Sahar Khalifeh wurde 1941 in Nablus geboren. Sie wurde 1959 nach
ihrem Abitur in einer traditionellen Ehe geschickt, die 13 Jahre später
mit der Scheidung endete. Sie hat zwei Töchter und lebt zwischen Amman und
Nablus. Sahar Khalifeh legte ihre Gymnasiumausbildung 1959 an der
Rosary College in Amman ab. Nach der Scheidung begann sie ein neues
Leben und schloß ihr BA in englischer Literatur an der Universität Bir
Zeit ab. 1980 erhielt sie ein Stipendium und studierte an der
Chapel-Hill University in North Carolina und an der Iowa University
weiter.
Khalifeh kehrte 1988 nach Palästina zurück und gründete das "Women
Affairs Center" in Nablus, eröffnete 1991 eine Zweigstelle in Gaza und
1994 eine in Amman.
Sahar Khalifeh
fing an, kurz nach dem Junikrieg 1967 zu schreiben und veröffentlichte
ihren ersten Roman 1974. Sie gilt als größte palästinensische
Schriftstellerin. Sie ist die meist übersetzte palästinensische Autorin
nach Mahmoud Darwish. Ihr Ruhm dehnt sich über den palästinensischen und
arabischen Ländern hinaus aus, wie ihre Übersetzungen in vielen Sprachen
bezeugen.
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Quelle des Bildes
Ich war die fünfte Enttäuschung -
Die Geschichte einer
Frau in Palästina
Sahar Khalifa
Wie wir
alle wissen, gelten Frauen in der arabischen Kultur wie in vielen
anderen Kulturen auch als das schwache Geschlecht, das andere
Geschlecht, das ungleiche Geschlecht; das Geschlecht, das weder erbt
noch den Namen der Familie weitergibt, das Geschlecht, das sowohl Kinder
gebären als auch entsetzliche Schande über die Familie bringen kann.
Ich wurde von der Familie, in die ich hineingeboren wurde, mit einer
Enttäuschung empfangen, die so groß war, dass alle in Schluchzen und
Wehklagen ausbrachen. Sie hatten auf einen Knaben gehofft, aber zu ihrem
Leidwesen war ich das fünfte Mädchen in Folge und daher die fünfte
Enttäuschung oder, so empfand es meine Mutter, ihre fünfte Niederlage.
Im Vergleich mit der Frau meines Onkels, die erfolgreich zehn kostbare
Knaben zur Welt gebracht hatte, war meine Mutter eine Versagerin, eine
Frau, der der göttliche Segen fehlte. Meine Mutter war schöner und
intelligenter als meine Tante und alle anderen Frauen der Familie,
dennoch galt sie bei allen als am wenigsten produktiv: Ihre Früchte
hatten keinen Wert.
Ich habe diese Vorurteile und Vorstellungen geerbt. Seit meiner Kindheit
musste ich mir immer wieder anhören, dass wir Mädchen ohnmächtig und
hilflos seien, ein von der Natur verdammtes Geschlecht, auf ewig mit
Schwäche geschlagen.
Vor ein paar Monaten erzählte mir meine jüngere Schwester, sie habe
festgestellt, dass ich als einziges Mitglied der Familie Khalifa (die so
weit verzweigt ist wie ein ganzer Volksstamm) in der palästinensischen
Nationalenzyklopädie stehe. Mit einem erleichterten Seufzer fügte sie
hinzu: „Nicht der Vater, nicht der Bruder, nicht der Onkel mit seinen
zehn wunderbaren Söhnen, nicht ein einziges männliches Familienmitglied
wurde in der Enzyklopädie erwähnt, nur du!“
Als arabische Frau habe ich verschiedene Epochen durchlebt, ich habe
mich selbst mit dem Zeitgeist verändert und auch selbst zum Wandel
beigetragen. Sogar unter sehr konservativen arabischen Familien ist es
heute üblich, dass Mädchen zur Schule gehen. Sie werden Lehrerinnen,
Ärztinnen, Ingenieurinnen, Pharmazeutinnen, Schriftstellerinnen,
Journalistinnen, Musikerinnen und Künstlerinnen. Viele arabische Frauen
gelten heutzutage als unentbehrlich, stärker, kreativer und bedeutender
als Männer. Die Welt hat sich gewandelt.
Aber wenn ich das Bild sehe, das die westlichen Medien von uns zeichnen,
sehe ich beklagenswerte, unterm Tschador verborgene Kreaturen, sogar mit
Ledermasken, Haremsdamen hinter Schleiern, und ich frage mich
verwundert, warum man uns auf diese eine starre Realität festlegt.
Glaubt man etwa, dass wir anders geschaffen sind als andere Menschen
weiblichen Geschlechts, unfähig zur Veränderung!?
Als Kind hatte ich einen Lehrer, der fortwährend das Wort „Veränderung“
im Mund führte, mit unterschiedlicher Betonung und Bedeutung, je
nachdem, ob er über soziale Gerechtigkeit, über die Verteilung des
arabischen Reichtums, über die Lage der arabischen Frau oder über
archaische arabische Regime sprach. Alle, die ich kannte, achteten und
bewunderten diesen Lehrer. Die Jungen wollten sein wie er, und die Alten
waren stolz, wenn er von der Polizei gesucht wurde und sie ihn
verstecken durften.
Als Teenager entdeckte ich, dass mein bewunderter Lehrer nicht der
Einzige war, der von Veränderung und Gerechtigkeit sprach. Die meisten
gebildeten Leute hatten ähnliche Überzeugungen und Gedanken und traten
auch dafür ein. Ich entdeckte außerdem, dass Tausende aufgeklärter
Menschen wie mein Lehrer verfolgt wurden oder in Gefängnissen
dahinvegetierten – den Gefängnissen von Regimen, die von westlichen
Mächten unterstützt, gestärkt und alimentiert wurden, von den Briten,
den Franzosen und später den Amerikanern.
Wenn wir von Veränderung reden, erinnern wir Araber uns stets an den
nationalistischen Führer, der dieser Stimmung wie kein anderer Nahrung
gab: Gamal Abdul Nasser. Er hielt feurige und bewegende Reden, in denen
er Gleichheit, Brüderlichkeit und soziale Gerechtigkeit beschwor. Der
ägyptische Staatschef verstand es, den Massen eine neue Selbstachtung
einzuflößen, indem er den beiden größten Kolonialmächten jener Zeit,
Großbritannien und Frankreich, durch die Verstaatlichung des Suezkanals
einen empfindlichen Schlag versetzte. Die Wut dieser beiden Mächte
führte 1956 zu einem gemeinsamen Feldzug mit ihrem Verbündeten Israel,
mit dem Ziel Nasser zu stürzen. Das Vorhaben scheiterte und Nasser ging
aus dem Konflikt noch stärker und einflussreicher hervor.
Nasser wollte die arabische Welt einen und den Zustand vor dem
Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und England wiederherstellen,
die während des Ersten Weltkriegs den Nahen Osten in kleine, leicht zu
beherrschende Einzelstaaten unter sich aufgeteilt hatten (und die bis
heute existieren).
Nassers panarabische Politik weckte im Westen die Furcht vor einem
einzigen starken und unabhängigen arabischen Staat, der der Ausbeutung
und Manipulation seitens der Westmächte ein Ende setzen und ihren
Bündnispartner Israel gefährden könnte. Die westlichen Medien schossen
sich auf Nasser ein, stellten ihn als arabischen Hitler dar und
denunzierten ihn als Faschisten.
Die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren das goldene
Zeitalter des arabischen Nationalismus. Die arabische Öffentlichkeit war
erfüllt von Elan und der Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Umbruch.
Wir kritisierten das traditionelle soziale und politische System und
rebellierten. Die Themen Befreiung und soziale Gerechtigkeit beflügelten
unsere Literatur, unser Theater, unsere Lieder, unsere Musik und unsere
Alltagssprache. Literatur aus aller Welt wanderte in unsere Kultur ein,
in den Läden und auf der Straße konnte man Bücher von Existenzialisten,
Sozialisten und schwarzen Bürgerrechtlern finden – lauter Werke, die
nach Befreiung, Revolution und sozialem Wandel riefen.
Der Zeitgeist der Befreiung und Veränderung steckte alle an, selbst die
Bauern, die weder lesen noch schreiben konnten. Und auch die Frauen
wurden davon ergriffen. Sie begannen, ohne Schleier auf die Straße zu
gehen. Zehntausende junger Frauen studierten an den Universitäten.
Manche von ihnen zog es in die Politik, wo sie sich in Parteien
engagierten. Sie ließen nicht nur ihren Schleier zu Hause, sondern
begannen, ärmellose Blusen und Miniröcke zu tragen. Man mag es kaum
glauben, aber obwohl wir den Westen so hassten, tanzten wir Twist und
Rock ’n’ Roll auf offener Straße. Wir wollten leben wie der Westen, aber
nicht unter seiner Herrschaft oder Kontrolle.
Meine Mutter legte 1948 den Schleier ab
Die traumhafte Atmosphäre dieser Jahre kam zu einem jähen Ende, als
Israel – mit Unterstützung des Westens – im Krieg von 1967 Nasser
besiegte. Diese Niederlage läutete das Ende unserer nationalen Bewegung
und sozialistischen Überzeugungen ein. Die Amerikaner und ihre
Verbündeten in der Region nutzten die Gelegenheit und beschleunigten den
Niedergang des linksliberalen Nationalismus nach Kräften, indem sie die
Islamisten unterstützten. Viele Millionen Dollar flossen ihnen zu. Die
Muslimbruderschaft, die für die Massen völlig bedeutungslos gewesen war,
gewann allmählich immer mehr an Einfluss.
Die Entwicklungen während der 1970er und 1980er Jahre in unserer Region
gleichen denen in Afghanistan, als die USA die Islamisten unterstützten,
um die kommunistische Regierung zu stürzen. Jahrelang wurden sie
gehätschelt und gepäppelt, als Mudschaheddin und „Freiheitskämpfer“
bezeichnet, um dann – erst von den Amerikanern, dann auch von den brav
folgenden Europäern – als „Terroristen“ klassifiziert zu werden.
In Palästina kopierte Israel das US-amerikanische Modell. Man ermutigte
die Islamisten, gegen die nationalistischen und sozialistischen Kräfte
in der PLO aufzubegehren. Während linke und liberale Wortführer und
Aktivisten gejagt, drangsaliert und ermordet wurden, hatten die
Islamisten freie Hand. In den Schulen wurden sie von den Israelis
bevorzugt als Lehrer eingesetzt. Zu Hunderten, später zu Tausenden
infiltrierten islamistisch orientierte Männer und Frauen das
palästinensische Bildungssystem. Sobald sich die Islamisten ihres
Rückhalts in der Bevölkerung sicher waren und als neue Macht etabliert
hatten, wandten sie sich gegen Israel und den Westen. Der durch den
Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigte Niedergang der Sozialisten
und Nationalisten sowie die Misswirtschaft und Unzulänglichkeit
zahlreicher korrupter Staatsführer trugen zu ihrem Erfolg bei.
Sehen wir uns nun vor diesem Hintergrund die Lage der arabischen Frauen
an, die der doppelten Unterdrückung aus Ost und West ausgesetzt sind. In
den westlichen Medien – in Zeitungen, Magazinen, Journalen,
Fernsehberichten, Filmen, wissenschaftlichen Studien – werden arabische
Frauen, wie erwähnt, oft als von Kopf bis Fuß verhüllte Gestalten
dargestellt, die unter ihrem schwarzen Tschador und dicken Schleiern
weder atmen noch denken können, deren Augen nur manchmal zu sehen sind,
manchmal auch nicht, und die wie Hexen oder Geister durch ein Nichts
schweben.
Die Kleidung dieser eingepackten Frau, die mich und meinesgleichen
repräsentieren soll, wird als „islamisch“ bezeichnet. Ich bin der festen
Überzeugung, dass sie weder islamisch noch arabisch ist. Diese
sogenannte islamische Kleidung ist, so weit mir bekannt, eine westliche
Erfindung und ein trauriger Beleg für den Einfluss des westlichen
Imperialismus.
Das hört sich völlig lachhaft an, nicht wahr? Wer soll das glauben? Der
Hidschab soll eine westliche Erfindung sein? War er nicht seit jeher ein
Bestandteil der arabischen Kultur? Die Jungfrau Maria trägt eine
Kopfbedeckung und eine Abaya (Tschador), die ihren heiligen Körper von
Kopf bis Fuß einhüllt. Das Kopftuch gehört doch seit zweitausend oder
mehr Jahren zu Ihrer Kultur!
Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass meine Mutter meiner
Erinnerung nach stets einen Hidschab trug, aber ich meine damit nicht
jene Art Kopftuch, die man heutzutage „islamisch“ nennt. Meine Mutter
pflegte vielmehr eine Art durchsichtiger schwarzer Gaze zu tragen, die
ihr Haar und Gesicht umwölkte (und die ein Überbleibsel der türkischen
Herrschaft und osmanischen Kultur war). Dieses Tuch bedeckte locker ihr
Haupt und schränkte weder ihren Blick noch ihre Atmung ein. Sie trug
schlichte Röcke oder Kleider, die bis zu den Knien gingen, und dazu eine
kurze, figurbetonende Jacke – all dies unterschied sich deutlich von
dem, was man heute „islamische“ Kleidung nennt und was den Körper der
Frau in eine Art formlosen Sack, in einen dunklen Torso oder eine
wandelnde Rauchsäule verwandelt.
In den frühen 50ern legten viele Frauen aus der Generation meiner Mutter
den Schleier ab. Es war eine richtige Bewegung, die „sufur“ (Enthüllung)
genannt wurde. Damals trug meine Mutter auch keine Jacketts mehr,
sondern entweder ein Kostüm oder ein kurzärmeliges Kleid. Sie ließ sich
einen Kurzhaarschnitt schneiden und zog alles an, was damals modern war.
Kurzum, sie verhielt sich genauso wie alle Frauen aus der Mittelschicht
in den meisten arabischen Großstädten, aber auch in vielen
minderbemittelten kleineren Orten. Wer sich die Videos der großen
arabischen Sängerin Umm Kulthum oder anderer Sänger aus jener Zeit
anschaut, bemerkt sofort, dass keine einzige Frau im Publikum das trägt,
was man heute „islamische Kleidung“ nennt.
Damals, ich meine damit die 1950er, 1960er, 1970er und frühen 1980er
Jahre, liefen arabische Frauen aus allen Gesellschaftsschichten in den
meisten arabischen Städten genauso herum, wie ich es heute immer noch
tue: weder Kopftuch noch Tschador noch Abaya noch Schleier noch Burka.
Nur die Frauen auf dem Land trugen meistens weiterhin traditionelle
Kleidung, die den Gewändern der Jungfrau Maria vor zweitausend Jahren
glich.
Meine Mutter legte ihren Schleier 1948 ab – unmittelbar nach der
israelischen Besetzung eines Großteils von Palästina. Die Besetzung
führte zu einem von sozialen Unruhen begleiteten politischen und
wirtschaftlichen Zusammenbruch, der viele althergebrachte Werte und
Traditionen hinwegfegte, darunter neben dem Schleier vor allem die
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen auf der Straße, in der
Schule und auf der Arbeit.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch hatte unmittelbare Auswirkungen auf
das Leben der Frauen, weil er Tausende Familien, die im Krieg ihre
Heimat, ihre Häuser, ihr Land und oft genug auch ihre Männer verloren
hatten, dazu nötigte, die Frauen aus der häuslichen Sphäre hinaus ins
Berufsleben oder zum Studium zu schicken. Eine gute Ausbildung
ermöglichte ihnen, in den Golfstaaten zu arbeiten und so ihre Familien
zu ernähren.
Wir sahen zu, wie Tausende palästinensischer Mädchen ohne Kopftuch ins
Ausland zogen und dort allein und unverheiratet in bescheidenen
Verhältnissen ihre Frau standen, hoch geschätzt von ihren Familien und
der Gesellschaft insgesamt, weil sie zahllosen Familien mit kümmerlichen
Einkünften ein Auskommen sicherten.
Ich habe das Los dieser Frauen in meinem Roman „Das Erbe“ beschrieben.
Mit der Zeit wurde es nicht nur akzeptiert, sondern gern gesehen, wenn
diese jungen Frauen ihren jüngeren Geschwistern ein Studium an
arabischen Universitäten (in Ägypten, in Syrien und im Libanon)
finanzierten, das diese mit Diplomen in Medizin, Pharmakologie,
Ingenieurwissenschaften, Jura oder anderen Disziplinen abschlossen.
Diese jungen und gut ausgebildeten Frauen, die in anerkannten Berufen
arbeiteten und sich durch ein hohes Maß an Bildung, Wagemut und
Weltoffenheit auszeichneten, sorgten für eine Welle feministischer und
gesellschaftlicher Emanzipation, auch wenn sich unser Wissen über
feministische Theorien auf die Aufsätze beschränkte, die eine kleine
Anzahl von Pionierinnen wie Amina al-Sa’id, Soheir El-Qalamawy und Doria
Shafik in ägyptischen Zeitungen publizierten, die nur selten über
vergleichsweise leichtgewichtige Themen wie Familienplanung, frühe
Heirat, Polygamie und so fort hinausgingen.
Der Krieg von 1967 war das Ende aller Träume
Unmittelbar nach der Niederlage im Krieg gegen Israel 1967 verbündeten
sich die von den USA unterstützten antisozialistischen und antiliberalen
arabischen Diktaturen mit islamisch-fundamentalistischen Gruppen und
finanzierten sie großzügig. In Jordanien zum Beispiel erhielten Männer,
die sogenannte islamische Kleidung trugen, eine monatliche Zahlung von
fünfzehn Dinar; Frauen bekamen zehn Dinar.
Die vorgeschriebene Ausstattung bestand für Männer aus einem kurzen
Dischdascha oder Dschalabiya mit Ledersandalen und einem langen,
ungestutzten Bart, für Frauen aus einer dichten Kopfbedeckung und einem
langen, dunkelfarbenen Umhang, der bis zu den Zehen reichte. Wer sich
dieser Kleiderordnung unterwarf, bekam außer dem Geld eine Gebetskette,
eine Luxusausgabe des Koran und einen hübschen Gebetsteppich geschenkt.
Am Anfang konzentrierten sich die islamischen Organisationen auf junge
Leute, die ihre Führungsqualitäten bereits unter Beweis gestellt hatten
und sich in einflussreichen Positionen befanden. Um die Frauen zu Hause
zu erreichen, wurden private Treffen organisiert und häusliche Zellen
gegründet. Dann wandte sich die Aufmerksamkeit den Moscheen, Schulen und
Universitäten zu. All dies geschah mit der finanziellen und
anderweitigen Unterstützung jener arabischen Regime, die den USA loyal
ergeben waren. Sie setzten auch die in den USA entwickelten politischen
Strategien um. Die Absicht dahinter war, unsere arabischen
Gesellschaften durch die Islamisierung von sozialistischen Ideen und
fortschrittlichen Projekten abzubringen, die in allen sozialen Sphären
nach Emanzipation strebten, nach Befreiung von westlicher Einflussnahme
und Nutzung der eigenen kreativen Energie.
Die Unterstützung der islamischen Fundamentalisten beschränkte sich
nicht auf Kleidung, monatliche Geldbeträge und die Bereitstellung von
Versammlungsorten. Auch in den Grund- und weiterführenden Schulen wurde
ihnen ein fruchtbarer Boden bereitet. Viele junge Leute wurden zudem in
eigens dafür eingerichteten Camps in den arabischen Wüsten oder in
Afghanistan und Pakistan in Kampfsport und Kriegsführung unterwiesen.
So absurd es war: Die USA und ihre Verbündeten wurden sich der Gefahr
dieser Strategie erst bewusst, als der Zauberlehrling sich bereits gegen
den Zauberer wandte und die islamisch-fundamentalistischen
Organisationen eine streng islamistische Gesellschaftsordnung
einzurichten drohten, die gegen den Westen opponierte.
Zurzeit leben wir in einem beängstigenden intellektuellen, sozialen und
politischen Chaos. Die Dinge sind völlig aus dem Ruder gelaufen, und
inzwischen werden wir von zwei Seiten bedroht, ohne zu wissen, welche
von beiden die brutalere ist. Auf der einen Seite haben wir den Westen
mit seinen Verschwörungen, seiner Ausbeutung, seiner Kolonisierung, die
uns nur allzu vertraut sind; auf der anderen Seite steht der islamische
Fundamentalismus, der uns mit seinen innovativen Segnungen direkt zurück
in den Harem und ins Zeitalter der Unterdrückung katapultiert. Hier der
freie, liberale, säkulare, wissenschaftliche, aber kolonialistische
Westen, dort ein unbeugsamer Islam, der zum Widerstand gegen den Westen
und seine Interessen aufruft, aber zugleich gegen Wissenschaft, Moderne
und feministische und gesellschaftliche Emanzipation Sturm läuft.
Dieses intellektuelle, soziale und politische Chaos betrifft allerdings
nicht nur uns, sondern breitet sich auch im Westen aus, wo unsere Frauen
in ihren Tschadors und verschleierten Gesichtern als ein Phänomen
wahrgenommen werden, das Angst und Abscheu hervorruft; und das in einem
solchen Ausmaß, dass manche westlichen Länder Gesetze gegen das Tragen
islamischer Kleidung erlassen haben oder Frauen, die solche Kleider
tragen, weder den Schuldienst noch andere öffentliche Ämter anvertrauen
wollen.
Die Menschen im Westen neigen mittlerweile zu dem Glauben, dass alle
Araber und alle Muslime so rigide, fanatisch und geistig verbohrt seien
wie islamische Fundamentalisten, und vergessen oder leugnen dabei, dass
diese Bewegung, die gegen unsere demokratischen, säkularen und
wissenschaftlichen Überzeugungen und nicht zuletzt gegen uns Frauen zu
Felde zieht, ursprünglich ein Kind des Westens und seiner reaktionären
Verbündeten war.
Und nun begegnet uns der Westen mit neuen rassistischen Vorurteilen,
indem er willkürlich und pauschal alle Araber, ob Muslime oder Christen,
in einen Topf wirft und ihnen etwas vorwirft, woran er im Grunde selbst
die Schuld trägt.
Ich entgegne Leuten von so engstirniger und egozentrischer Denkungsart,
dass wir ihnen näher sind, als sie glauben oder sich vorstellen können.
Ist es nicht längst ein Gemeinplatz, dass die Welt zu einem globalen
Dorf zusammengewachsen ist? Wir treffen in Wellen an euren Stränden ein.
Was immer ihr unternehmt, um die Einwanderung zu beschränken und eure
Grenzen zu überwachen, wir werden stets Wege finden, um zu euch zu
gelangen, eure Zäune zu überwinden und unsere Anwesenheit geltend zu
machen. Wir sind längst mitten unter euch. Ihr könnt unsere Gegenwart
nicht mehr leugnen, weil wir hinter euch und vor euch stehen als ein
Teil eurer Welt.
Ich habe in keiner Weise die Absicht, die Menschen im Westen zu
verärgern. Alles, was ich will, ist, meine Sache zu verteidigen, so
konkret und anschaulich wie möglich. Ich möchte das westliche Publikum
fühlen lassen, was ich fühle, fürchten lassen, was ich fürchte, und ihm
schmerzlich verdeutlichen, was uns und mir seine kolonialistischen
Regierungen antun. Ich sehe, wie mir westliche Medien ein Stereotyp
überstülpen, wie sie mich verurteilen und verkennen. Wenn sie eine Frau
in der Burka als Beispiel arabischer Weiblichkeit präsentieren,
unterstellen sie stillschweigend, dass ich, die feministische Autorin,
sowie Abertausende anderer gebildeter Frauen und Millionen moderner –
muslimischer und christlicher – Araberinnen in allen arabischen Ländern
so seien wie dieses Frauenbild: mit finsterem Gesicht, den Kopf gebeugt,
hirnlos, sprachlos, formlos.
Aber das ist nicht wahr. Der Anblick einer Frau in einer Burka erfüllt
Frauen wie mich mit Angst und Schrecken. Wir haben Angst, dass eines
Tages eine Hand aus diesem Bild nach uns greifen könnte, aus dem Bild
mit der Frau in der Burka, und meine Tochter und meine Enkelinnen und
mich selbst in ein finsteres arabisches Regime hineinziehen, das durch
westliche Politik und Strategien gedeckt und verdunkelt wird, damit wir
bleiben, was wir waren und bis heute sind: das arabische Ölfeld für die
westlichen Märkte.
Keine Realität ist auf ewig festgelegt oder wahr. Glauben Sie mir das?
Das stimmt natürlich nicht. Ich will damit nur Ihre Aufmerksamkeit
fesseln, einige Vorurteile ins Wanken und Licht ins Dunkel bringen. Ich
hoffe, Sie werden mir den kleinen Kunstgriff verzeihen und können mich
trotz unserer Unterschiede, sei es die Wahrnehmung oder die Ansicht,
lieben.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Sahar Khalifa ist Schriftstellerin und lebt in Nablus und in Amman. Auf
Deutsch sind ihre Bücher im Unionsverlag erschienen, zuletzt „Heißer
Frühling“, aus dem Arabischen übersetzt von Regina Karachouli, Zürich
(Unionsverlag) 2008.
Le Monde diplomatique vom 10.09.2015, Sahar Khalifa
Bücher von ihr:
( deutschspr. Verlag:
Unionsverlag)
We are not your Slave
Girls Anymore |
|
Dieser erste sehr
feministisch gepraegte Roman wurde 1977 zu Radio- und Fernsehserien
gemacht |
Wild Thorn |
Der Feigenkaktus |
Dieses ist das Buch, das
Khalifeh berühmt machte und ihr literarische Anerkennung auf einer
internationalen Skala gab. Der Roman spielt in Nablus der frühen
70-er Jahre. Khalifeh beschreibt hier die Besatzung, den Kampf und
das alltaegliche Leben der Menschen. |
The Sunflower |
Die Sonnenblume |
Dieser Roman wurde auch in
mehreren Sprachen übersetzt und beschreibt das Leben in Nablus der
spaeten 70-er Jahren. |
Memories of an
Unrealistic Woman |
Memoiren einer unrealistischen Frau |
Dieser Roman stellt das
Leben einer Frau bildlich dar, die in einer liebelosen Ehe geschikt
wird, und feministisches mit politischem Bewußtsein vermischt.
|
The Door of the
Courtyard |
Das Tor |
Stellt das Leben einer
Frau dar, die die Intifada mit allem positiven und negativen
durcherlebt. |
The Inheritance |
Das Erbe |
Erzählt über die neue Realität in den besetzten Gebieten, die eine
angebliche Autonomie erhalten haben. |
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