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Mit anderer Stimme: ein Brief aus Israel
Ronen Shamir, Today’s Zaman, 11. Juni 2010
http://www.todayszaman.com/tz-web/news-212735-109-centerin-a-different-voice-a-letter-from-israel-bribyi-brronen-shamircenter.html
an den israelischen Ministerpräsidenten
Benjamin Netanyahu
Mit großer Sorge und Traurigkeit beobachte
ich die schlechter werdenden Beziehungen zwischen der Türkei und Israel.
Der Angriff der israelischen Armee auf das
Schiff Mavi Marmara am 31. Mai deckt einen gefährlichen Verrat an
Israels Wohl durch seine eigenen politischen Regenten und das
militärische Establishment auf. Die Türkei mit ihrer einzigartigen
Geographie und Geschichte könnte eine äußerst wichtige Brücke zwischen
Israel und der arabischen Welt gewesen sein. Und es war genau in dem
Moment, als die Türkei bereit gewesen wäre, solch eine historische Rolle
zu spielen, als das israelische Regime die Brücke abbrannte.
Ein Bericht von Zvi Harel in Haaretz am 13.
Februar 2009 hielt genau den Augenblick dieser Kehrtwende fest. Der
damalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert besuchte Ankara im
Dezember 2009. Dieser Besuch stellte den Höhepunkt türkischer Bemühungen
dar, um Syrien und Israel zu einem vollen Friedensabkommen zu bringen.
Die Umstände waren dramatisch: Olmert saß in einem Raum, während Erdogan
Bashar mit al-Assad, dem syrischen Präsidenten, in einem anderen Raum
telephonierte und hin und her ging und sich bemühte, ein historisches
Statement für direkte Verhandlungen zwischen Syrien und Israel zu
erlangen. Während desselben Besuches bot Erdogan an, auch zwischen
Israel und dem von Hamas regierten Gazastreifen zu vermitteln, um die
eskalierenden Feindseligkeiten jener Tage zu beruhigen. Olmert wollte
sich nicht festlegen. Nach vier Stunden Verhandlungen kehrte Olmert nach
Israel zurück und war damit einverstanden, am nächsten Tag ( die
Verhandlungen) fortzusetzen. Ein paar Tage später griff Israel den
Gazastreifen an. Erdogan fühlte sich betrogen. Er fühlte wahrscheinlich
auch, dass er es mit seiner Bereitschaft hatte darauf ankommen lassen,
im Ernst in Friedensverhandlungen einzutreten.
Auch aus meiner israelischen Perspektive
habe ich das Gefühl, dass wir Zeugen eines absichtlichen Versuches
sind, jede Chance für einen gerechten Frieden im Nahen Osten zu vertun.
Die Wahrheit muss gesagt werden: das augenblickliche israelische
Regime ist nicht an Frieden interessiert. Das israelische
Establishment ist zu einem Gefangenen einer immer größer werdenden
Öffentlichkeit jüdischer Fanatiker geworden – durch messianische
Visionen eines Groß-Israel gebildet – die nicht nur während der letzten
Jahre unwiderruflich staatlich unterstützt in den besetzten Gebieten
siedelten, sondern auch die Ränge der Armeeoffiziere, die zivilen
Dienste und die Regierung einnahmen. Die Folge davon ist, dass das
augenblickliche israelische Regime in einer religiös geführten,
ultranationalistischen und fremdenfeindlichen Weltsicht fest gegründet
ist und Unglück über die ganze Region, einschließlich Israel bringen
wird.
Die schlechter werdenden Beziehungen mit
der Türkei sind leider eine unvermeidbare Folge einer
Belagerungsmentalität, die unter Israelis allgemein ist. Kritik an
Israels Politik aus dem Ausland wird von vielen als weiterer Beweis
beachtet, dass allgemein „die Welt gegen uns ist“ und im Besonderen,
dass „die Welt antisemitisch ist“. Das israelische Regime seinerseits
pflegt diese Ansicht, die absichtlich den wichtigen Unterschied zwischen
Kritik an Israels Politik mit einem prinzipientreuen Standpunkt gegen
Israels Recht zu existieren verdunkelt. Die beiden werden in den
israelischen Medien zu einer Ansicht, die israelische politische
Propagandamaschine und letztlich in der israelischen Denkweise. Die
Dinge werden noch schlimmer, wenn die Kritik aus der Türkei kommt. Im
Laufe von knapp zwei Jahren nach einer Reihe von Ereignissen, die ihren
tragischen Höhepunkt im letzten Monat erreichte, ist die Türkei
systematisch von der israelischen Regierung dämonisiert worden. Während
man sich auf Stereotypen von Muslimen unter israelischen Juden
verlässt und dies weiter pflegt, wird die Türkei jetzt als natürlicher
Verbündeter von militanten und radikalen Islamisten in aller Welt
dargestellt.
Es ist im Kontext einer solch zynischen
Wendung zu diesem gefährlichen Zeitpunkt, dass ich meine persönliche
Entschuldigung für den tödlichen Angriff auf die Flotilla gegenüber dem
türkischen Volk ausdrücken möchte. Es ist – so glaube ich - auch zu
diesem Zeitpunkt wichtig, daran zu erinnern, dass es viele Israelis
gibt, die über die Art und Weise erschrocken und bestürzt sind, wie
Israel regiert wird, über die anhaltende Blockade des Gazastreifens und
die Unwilligkeit der Besatzung und Unterdrückung des palästinensischen
Volkes ein Ende zu setzen. Es gibt auch viele Israelis, die die
involvierte Torheit beklagen, nun einen langjährigen Verbündeten wie die
Türkei zu verlieren. Es ist ein weiterer Schritt auf dem
selbstmörderischen Weg, der uns in einen Abgrund führt.
In der Nacht, als ein paar faschistische
Brigaden die türkische Flagge vor der türkischen Botschaft verbrannten,
standen tausend von uns vor dem Verteidigungsministerium, um den Angriff
auf die Mavi Marmara zu verurteilen. Am letzten Samstag am 5. Juni
gedachten wir der 43 Jahre Besatzung und riefen zu ihrer Beendigung
auf, 10 000 Juden und Araber marschierten durch die Straßen von Tel
Aviv. Noch schreibe ich nicht im Auftrag von jemandem. Ich vertrete nur
mich selbst, einen einzelnen israelischen Bürger. Doch möchte ich dem
türkischen Volk vermitteln, dass es hier ziemlich viele gibt, Israelis,
Juden und Araber, die weiter protestieren und demonstrieren und für
Frieden und Versöhnung im Nahen Osten kämpfen.
(dt. Ellen Rohlfs)
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