Der Nahost-Konflikt:
Israel in
der Rolle des Opfers
François Bremer
In einer mit Showeinlagen und
Drohungen gespickten Ansprache vor der
UNO-Vollversammlung, Ende September, appellierte der
israelische Ministerpräsident Netanjahu an die
Weltgemeinschaft: "Steht ihr auf der Seite der
Terroristen oder an der Seite Israels?" Der Vorwand für
Netanjahus provokatorischen Auftritt war der vor kurzem
veröffentlichte Goldstone-Bericht über
die Militär-Offensive Israels gegen den Gazastreifen, im
Winter 2008/2009. Der vom UN-Rat für Menschenrechte in
Auftrag gegebene Bericht bezichtigt Israel, aber
auch bewaffnete palästinensische Gruppen, der
Kriegsverbrechen und möglicherweise der Vergehen gegen
die Menschlichkeit. In Israel stiess der Bericht auf
heftige Kritik; die Autoren würden nicht zwischen
Angreifer(laut Israel sollen das die Palestinenser
gewesen sein) und Verteidiger (Israel) unterscheiden, so
hiess es.
Kein Wort verlor
Netanjahu vor der UNO über die äusserst schwerwiegenden
gegen Israels Kriegsführung gerichteten Vorwürfe; kein
Wort über die 1.4oo palästinensischen Todesopfer,
darunter Hunderte von Frauen und Kindern; kein Wort über
die von Israel in Gaza eingesetzten Phosphorbomben.
Hingegen zögerte er nicht, die von Gaza auf Israel
abgefeuerten Raketen und Mörsergranaten, grösstenteils
handwerklicher Herkunft, mit den Bombardierungen
englischer Städte durch Nazi-Deutschland zu vergleichen.
Zur Erinnerung: die über England abgeworfenen
deutschen Bomben verursachten den Tod von Zehntausenden
von Menschen; im Gaza-Krieg hatte Israel 13 Opfer zu
beklagen, 9 von ihnen Soldaten!
Überhaupt diente Netanjahus
UNO-Auftritt hauptsächlich einem Zweck: Israel als das
ewige Opfer hinzustellen. So widmete Israels Premier den
Anfang seiner Rede dem Holocaust. Im Glauben, er müsste
nochmals den Beweis für den von den Nazis an den
Juden verschuldeten Völkermord erbringen, leistete er
der Erinnerung an die Shoah einen schlechten Dienst:
indirekt gab er denen Recht, die Israel der
Instrumentalisierung der Shoah für politische Zwecke
beschuldigen. Es sei an dieser Stelle an
die kritischen Worte von Avraham Burg, ehemaliger
Präsident des israelischen Parlaments, erinnert:
"Innerlich leben wir (Juden) auf dem Planeten Shoah.
Alles ist Shoah und alles wird an der Shoah gemessen"
(aus dem Buch "Hitler besiegen"). Burg möchte seinen
Landsleuten ins Gewissen reden und übt scharfe Kritik
an den neuen jüdischen "rassistischen Theorien", die in
Israel überhand nehmen.
Wie
nicht anders zu erwarten nahm auch das Atomprogramm des
"barbarischen" iranischen Regimes einen herausragenden
Platz in Netanjahus Erklärung vor der UNO ein. Die
"Tyrannen" in Teheran mit ihren atomaren Ambitionen,
die sich die "Vernichtung" Israels zum Ziel gesetzt
hätten, stellten laut Netanjahu derzeit die grösste
Herausforderung für die UNO dar. Dass Israel sich um
seine Sicherheit sorgt, bedarf keiner weiteren
Erklärung. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass
der ständige Hinweis Israels auf die - nicht
nachweisbare - Bedrohung aus dem Iran in erster Linie
dazu herhalten muss, um vom eigentlichen Problem, der
Beilegung des Konflikts mit den Palästinensern,
abzulenken.
Das schändliche Spiel mit den Palästinensern
Barack Obamas Wahl zum
Präsidenten der USA hatte in vielen Teilen der
Welt höchste Hoffnungen erweckt, auch im
Nahost-Krisengebiet. Nicht zu Unrecht, hatte Obama
sich doch vorgenommen, gegenüber Israel einen forscheren
Ton einzuschlagen als man dies von seinem Vorgänger
gewohnt war. Eine härtere Gangart gegenüber Israel,
besonders in der Frage der Siedlungen, wird
allgemein als unabdingbar empfunden, um endlich wieder
Bewegung in den "Friedensprozess" zu bringen.
Inzwischen erhielten
die in Obama gestellten Erwartungen einen gehörigen
Dämpfer. Israels Ministerpräsident Netanjahu ist es
gelungen, dem Druck Obamas standzuhalten und sich dem
von den USA geforderten kompletten Siedlungsstopp in
den palästinensischen Gebieten zu widersetzen. Das
unwürdige Feilschen Israels um jede neue Wohnungseinheit
in den illegalen Siedlungen scheint auf die Dauer
auch Obama mürbe gemacht zu haben. Seit einigen
Tagen fordert der amerikanische Präsident nicht
mehr ein "Einfrieren" der Siedlungsaktivitäten, sondern
spricht nur noch von "Zurückhaltung", was auch immer
das heissen mag. Für Obama scheint eben eine
Fotogelegenheit mit Abbas und Netanjahu, sowie ein
Händedruck zwischen den beiden
Kontrahenten, wichtiger zu sein als der
Siedlungsstopp! Für den palästinensischen Präsidenten
Mahmoud Abbas ist das Einlenken der Amerikaner ein
herber Rückschlag. Abbas wird nur Spott und Häme ernten,
sollte er seinerseits auf seine Forderung verzichten,
dass neue Verhandlungen nur in Frage kommen, wenn Israel
sich zu einem Baustopp bekennt.
Ihrerseits scheinen die
Europäer vorerst an ihrer Position gegenüber
Israel festzuhalten. Das geht zumindest aus der
Ansprache des schwedischen Premiers Fredrik Reinfeldt
vor der UNO-Vollversammlung hervor: Israel müsse sofort
alle Siedlungsaktivitäten in den besetzten Gebieten
einstellen, einschliesslich in Ost-Jerusalem, so der
EU-Vertreter. Auch Luxemburgs Aussenminister Jean
Asselborn hatte im Juni, nach einem Gespräch mit dem
israelischen Aussenminister, einen umgehenden
Siedlungsstopp gefordert; nur ein solcher könnte die
Basis für weitere Friedensverhandlungen sein. Vor der
UNO-Generalversammlung gab Asselborn zu verstehen, dass
er sich mit einem klaren Signal (?) Israels begnügen
würde. Man kann sich nur wünschen, dass diese doch
etwas verwässerte Formulierung nicht eine Abkehr von der
bisherigen Position bedeutet. Aber, was soll's? Israel
schert sich sowieso einen Dreck um die Forderungen der
EU-Staaten.
Den Schlüssel für den
Friedensprozess hält trotz allem und nach wie vor
Washington. Dass Präsident Obama gerade jetzt den Druck
auf Israel in der Frage der Siedlungen gemindert
hat, lässt sich in etwa nachvollziehen. Obama steht
selbst unter Erfolgsdruck. Ihm geht es vorerst darum,
Palästinenser und Israelis möglichst schnell wieder an
den Verhandlungstisch zu bringen. Es heisst denn auch,
Netanjahu und Abbas hätten sich geeinigt, die Gespräche
"ohne Vorbedingungen" wieder aufzunehmen. So deutlich
scheint das auch wiederum nicht zu sein. Von
palästinensischer Seite heisst es, dass es für direkte
Gespräche mit Israel keine gemeinsame Grundlage gebe.
Wie könnte es auch!? Hat doch Netanjahu längst seine
eigenen Bedingungen bekannt gemacht. So verlangt er,
dass ein zukünftiger palästinensischer Staat keine
Armee haben dürfe; der Status von Ost-Jerusalem sei für
die Israelis nicht verhandelbar und von der Rückkehr
palästinensischer Flüchtlinge in ihre frühere Heimat
will Israel ohnehin nichts wissen. Davon abgesehen
möchten die Palästinenser die Verhandlungen wieder
dort aufnehmen, wo sie vor einem Jahr unterbrochen
worden waren; hiergegen stemmt sich wiederum Premier
Netanjahu, der sich nicht durch etwaige Versprechen oder
Konzessionen seines Vorgängers gebunden fühlt. Der
Friedensprozess im Nahen Osten ist eben ein ewiger
Neuanfang!
Der Goldstone-Bericht
über die Kriegsverbrechen während der
israelischen Gaza-Offensive könnte eine weitere
Belastung für den Friedensprozess darstellen, so
verlautete es jedenfalls aus Jerusalem. Gleich nach der
Veröffentlichung des Berichts hatte Netanjahu,
unterstützt von den USA, wissen lassen, dass er die
Weiterleitung des Berichts an die oberen UNO-Instanzen
und an den Internationalen Strafgerichtshof verhindern
würde. Unverständlich und geradezu grotesk aber auch,
dass sich gerade die palästinensische Delegation im
UN-Rat für Menschenrechte in Genf für einen Aufschub
der Abstimmung über den Bericht bis März nächsten Jahres
einsetzte. Selbst in Palästinenserkreisen, die Präsident
Mahmoud Abbas nahestehen, gab es dafür heftige Kritik an
ihrem Präsidenten.
Abbas' Legitimität und
Autorität haben durch das Genfer Intermezzo weiteren
schweren Schaden erlitten. Er ist wohl kaum die
Integrationsfigur, die gerade jetzt, wo die Versöhnung
der palästinensischen Parteien auf dem Spiel steht,
gebraucht wird. Unter diesen Umständen ist es nicht
angebracht, dass die EU-Aussenminister, darunter Jean
Asselborn, sich für den Palästinenser-Präsidenten stark
machen und die Palästinenser auffordern, sich unter
Abbas zusammenzufinden. Sollen doch die
Europäer gefälligst dem palästinensischen Volk
selbst die Wahl ihrer politischen Führer überlassen!
Haben sie nicht schon genug Unheil vor drei Jahren
angerichtet, als sie die palästinensische
Einheitsregierung boykottierten?
Nicht desto trotz kommt der
EU eine wichtige Rolle im Nahen Osten zu. Sie verfügt
über genügend Druckmittel, um Israel Zugeständnisse
abzuringen, zumal US-Präsident Obama gegenüber Israel
wieder in die traditionelle amerikanische Politik der
Nachsichtigkeit zurückfällt. Dabei sollte man doch
auch in Washington längst mitbekommen haben, dass sich
Israel nicht durch gutes Zureden beeindrucken lässt.
Der Goldstone-Bericht
belegt eindeutig, dass Israel auf die Anklagebank
gehört. Dabei geht es um mehr als um die im
Goldstone-Bericht aufgelisteten Kriegsverbrechen! Die
illegale Besatzung palästinensischer Gebiete, die ebenso
illegale Siedlungspolitik, die Zerstörung
palästinensischer Wohngebäude, der Bau einer 700 km
langen Trennmauer, die seit Jahren anhaltende Blockade
des Gazastreifens mit ihren dramatischen Folgen für die
dort lebende Bevölkerung, sind nur einige der
vielen Verbrechen Israels am palästinensischen Volk.
Schluss jetzt mit der
Gutgläubigkeit europäischer Politiker! Auch mit der
jetzigen israelischen Regierung wird es keine
weitreichenden Fortschritte im Friedensprozess geben.
Allenthalben erheben sich Stimmen, die Boykottmaßnahmen
gegen Israel verlangen. Europa soll hier die
Vorreiterrolle übernehmen - in mehreren europäischen
Ländern sind auch schon konkrete Aktionen angelaufen.
Der internationale Boykott gegen das ehemalige
süd-afrikanische Apartheidregime hat uns den
einzuschlagenden Weg gezeigt. Auch Luxemburg kann und
sollte hierzu seinen Beitrag leisten. In allen Bereichen
der bilateralen oder europäisch-israelischen
Zusammenarbeit, ob Warenaustausch, Wissenschaft, Kultur
oder Sport, bieten sich wirksame Mittel den Israelis
verstehen zu geben, dass Verletzungen internationalen
Rechts nicht auf ewig ungestraft bleiben können. Die
internationale Gemeinschaft ist aufgerufen, endlich zu
handeln. Auch auf die "Gefahr" hin, dass sich Israel
einmal mehr in die Rolle des Opfers gedrängt fühlt!
François
Bremer
Luxemburg - Botschafter i.R.
Mitglied
von CPJPO - Comité für einen gerechten Frieden im Nahen
Osten
Tageblatt Luxemburg – 10.10.2009
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