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Mein Appell an das Volk Israels: Befreit
euch, indem ihr Palästina befreit - Erzbischof Emeritus Desmond Tutu
ruft in einem exklusiven Artikel für Haaretz zu einem globalen Boykott
Israels auf und drängt Israelis und Palästinenser, jenseits ihrer
Staatsführer nach einer nachhaltigen Lösung der Krise im Heiligen Land
zu suchen.
Desmond Tutu - 14. August 2014
Ursprünglich
auf http://www.haaretz.com/opinion/1.610687 erschienen. Übersetzung
erfolgte durch die Avaaz-Gemeinschaft.
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In den vergangenen Wochen erlebten wir beispiellose Handlungen durch
Mitglieder der Zivilgesellschaft rund um den Globus gegen die
Ungerechtigkeit von Israels unverhältnismäßig brutaler Reaktion auf die
Raketenabschüsse aus Palästina. Zählt man alle Menschen zusammen, die
sich am vergangenen Wochenende versammelt haben, um Gerechtigkeit in
Israel und Palästina zu fordern – in Kapstadt, Washington D.C., New
York, Neu-Delhi, London, Dublin und Sydney, und all den anderen Städten
– so war dies sicherlich der größte öffentliche Aufschrei für ein
einzelnes Anliegen in der Geschichte der Menschheit.
Vor einem Vierteljahrhundert nahm ich an einigen gut besuchten
Demonstrationen gegen die Apartheid teil. Ich hätte mir nie vorstellen
können, wieder Demonstrationen dieser Größe zu sehen. Aber die
Teilnehmerzahl am letzten Samstag in Kapstadt war genauso groß, wenn
nicht größer als damals. Unter den Teilnehmern waren Junge und Alte,
Muslime, Christen, Juden, Hindus, Buddhisten, Agnostiker, Atheisten,
Schwarze, Weiße, Rote und Grüne vertreten ... wie man es von einer
dynamischen, toleranten, multikulturellen Nation erwarten würde .
Ich bat die Menge, mit mir zu skandieren: “Wir sind gegen die
Ungerechtigkeit der illegalen Besetzung von Palästina. Wir sind gegen
das willkürliche Morden im Gazastreifen. Wir sind gegen die Erniedrigung
von Palästinensern an Kontrollpunkten und Straßensperren. Wir sind gegen
die von allen Beteiligten begangenen Gewalttaten. Aber wir sind nicht
gegen Juden.”
Anfang der Woche forderte ich den Ausschluss Israels aus der
Internationalen Architektenvereinigung, die in Südafrika tagte. Ich bat
die israelischen Schwestern und Brüder, die auf dieser Konferenz
anwesend waren, darum, sich persönlich und auch in ihren beruflichen
Aktivitäten, aktiv von dem Entwurf und der Konstruktion der
Infrastruktur zu distanzieren, durch die das Unrecht aufrechterhalten
wird. Dazu zählen sowohl die Trennmauer, die Sicherheitsstationen und
die Kontrollpunkte, als auch die Siedlungen, die auf besetzten Gebieten
der Palästinenser errichtet wurden.
“Ich bitte Sie, diese Botschaft mit auf den Weg zu nehmen: Bitte wenden
Sie das Blatt gegen Gewalt und Hass, indem Sie sich der gewaltlosen
Bewegung für Gerechtigkeit für alle Menschen in der Region anschließen”
sagte ich.
In den vergangenen Wochen sind mehr als 1,6 Millionen Menschen weltweit
dieser Bewegung beigetreten, indem sie eine Avaaz-Kampagne unterzeichnet
haben, die Firmen, die von der israelischen Besetzung profitieren
und/oder an der Misshandlung und Unterdrückung von Palästinensern
beteiligt sind, auffordert, sich zurückzuziehen. Die Kampagne richtet
sich insbesondere gegen den niederländischen Rentenfonds ABP, Barclays
Bank, den Anbieter von Sicherheitssystemen G4S, das französische
Transportunternehmen Veolia, den Computerhersteller Hewlett-Packard und
den Bulldozerhersteller Caterpillar.
Letzten Monat haben 17 EU-Regierungen ihre Bürger gedrängt, keine
Geschäfte mit oder Investitionen in illegale israelische Siedlungen zu
tätigen. Wir wurden kürzlich auch Zeugen des Abzugs zweistelliger
Millionenbeträge aus israelischen Banken durch den niederländischen
Rentenfonds PGGM, des Kapitalabzugs aus G4S durch die Bill and Melinda
Gates Foundation und des Abzugs geschätzter 21 Millionen Dollar aus HP,
Motorola Solutions und Caterpillar durch die presbyterianische Kirche
der USA. Es ist eine Bewegung, die an Fahrt gewinnt.
Gewalt erzeugt Gegengewalt und Hass, was wiederum mehr Gewalt und Hass
erzeugt. Uns Südafrikanern sind Gewalt und Hass nicht fremd. Wir kennen
den Schmerz, die Außenseiter der Welt zu sein; wenn es scheint, als
verstünde niemand unsere Perspektive oder wäre auch nur willens,
zuzuhören. Das sind unsere Wurzeln. Wir wissen auch um die Vorteile, die
uns der Dialog zwischen unseren Staatsführern schließlich gebracht hat;
als das Verbot angeblich “terroristischer” Organisationen aufgehoben und
ihre Anführer, darunter Nelson Mandela, aus Haft, Verbannung und Exil
entlassen wurden.
Wir wissen, dass sich die Beweggründe für die Gewalt, die unsere
Gesellschaft zerstört hatte, auflösten und verschwanden, als unsere
politischen Führungskräfte miteinander zu sprechen begannen. Terrorakte,
die nach Beginn der Gespräche begangen wurden – wie zum Beispiel
Angriffe auf eine Kirche und eine Kneipe – wurden fast einhellig
verurteilt und der Partei, die man dafür verantwortlich machte, wurde an
der Wahlurne die kalte Schulter gezeigt.
Das Hochgefühl, das unserer ersten gemeinsamen Wahl folgte, war nicht
allein den schwarzen Südafrikanern vorbehalten. Der wahre Triumph
unserer friedlichen Einigung war, dass sich alle einbezogen fühlten. Und
später, als wir eine Verfassung vorstellten, die so tolerant, mitfühlend
und integrativ ist, dass sie Gott stolz machen würde, fühlten wir uns
alle befreit.
Natürlich war es hilfreich, dass wir einen Kader herausragender
Führungspersönlichkeiten hatten. Was diese Führungspersönlichkeiten
jedoch letztlich zusammen an den Verhandlungstisch zwang, war die
Mischung aus überzeugenden, gewaltfreien Mitteln, die damals eingesetzt
worden waren, um Südafrika wirtschaftlich, akademisch, kulturell und
psychologisch zu isolieren. Ab einem gewissen Zeitpunkt – dem Wendepunkt
– realisierte die damalige Regierung, dass die Kosten für die
Aufrechterhaltung der Apartheid den Nutzen eindeutig überstiegen.
Der Rückzug verantwortungsbewusster multinationaler Konzerne aus dem
Handel mit Südafrika in den 1980ern war schließlich einer der
entscheidenden Hebel, der den Apartheidstaat – ohne Blutvergießen – in
die Knie zwang. Diese Unternehmen sahen ein, dass sie zur
Aufrechterhaltung eines ungerechten Status Quo beitrugen, indem sie zur
Wirtschaft Südafrikas beitrugen.
Diejenigen, die weiter mit Israel Handel treiben, die zu einem Gefühl
der “Normalität” in der israelischen Gesellschaft beitragen, tun den
Menschen in Israel und Palästina damit keinen Gefallen. Sie tragen damit
nur zum Fortbestehen eines zutiefst ungerechten Status quo bei.
Diejenigen aber, die dazu beitragen, Israel für eine gewisse Zeit zu
isolieren, sagen damit, dass Israelis und Palästinenser ein
gleichwertiges Recht auf Würde und Frieden haben.
Letztlich werden die Ereignisse der vergangenen Monate im Gazastreifen
testen, wer an den Wert der Menschen glaubt.
Es wird immer deutlicher, dass Politiker und Diplomaten einfach keine
Anworten finden und dass die Verantwortung, eine nachhaltige Lösung für
die Krise im Heiligen Land zu erarbeiten, bei der Zivilgesellschaft und
den Bewohnern Israels und Palästinas selber liegt. Abgesehen von der
jüngsten Verwüstung im Gazastreifen sind anständige Menschen überall –
darunter auch viele in Israel – zutiefst verstört von der Tatsache, dass
täglich die Menschenwürde und die Bewegungsfreiheit der Palästinenser an
Kontrollpunkten und Straßensperren verletzt wird. Und die Tatsache, dass
Israel die illegale Besetzung und die Errichtung von
Pufferzonen-Siedlungen auf besetztem Land vorantreibt, verschärft die
Problematik, eine zukünftige Einigung zu erarbeiten, die für alle
akzeptabel ist.
Der Staat Israel verhält sich, als gäbe es kein Morgen. Seine Bewohner
werden nicht das friedliche und sichere Leben leben, nach dem sie sich
sehnen – und auf das sie Anrecht haben – so lange seine Führung
Bedingungen aufrechterhält, die den Konflikt am Leben erhalten.
Ich habe diejenigen verurteilt, die in Palästina für das Abfeuern von
Geschossen und Raketen auf Israel verantwortlich waren. Sie schüren die
Flammen des Hasses. Ich bin gegen alle Manifestationen der Gewalt. Aber
wir müssen uns absolut darüber im Klaren sein, dass die Palästinenser
jedes Recht haben, für ihre Würde und Freiheit zu kämpfen. Es ist ein
Kampf, der von vielen Menschen auf der Welt unterstützt wird.
Kein von Menschen geschaffenes Problem ist unlösbar, wenn die Menschen
sich mit der ernsthaften Absicht zusammensetzen, es zu überwinden.
Frieden ist immer möglich, wenn die Menschen entschlossen sind, ihn zu
erreichen. Frieden erfordert von den Menschen in Israel und Palästina,
sich selbst und den anderen als menschliche Wesen anzuerkennen, um ihre
wechselseitige Abhängigkeit zu verstehen. Raketen, Bomben und
ungehobelte Schmähungen sind nicht Teil der Lösung. Es gibt keine
militärische Lösung.
Die Lösung könnte wohl eher in dem gewaltlosen Instrumentarium liegen,
das wir in den 1980ern in Südafrika entwickelt haben, um die Regierung
von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Politik zu ändern.
Der Grund dafür, dass dieses Instrumentarium – Boykott, Sanktionen und
Kapitalabzug – sich letztendlich als effektiv erwiesen hat, war, dass es
eine kritische Masse an Unterstützung erhielt, sowohl innerhalb als auch
außerhalb des Landes. Die Art von Unterstützung, die wir in den
vergangenen Wochen auf der ganzen Welt in Bezug auf Palästina beobachtet
haben.
Mein Appell an die Menschen in Israel ist es, über den Augenblick
hinauszuschauen, über die Wut der andauernden Belagerung
hinauszuschauen, und vielmehr eine Welt zu sehen, in der Israel und
Palästina koexistieren können – eine Welt, in der gegenseitige Würde und
Respekt herrschen.
Es erfordert ein Umdenken. Ein Umdenken mit der Erkenntnis, dass jeder
Versuch, den gegenwärtigen Status quo aufrechtzuerhalten, künftige
Generationen zu Gewalt und Angst verdammt. Ein Umdenken, das damit
bricht, legitime Kritik an der Politik eines Staates als Angriff auf das
Judentum zu verstehen. Ein Umdenken, das zu Hause beginnt und sich über
Gemeinschaften und Länder und Regionen ausbreitet – bis hin zur
Diaspora, die über die Welt, die wir teilen, verstreut ist. Die einzige
Welt, die wir teilen.
Menschen, die sich im Streben nach einem gerechten Anliegen zusammentun,
sind nicht aufzuhalten. Gott mischt sich nicht in die Belange der
Menschen ein. Er hofft, dass wir wachsen und lernen, indem wir unsere
Schwierigkeiten und Differenzen selber lösen. Aber Gott schläft nicht.
Die jüdischen Schriften sagen uns, dass Gott vorzüglich auf der Seite
der Schwachen und der Vertriebenen steht, der Witwe, des Waisen und des
Fremden, der Sklaven freiließ, damit sie auszogen in ein gelobtes Land.
Es war der Prophet Amos, der sagte wir sollen Gerechtigkeit wie einen
Strom fließen lassen.
Am Ende setzt sich das Gute durch. Das Streben danach, die Menschen in
Palästina von der Demütigung und Verfolgung durch die Politik Israels zu
befreien, ist ein gerechtes Anliegen. Die Menschen in Israel sollten
dieses Anliegen unterstützen.
Von Nelson Mandela stammt der berühmte Ausspruch, die Südafrikaner
würden sich nicht frei fühlen, bis auch die Palästinenser frei sind.
Er hätte ebenfalls hinzufügen können, dass die Befreiung Palästinas auch
Israel befreien wird.
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