen werden, was bedeutet, dass die jüdische
Perspektive mit berücksichtigt werden muss. Es ist indiskutabel,
dass die Folgen des Krieges eine große Katastrophe für die
palästinensische Gesellschaft war und unbeschreibliches,
menschliches Leid für Generationen auslöste, das sich bis heute
fortsetzt. Aber man muss auch erkennen, dass diese Folgen nicht
vorherbestimmt werden konnten. Es bestand zu jenem Zeitpunkt
noch die Möglichkeit, dass die Gesellschaft jüdischer
Immigrantensiedler zusammenbrechen und zerstört würde. Beide
Seiten betrachteten die Situation als einen Krieg, in dem nur
eine von beiden Gemeinschaften politisch überleben würde. Dies
war wenigstens unter Juden das subjektive und ehrliche Gefühl,
nachdem sie gerade die Folgen des Holocaust und seine Bedeutung
zu verstehen begannen. Die Möglichkeit eines weiteren Holocaust
in Palästina erschreckte die Juden, und deshalb standen ihre
militärische Doktrin und Aktivitäten unter diesem Trauma. Die
Verbindung zwischen dem jüdischen Holocaust und der arabischen
Katastrophe besteht also in der palästinensischen
Geschichtsschreibung – doch ihr Kontext und seine Bedeutung sind
unterschiedlich. Die palästinensische Beschwerde darüber ist
bekannt und klar. Nicht Muslime oder Araber, sondern der
christliche Westen, Europäer und Amerikaner begingen das
schreckliche Verbrechen gegen das jüdische Volk. Die einen
führten die Vernichtung durch; die anderen verschlossen die
Augen davor und unternahmen nichts, um dieses zu verhindern.
Nachdem sie ihre Verbrechen gegen Juden begangen hatten, wuschen
sie ihre Hände in Unschuld, (leugneten ihre Verantwortung) und
ließen das arabisch-orientalische Volk den Preis zahlen, indem
sie mithalfen, ihr Land zu enteignen und so versuchten, ein
Verbrechen mit dem anderen aufzurechnen. Es ist also kein
Wunder, dass viele Palästinenser und andere Araber gegenüber dem
Westen sehr aufgebracht sind --- es ist ein Groll der vielleicht
unter den am meisten „Verwestlichten" unter den Arabern am
stärksten ist. Das Trauma der Vertreibung und der Zerstreuung,
das sowohl persönlich als auch national empfunden wird, hat die
palästinensische Lebenserfahrung mehr als alles andere geprägt.
Genau wie der Holocaust wird die Nakba für den Zweck, eine
kollektive palästinensische Identität aufzubauen, dazu
verwendet, neben konstruktiven und kreativen Prinzipien auch
zerstörerische und aggressive zu schaffen – wie den Kult um den
Märtyrertod einzelner, der die Selbstmordattentäter umgibt. Die
palästinensische Literatur und Dichtung reflektiert diese
Heimsuchung mit Erinnerung ...Die Dichterin Fadwa Touqan
schrieb: 1948 starb mein Vater und Palästina war verloren
...diese Ereignisse gaben mir die Fähigkeit, nationale Dichtung
zu schreiben, wie sie mein Vater immer von mir wünschte". Eine
Gedichtsammlung des Dichters Mahmoud Darwish war überschrieben:
„Unglücklicherweise war es das Paradies" Eine Volkskultur, die
sich in Liedern, Balladen, Gedichten und Prosa ausdrückt, dreht
sich um drei zentrale Themen : Die Erinnerung an das verlorene
Paradies, aus dem die Palästinenser vertrieben wurden; die
bittere Klage über die Gegenwart und der Wunsch nach Rache und
Wiederherstellung; und die Beschreibung der zukünftigen
siegreichen Rückkehr zu den Feldern, Weingärten, dem Haus, dem
Dorf und der Heimat.
Je weiter die Palästinenser geographisch
und politisch von Palästina entfernt sind und je weniger Kontakt
sie mit Juden oder Israelis haben, um so intensiver wachsen
diese mythischen Prinzipien in ihrem Gedächtnis, zusammen mit
Hass und dem Wunsch nach Rache. Diejenigen, die in engem, oft
intimem – zuweilen zu intimem Kontakt mit der zionistischen
Entität sind - wie die arabischen Bürger im jüdischen Staat –
lernten, uns anerkennen, lernten unsere Sprache, unsere Sitten
und die Vielfalt und Vielstimmigkeit unter uns und unserer
Kultur. Das stimmt auch für die Beziehungen zwischen Israelis
und den (arab.) Arbeitern und Gefangenen aus den besetzten
Gebieten nach dem Krieg von 1967.
So haben die Palästinenser
einerseits Israel die Ungerechtigkeit und ihr Elend , das ihr
Schicksal war und ist, übelgenommen. Andrerseits hat der
jüdische Staat unter Palästinensern eine Mischung von
Anerkennung und Neid auf seine materielle und sogar geistige
Kultur und militärische Macht erregt. Diese Palästinenser
erkennen das hässliche und das reizvolle Gesicht Israels an.
Ganz sicher erkennen sie die Israelis weit mehr an als wir sie .
Nach einiger Zeit wurde den Palästinensern bewusst, dass Israel
eine unabänderliche Tatsache ihres Lebens ist. Deshalb sei es
sinnvoll, einen modus vivendi zu finden, sich mit seiner
Existenz abzufinden und zu einer erträglichen Vereinbarung zu
kommen. Die Anerkennung, dass ein solches Abkommen besser ist
als die Verewigung des palästinensischen Leidens und seine
Weitergabe von Generation zu Generation hat im palästinensischen
Denken eine Revolution ausgelöst. Deshalb haben kürzlich einige
ihrer Intellektuellen – wie unsere Intellektuellen in der 30er
Jahren – von einem bi-nationalen Staat zu träumen begonnen.
Trotz der letzten vier
gewalttätigen Jahre der al-Aqsa Intifada ist eine wachsende
Anzahl von Palästinensern - besonders jene, die in den 1967 von
Israel besetzten Gebieten leben - aus Mangel an anderen
Möglichkeiten, bereit, den Traum von Großpalästina aufzugeben.
Trotz der Ungerechtigkeit bei dieser Konzession, sind sie
bereit, auf ihren Familienbesitz und auf einen Teil ihres
nationalen Vermögens zu verzichten – unter der Bedingung, dass
sie einen eigenen Staat bekommen und sich das Leben ihres Volkes
verbessert.
Als Entgelt dafür bitten
die Palästinenser nur darum, dass - wenn wir ihnen schon nicht
ihr Land und ihre Häuser, die 1948 widerrechtlich angeeignet
wurden, zurückgeben - wir wenigstens ihre Katastrophe und ihr
Leiden anerkennen sollten, ja, dass unsere Gesellschaft und
unser Staat auf den Ruinen der arabischen Gesellschaft und
Kultur gegründet wurde. Die Palästinenser erwarten nicht einmal,
dass wir sie um Vergebung bitten – es geht nur um die
Anerkennung der historischen Fakten. Politisch und praktisch
sind sie berechtigt, zu erwarten, dass wir als Gesellschaft und
Staat die direkte Verantwortung für eine Rehabilitierung der
palästinensischen Flüchtlingsgesellschaft, die wir geschaffen
haben, zu übernehmen. Sie haben auch jedes Recht, zu verlangen,
dass wir kein „Subunternehmer"(Marionetten)-Regime wie Arafats
palästinensische Behörde über sie setzen, die alle ihre
Menschen- und zivilen Rechte verletzt hatte.
Ganz einfach das
palästinensische Narrativ, ihr Kollektivgedächtnis und ihr
Leiden anerkennen -- ein Narrativ, von dem Israel ein Teil ist,
so wie die Palästinenser ein Teil des israelischen Narrativ sind
– das ist für das Reifen der israelischen Gesellschaft selbst
nötig.* Stärke zeigt sich nicht nur militärisch. Unsere wahre
Stärke kommt dann zum Vorschein, wenn wir in der Lage sind, uns
selbstkritisch im Spiegel zu betrachten, und wenn wir verstehen,
dass je mehr das palästinensische Volk rehabilitiert ist, es um
so besser für uns als Juden und als Menschen sein wird. Wenn die
Vergangenheit mit all seiner Last weder von uns noch von den
Palästinensern vergessen werden kann, dann müssen wir uns
wenigstens darum bemühen, ein gemeinsames, mitfühlendes Narrativ
der Vergangenheit zu schaffen, in dem jeder von uns das Leiden
des anderen anerkennt. Dieser offene, von beiden Völkern
begangene Weg der Erinnerung würde Israel auf die Dauer mehr
Sicherheit bringen als jede Mauer.
Dieser Teil einer
Programmrede ( zur jährlichen Konferenz der israelischen
Anthropologischen Gesellschaft, 1999) hier in einer bearbeiteten
Fassung Er wurde dem Gedächtnis von Edward Said gewidmet, dem
tapfersten Intellektuellen, den ich je gekannt habe.
(Über den Verfasser:
Baruch Kimmerling ist Professor der Soziologie an der
hebräischen Universität von Jerusalem und der Autor des Buches „Politizid:
Ariel Sharons Kriege gegen die Palästinenser" und Co-Autor von
„Das palästinensische Volk: eine Geschichte". * Vgl auch Uri
Avnery: Wahrheit gegen Wahrheit, 101 Thesen, Mai 2004,
AphorismA-Vlg Berlin)