
"Wir leben alle in einem
undemokratischen System, deshalb müssen wir gemeinsam
kämpfen" - Hillel Garmi - 2.10.2018 -
In einem Brief aus dem Gefängnis antwortet der
Gewissensverweigerer Hllel Garmi Ahmed Abu Artema, einem der
Anführer des Großen Rückkehrmarschs in Gaza. "Wenn wir auch
nicht in allem übereinstimmen, habe ich eine Vision für
Gerechtigkeit in Deinem Schreiben entdeckt." Abu Artemas
offener Brief ("Let us fight together for human rights, for
a country that is democratic for all it's citizens" vom
19.9.2018 bei 972.mag)
Ahmed, ich schreibe Dir aus einem israelischen
Militärgefängnis, nachdem mir Dein offener Brief, den Du
letzte Woche veröffentlicht hast, am Telefon vorgelesen
wurde. Es ist für mich nicht einfach aus dem Gefängnis
schreiben, erst wollte ich warten, bis ich es in der
Bequemlichkeit meiner eigenen Wohnung tun könnte.
Schließlich habe ich mich aber entschlossen, mit einem
kurzen, einfachen Brief zu antworten. In den letzten Jahren
habe ich viel nachgedacht. Zuerst habe ich überlegt, ob ich
in die Armee gehen sollte. Als ich begann zu realisieren,
dass ich den Militärdienst vermeiden wollte, begann ich
nachzudenken wie. Erst dachte ich, ich wollte mir die
notwendigen Dokumente beschaffen, dass ich für den Dienst
psychisch nicht tauglich sei. Dann dachte ich daran den
Dienst anonym zu verweigern.
Schließlich entschied ich mich für eine öffentliche
Verweigerung. Nachdem ich meinen Entschluss gefasst hatte,
überlegte ich, wie ich meinen Einfluss maximieren könnte, um
meine Entscheidung in das öffentliche Bewußtsein zu bringen.
Ich las über die letzten Gewissensverweigerer und versuchte
mir vorzustellen, wie ich der Sache neues Leben einhauchen
könnte – also etwas, das es für andere real und relevant
machen würde.
Als ich die Möglichkeiten erwog, begann der Große
Rückkehrmarsch in Gaza. Auf der einen Seite sah ich, wie die
Mainstream-Medien in Israel über die Proteste berichteten,
die sie als clevere und gewalttätige Provokation der Hamas
ansahen – und die ein positives Licht auf die gewalttätige
und unverhältnismäßige Reaktion der israelischen Armee
warfen. Auf der anderen Seite sah ich, dass alternative und
internationale Medien ein anderes Bild zeichneten. Abgesehen
von einigen wenigen Ausnahmen, die in fast jedem Kampf eines
Volkes unvermeidlich sind, sah ich eine außergewöhnliche und
gewaltfreie zivile Initiative. In meiner Suche nach der
Wahrheit fand ich in dem Artikel, die Du geschrieben hast,
eine Vision, die zu meiner eigenen passte.
Die, die auf beiden Seiten Frieden suchen, haben nach einem
pragmatischen Partner gesucht, mit dem man sich über die
Bedingungen für eine Beendigung der Gewalt einigen könnte –
Bedingungen, die durch einen Kompromiss beider Seiten
geregelt werden könnten, anstatt nach universalen Prinzipien
der Gerechtigkeit zu suchen, denen jeder zumindest
theoretisch zustimmen kann.
Obwohl es selbstverständlich ist, dass wir nicht in allem
übereinstimmen werden, entdeckte ich diese Vision der
Gerechtigkeit in Deinem Schreiben. Gerechtigkeit, Demokratie
und die Grundsätze der Gleichberechtigung und Freiheit für
alle. Es ist ein Streben nach Gerechtigkeit, das das
historische Unrecht an den Palästinensern berücksichtigt und
nicht versucht, ein weiteres Unrecht zulasten einer anderen
Gruppe zu schaffen. Das ist eine Form der Gerechtigkeit, für
die man kämpfen kann, nicht nur über das Aushandeln eines
Kompromisses.
Heute leben zwischen Jordan und Mittelmeer mehr als 13
Millionen Menschen unter drei verschiedenen Regierungen mit
unterschiedlichen Autoritätsverhältnissen. Keine dieser
Regierungen ist mit ihren Grenzen zufrieden, und keine ist
demokratisch – zwei von ihnen haben über ein Jahrzehnt keine
Wahlen abgehalten, und eine, weil sie über zwei einhalb
Millionen Untertanen herrscht ohne sie als Staatsbürger zu
betrachten. Jede dieser Regierungen ist bereit, das Leben
von Millionen im Namen ihrer ungerechten Ziele miserabel zu
machen. Nachdem wir alle in einem ungerechten und
undemokratischen System leben, mussen wir gemeinsam kämpfen.
Ich werde jedes Rezept für die Beendigung der Gewalt
unterstützen, aber ich stimme mit Dir überein, dass ein
demokratischer Staat für alle seine Bürger die am meisten
gerechte und legitime Lösung ist. So trivial es klingt, wir
müssen uns daran erinnern, dass das größte Hindernis für
jede der vorgeschlagenen Lösungen ist, dass eine kritische
Masse der Bevölkerung auf beiden Seiten nicht bereit ist sie
zu akzeptieren und nicht glaubt, dass sie nachhaltig sein
würde. Stattdessen ziehen sie es vor, den Einsatz auf die
Interessen ihrer eigenen Nation zulasten der anderen zu
verdoppeln.
Ich denke, dass der Weg zur Überwindung dieser kritischen
Massen der eines gemeinsamen, Nation übergreifen Kampfes
ist, der nicht nur die Menschen zusammenbringt, um einen
Kompromiss zu erreichen, sondern eine Lösung, die ihre
Legitimität aus den universellen Prinzipien der
Gerechtigkeit zieht. Deshalb wollte ich mich vom Großen
Rückkehrmarsch und diesen Volksprotesten inspirieren lassen,
um zu versuchen meiner Gewissensverweigerung mehr Sinn zu
geben. Ich versuchte einen Vergleich zwischen der
Gewaltlosigkeit der Anführer des Marsches und meinem eigenen
zivilen Ungehorsam zu ziehen. Ich war bewegt, dass meine
Botschaft Dich erreicht hat, und ich hoffe, dass sie die
Basis für noch größere Inititaiven gestalten kann.
Hillel Garmi
Quelle Übersetzung: K. Nebauer

'Lasst uns gemeinsam für
Menschenrechte kämpfen, für ein Land, das für alle seine
Bürger demokratisch ist'
- Ahmed Abu Artema - 19.09.2019 - Ahmed
Abu Artema, einer der Organisatoren des Großen
Rückkehrmarsches in Gaza, antwortet dem israelischen
Gewissensverweigerer Hillel Garmi, der sagte, seine
Entscheidung zu verweigern, sei teilweise von Abu Artemas
zivilem Ungehorsam inspiriert.
Danke Hillel, Du hast uns Hoffnung gegeben. -
Die Moral einer Position wird nicht daran gemessen, wie
weitgehend sie die öffentliche Meinung wiedergibt, sondern
einzig durch ihren Nutzen. In der Geschichte waren immer
die, die keine Kompromisse mit ihrer Moral eingingen, die,
die mehr Gewicht hatten und andere inspirierten, auch wenn
sie den Perspektiven des Mainstreams allein gegenüber
standen. Wenn sich jemand entschließt, einen ethischen
Standpunkt einzunehmen, dann kommt er seiner Berufung
alsMensch nach und bringt sich in Einklang mit dem Grund,
aus dem wir in dieses Universum hineingeboren wurden, auch
wenn es auf Kosten seines persönlichen Wohlbefindens geht.
Lieber Hillel, ich habe Deinen Brief gelesen und deine
Videoaufnahme auf You Tube angeschaut. Du hast in meinem
Herzen ein Gefühl der Hoffnung entfacht, dass es eine Basis
für die Schaffung einer gerechteren und humaneren Realität
zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer gibt – eine Realität,
die ihre Legitimität nicht von der Anzahl der Menschen
nimmt, die daran glauben, dass sie jetzt verwirklicht werden
kann, sondern weil sie erreichbarer und näher an den Werten
von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung ist und sich auf
der Achtung der Menschen gründet anstatt sie zu
disqualifizieren.
Deine Entscheidung wird dazu beitragen, die über die
Palästinenser verhängte dunkle Periode zu beenden und
gleichzeitig die Ängste der jüngeren israelischen Generation
zu mildern, die in eine komplizierte Situation und eine
turbulente geografische Region ohne Sicherheit und Frieden
hineingeboren sind.
Die Palästinenser wollen die Israelis nicht ins Meer
treiben, und Israelis können die Tatsache nicht ignorieren,
dass es mehr als 10 Millionen Palästinenser gibt, die noch
immer von dem Tag träumen, an dem sie in Freiheit leben und
in ihre Heimat zurückkehren werden, aus der sie 1948
vertrieben wurden. Wir können zwischen zwei Optionen wählen,
es gibt keine dritte: mit einem Kompromiss auf der Basis
einer gemeinsamen Existenz im Einklang mit Menschenrechten
und Gleichberechtigung oder mit diesem instabilen Staat für
weitere 70 Jahre weitermachen.
Lieber Hillel, ich bin im Gazastreifen aufgewachsen, wohin
mein Großvater geflüchtet ist, nachdem er aus seiner Stadt,
aus Ramleh, vertrieben wurde. Ich beneide Dich, dass Du die
Möglichkeit hast, Ramleh problemlos zu besuchen, während ich
in meinem ganzen Leben nicht einmal ein einziges Mal den
Grenzübergang von Beit Hanoun überqueren konnte. Schon von
klein auf war ich Zeuge, wie israelische Soldaten mit
scharfer Munition auf meine Nachbarn und Angehörige gefeuert
haben, sie inhaftiert, ihre Häuser zerstört und
Ausgangssperren verhängt haben, die uns tagelang in unseren
eigenen Häusern eingesperrt haben, manchmal sogar für mehr
als zwei Monate.
Als ich größer wurde, wurde die Gewalt intensiver: die
Häuser wurden nicht mehr durch Bulldozer zerstört, sondern
durch Bomben, die von F-16 abgeworfen wurden, die Zahl der
Toten stieg von Hunderten in Tausende, und anstatt (Armee-)
Jeeps kamen Panzer.
2005 [nach dem Abzug der Israelis aus Gaza] wurde das
israelische Militär rund um den Gazastreifen umgruppiert,
die Belagerung verschärft und alle Grenzübergänge
geschlossen, womit die Palästinenser daran gehindert wurden
sich frei an Land, auf der See und in der Luft zu bewegen.
In den folgenden Jahren führte (Israel) drei Kriege gegen
uns, in denen mehr als 3.500 Palästinenser getötet wurden.
Lieber Hillel, in der Schule lernte ich von dem Gesetz Isaak
Newtons, das besagt, dass jede Aktion eine gleiche,
entgegengesetzte Reaktion hat. In den letzten 70 Jahren
wurde das palästinensische Volk Vertreibung, Besatzung,
Siedlungen, Tötung, Inhaftierungen und Belagerung
unterworfen. Ist es möglich, dass angesichts all dessen die
israelische Regierung noch immer Sicherheit und Stabilität
erwartet? Ja, die Palästinenser sind militärisch und
wirtschaftlich schwächer, aber sie in dieser Situation zu
halten – die konträr zu Gerechtigkeit und Menschenrechen ist
– dazu das Fehlen einer Hoffnung, das wird sicherlich zu
einer ähnlichen Reaktion führen. Es wird die Instabilität
verstärken und Israel eine Existenz als ein normaler Staat,
der seine Ressourcen in wissenschaftliche Forschung und
wirtschaftliche Prosperität investiert, vorenthalten.
Lieber Hillel, wir sind jetzt in 2018, wo das menschliche
Bewußtsein Worte wie rassische Verfolgung, Besatzung und
Demütigung einer Nation durch eine andere nicht mehr
versteht. Die Welt ist heute ausgerichtet offener und
kulturell und wirtschaftlich vernetzt zu sein. Die Mauern,
die Völker und Kulturen trennen, fallen. Die Existenz eines
Landes, das Betonmauern errichtet, um andersartige ethnische
Gruppen einzukerkern, ist von einer verstörenden Sicht und
passt nicht zum Geist unserer Zeit.
Ich glaube, dass die Lösung nahe und möglich ist. Es wird
nicht mehr erfordern als den Mut Intitiative zu ergreifen
und eine neue Perspektive aufzuzeigen, nachdem die üblichen
Lösungen für einen gerechten Ausgleich gescheitert sind.
Lass uns gemeinsam kämpfen für Menschenrechte, für ein Land,
das für alle seine Bürger demokratisch ist, und dafür, dass
Israelis und Palästinenser miteindander leben auf der Basis
von Staatsbürgerschaft und Gleichberechtigung, nicht von
Ausgrenzung und Rassismus.
Ich verstehe, dass es auf dem Weg zu einer solchen Lösung
viele Hindernisse gibt, aber sie verdient all die, die frei
sind, um für sie zu kämpfen, und für uns, um unser endliches
Leben der Annäherung an seine Verwirklichung zu widmen,
weil es die humanere und gerechtere Alternative ist. Sie ist
sogar vernünftiger, weil sie es weder den Palästinensern
noch den Israelis ermöglichen wird dem anderen die Existenz
abzusprechen. Wie ich aus dem Koran gelernt habe: Was allen
Menschen nützt, bleibt auf der Erde, alles andere wird wie
Rauch vergehen. - Ahmed Abu Artema ist ein
palästinensischer Journaloist und Friedensaktivist.
Quelle
Übersetzung: K. Nebauer
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