Hinter der Mauer : Medizinische Zustände durch politische Entscheidungen
verursacht
Von Rich Wiles // Übersetzung
Gerhilde Merz
03.Sept. 07 „ICH“ ... Am Weihnachtsabend 1952 war der Schweizer Priester
Pater Schnydrig auf dem Wege zur Messe in der Geburtskirche. Er war nach
Palästina gekommen, um an der Geburtsstätte von Jesus zu feiern. Er ging
durch eine riesige Zeltstadt und er sah einen Mann, der versuchte, ein
Kind zu begraben. Das war das Dehaisheh Flüchtlingslager. Der Mann grub
im Erdreich, um ein Behelfsgrab für seinen eigenen Sohn zu machen. Das
Kind war buchstäblich erfroren. Pater Schnydrig begann seinen eigenen
Aufenthalt in Bethlehem zu hinterfragen und überlegte, wie er in dieser
Stadt Jesu Geburt feiern konnte, während Kinder kaum 1 km von der Kirche
entfernt so schwer leiden mussten. Zurück in Europa fing er an zu
sammeln und öffnete bald das Caritas-Babyhospital in Bethlehem.
1978 bezog die Caritas ein neues Gebäude: Es war bestens eingerichtet.
Die Bedingungen im Hospital hatten sich wesentlich verbessert. Von den
ursprünglich 14 Betten Mitte der 50erjahre
stieg die Anzahl der behandelten Babys und Kinder 2006 auf 34.000. Das
Leben hat sich in dieser Zeit in Bethlehem auch stark verändert. Die
Flüchtlinge in Dehaisheh wohnen nicht mehr in Zelten sondern in festen
Häusern. Bethlehem selbst ist jetzt eine besetzte Stadt.
Zu
Beginn dieses Jahres kam ein Mann in das Caritas-Spital. Er trug ein
kleines Kind aus dem Flüchtlingslager auf seinen Armen. Die Füße des
Kindes waren blau, erfroren: diesmal konnte das Leben des Kindes
gerettet werden.
Palästina von 2007 ist geographisch kaum wieder zu erkennen gegenüber
Palästina 1952. Weitere fünf Jahre früher existierte das „historische
Palästina“ noch. Heute können Palästinenser nur mehr rund 12 Prozent des
„historischen Palästina“ betreten. Caritas kann nicht einmal zu allen
diesen 12 Prozent hinfahren. Kinder aus Jenin, Nablus und anderen
Städten im nördlichen Teil der Westbank können das Spital aufgrund der
Bewegungsverbote, Checkpoints und der zahlreichen „Bantustans“, in die
das Land von der Besatzung geteilt wurde, nicht mehr erreichen.
Deshalb kann die Caritas nur die Kinder und Babys aus der südlichen
Westbank und der Gebiete um Bethlehem und Al Khalil (Hebron) behandeln.
Trotz der massiven Beschränkung ihres Einzugsgebietes gab es im
vergangenen Jahr die größte Zahl der je in diesem Spital behandelten
Patienten.
Die
Auswirkungen der Besetzung sind verschiedenartig und weit verbreitet.
Kinder, die durch die Israelische Besatzungsarmee (IOF) verwundet
wurden, werden nicht zur Caritas gebracht, weil es dort keine
Notfall-Wundversorgung gibt. Stattdessen werden sie in staatliche
Spitäler in Bethlehem gebracht. Aber ein sehr hoher Prozentsatz aller
Kinder im Spital sind Fälle, die in Zusammenhang stehen mit der
politischen Situation.
Wenn man durch das Spital geht, ist es schwierig, sich nicht durch die
Einrichtung und den hohen Pflegestandard beeindrucken zu lassen, aber
auch die geringe Körpergröße der Kinder springt ins Auge. Kinder, die an
schwerer Unterernährung leiden, werden regelmäßig ins Spital gebracht;
aber während ich von einigen von den vielen sehr bemühten
MitarbeiterInnen durch das Spital geführt werde, klären sie mich über
F.T.T (= Failure to Thrive = Wachstumsrückstand) auf. Die Mehrheit der
Kinder bei der Caritas kommen nicht aus den Städten Bethlehem und Al
Khalil, sondern aus den Flüchtlingslagern und den Dörfern der Umgebung.
Die Umwelt- und sozialen Bedingungen in diesem Bereich sind viel
schlechter als innerhalb der Städte. Die Armutszahlen sind höher und
daher mangelt es an Essen, die Heizung im Winter ist unzureichend, und
der Zugang zu sauberem Trinkwasser ist auch eines der Hauptprobleme. Ein
winziges Kind zieht mein Interesse auf sich: Ihre riesigen braunen Augen
starren mich fragend an. Nachdem ich mich mit einer Gesichtsmaske, einem
Kittel und Handschuhen versehen habe, um die Übertragung von Infektionen
zu verhindern, führt mich ein Arzt zu ihr.
„Lama ist aus der Ortschaft Al Khadr/ Bethlehem. Sie ist zehn Monate
alt, hat aber die Größe eines vier Monate alten Kindes. Ihre Mutter
hatte keine Milch, um sie damit zu ernähren. Daher konnte Lama einfach
nicht wachsen. Ihre Eltern waren schon seit einem Monat nicht hier.“
Eine Menge Kinder leiden an Magen-Darm-Problemen, die sich zu Krankheit
und Durchfall entwickeln können. Solche Probleme sind bei Kindern
weltweit gewöhnlich, aber in Palästina wie in vielen Teilen der
unterprivilegierten Welt, sterben Kinder unter diesen Bedingungen. Die
Eltern haben kein Geld für eine Spitalsbehandlung, und daher verschieben
sie den Weg ins Spital bis es fast zu spät ist. Und, wie ein anderer
Arzt erklärte, ist es in einigen Fällen wirklich zu spät, wenn die
Kinder endlich das Spital erreichen.
„Vor einigen Monaten brachte ein Mann seinen Sohn her. Sie hatten
überhaupt kein Geld und schämten sich, um Hilfe zu betteln, daher hörten
sie auf, eine Behandlung zu suchen in der Hoffnung, seine Kondition
würde sich im Laufe der Zeit verbessern. Schließlich war die ganze
Familie verzweifelt, als es mit dem Kind immer mehr bergab ging, und sie
brachten es ins Regierungsspital. Als sie dort ankamen, konnte das Kind
im Spital nicht behandelt werden, weil alle Ärzte im Streik waren; so
haben sie ihn hierher gesandt. Das Kind starb innerhalb einiger Stunden
nach seiner Ankunft; es war einfach zu spät.“
Dieses Kind starb an einer akuten Gastro-Enteritis; es war erst sechs
Monate alt. Wenn es früher ins Spital gebracht worden wäre, hätte es
erfolgreich behandelt werden können.
Seitdem die internationale Blockade Palästinas im letzten Jahr begann,
die von den Weltmächten als sogenannte Kampagne für „Freiheit und
Demokratie“ definiert worden war, fanden die Mitarbeiter der Caritas,
dass sich die Situation in alarmierendem Ausmaß verschlechtert hatte.
Die Ärzte der staatlichen Spitäler erhielten ihren Lohn nicht, und
schließlich traten sie in Streik als Protestaktion; daher kamen immer
mehr Kinder zur Caritas. Die Eltern haben kein Geld, darunter hat die
Ernährung der Eltern und vor allem der Kinder schwer gelitten. Ein Kind
wurde gebracht, das litt unter ernstem Vitamin B-12 Mangel, was nach
Angabe der Ärzte bei der Caritas für so junge Babys ungewöhnlich ist.
„Vitamin B-12 befindet sich im Fleisch und Gemüse, das sehr junge Babies
nicht zu essen bekommen. Sein Vater war Polizist, also hat er sein
Gehalt seit Beginn der Blockade nicht mehr bekommen. Er konnte keine
Nahrung für seine Familie kaufen, daher musste die Frau während ihrer
Schwangerschaft im wesentlich von Brot und schwarzem Tee leben. Zur Zeit
der Geburt litt sie selbst an einem schweren B-12 Mangel, und als sie
anfing zu stillen, war das für das Neugeborene noch schlimmer, denn in
ihrer Milch gab es keine B-12.
Wir
erleben das häufig – Mütter, die keine gute Milch erzeugen können, weil
sie selber an Unterernährung leiden, die sie wiederum an ihre Kinder
weitergeben.“
Viele der Kinder hier leiden an einer bestimmten Art von Anämie, einer
anderen Konditionierung, die direkt im Zusammenhang mit Unterernährung
steht. Ein Kind, das ich sah, hatte eine Anämie durch 80prozentigen
Eisenmangel. Eisen ist in den ersten Lebensmonaten lebenswichtig und
bestimmt u.a. die Entwicklung des IQ; bei diesem Kind führte sie zu
einer mangelhaften physischen Entwicklung wie auch zu körperlichen
Problemen. Diese Fehlentwicklungen sind eine der Auswirkungen der
Politik, die im vergangenen Jahr von Bush und Blair gefördert wurde,
weil beide die demokratische Wahl des palästinensischen Volkes nicht
akzeptieren wollten.
„Wir haben gefunden, dass sich die Zustände seit dem Beginn der Intifada
enorm verschlechtert haben, und noch einmal seit der Blockade im
vergangenen Jahr. Die Sorgfalt bei der Ernährung hat schwer gelitten.
Mütter, die keine Milch produzieren können, greifen zu Milchpulver. Aber
sie verdünnen es aufgrund der Armut der Familien so stark, dass es
effektiv keinen Nährwert mehr hat. Außerdem wird das Milchpulver mit
schmutzigem Wasser angerührt.“
Ein
anderer sehr sichtbarer Faktor ist für die Caritas das irritierende
Fehlen der Eltern bei ihren Kindern im Spital.
„Wir meinen, dass dieses ein anderes Hauptproblem besonders bei Kindern
aus den Lagern und den Dörfern rund um Al Khalil ist. Dieses Baby z.B.
ist aus Yatta (einer Stadt südlich von Al Khalil). Sie hat ein Short
Bowel Syndrom, eine Darmverschlingung. Sie hat auch noch andere
Ernährungsdefizite, Anämie und FTT. Sie kam gleich nach der Geburt zu
uns, und ihre Eltern sind sie in nunmehr zwei Monaten nicht besuchen
gekommen. Yatta ist eine sehr arme Stadt, und ihre Eltern können einfach
die Fahrtkosten nicht aufbringen, um hierher zu kommen. Sie haben auch
noch andere Kinder zu Hause, die zu essen haben müssen.“
Beim Umhergehen durch das Spital sehe ich Zimmer um Zimmer voller
winziger Babys, die an Krankheiten leiden, die irgendwie mit den
sozialen Bedingungen und der Armut zusammenhängen, Kinder, deren Augen
aufleuchten, wenn ich hereinkomme und sie ein neues Gesicht zu sehen
bekommen. Einige lächeln zu mir herauf mit der Schönheit eines neuen
Lebens, andere weinen fast ständig. Ein Baby ist so winzig, dass ich
sicher war, es müsse sehr vorzeitig geboren sein, aber als wir die
Beschreibung anschauten, fanden wir heraus, dass es genau zum richtigen
Zeitpunkt der Schwangerschaft zur Welt kam. Sie ist jetzt vier Monate
alt, aber sie ist nicht größer als ein Sack Zucker. Die Ärzte erzählen
mir weiter, dass andere Kinder, die von ihren Vätern auf Armen wie
kleine Babies hergebracht werden, in Wirklichkeit längst keine Babys
mehr sind sondern Kinder von drei, vier und fünf Jahren. Sie können
einfach nicht wachsen – das ist FTT in seiner schlimmsten Form.
Im
Winter werden Kinder wie das oben beschriebene mit seinen erfrorenen
Füßen hergebracht mit einer ganz tiefen Körpertemperatur von 32 Grad,
vor allem aus den Lagern und Dörfern, weil die Häuser ungenügend beheizt
werden, und in einigen Fällen überhaupt nicht. Nicht alle Kinder, die
ins Caritas-Spital gebracht werden, können dort auch behandelt werden.
Das Spital hat feste Verbindungen zu Spitälern innerhalb von Israel
aufgebaut, und einige Kinder, die nicht bei der Caritas behandelt werden
können, senden wir dorthin. Das ist besonders der Fall bei größeren
Operationen. Aber dieses Verfahren kämpft auch mit vielen Problemen.
Endlose Papiere müssen fertig gemacht werden, und dann kommt das Kind in
einen Rettungswagen. Aber nicht einmal Krankenwagen dürfen weiter als
bis zu dem 100 m entfernt liegenden Checkpoint von Bethlehem fahren.
Weiter geht es nicht. Es kann nicht weiter gehen, denn das Kind ist
Palästinenser. Nicht einmal Rettungswagen dürfen durch den Checkpoint zu
Spitälern in Israel fahren, ungeachtet der Papiere. Daher wird das Kind
am Checkpoint aus dem Rettungswagen ausgeladen, und ein israelischer
Rettungswagen wartet, um das Kind zur Weiterfahrt aufzusammeln. Und wenn
das Kind endlich sicher im Spital in Israel gelandet ist, wo sind seine
oder ihre Eltern ? Sie stecken unveränderlich fest auf der anderen Seite
der Apartheidmauer als das Kind, unfähig, von der Besatzungsarmee eine
Erlaubnis zu erhalten, selbst ihr krankes Kind zu besuchen und es
während seiner Spitals-behandlung zu versorgen. Kürzlich hat sich der
Fall bei der Caritas ereignet, dass ein Kind in einem Brutapparat einige
Stunden lang am Checkpoint von Bethlehem festgehalten wurde, ehe die
Soldaten es mit der wartenden israelischen Ambulanz weiterbefördern
ließen.
Die
Ärzte haben auch seit dem Beginn der Intifada unglaublich hohe Zahlen
von sehr jungen Kindern angetroffen, die an einer seltenen Art Krebs
hinter dem Auge litten. Sie waren nicht in der Lage, die Ursache dieser
Erkrankung genau herauszufinden, die es in den umliegenden Ländern nicht
gibt. Das führt die Ärzte zur Annahme, dass es sich um ein chemisches
Gift handelt, das von der Besatzung benutzt wird. Sie haben
nachgeforscht, ob es sich um Tränengas handelt, aber es ist ihnen bis
jetzt nicht gelungen, diese Theorie zweifelfrei nachzuweisen.
Frühgeburten und Fehlgeburten auf Grund eines Schocks, der durch einen
Angriff des IOF ausgelöst wurde, sind häufig zu beobachten.
Die
Arbeit der ganzen Belegschaft im Caritas-Kinderspital ist
bewundernswert. Die Gesichter und winzigen, schwachen Körper der
Patienten sind herzzerreißend, bettelnde Augen schauen
hilfesuchend aus grauen Gesichtern. Palästina schrumpft von Tag zu Tag.
Es wird kleiner und kleiner. Es kann nicht wachsen und die Kinder leiden
an dem Unvermögen zu wachsen. Es kann sich nicht entwickeln, und die
Kinder illustrieren diese Tatsache durch das häufige Erkranken an
armutsbedingten Krankheiten. Das sind medizinische Auswirkungen, die
durch politische Entscheidungen verursacht sind.
Richard Wiles ist ein britischer
Fotograf, der die besetzte Westbank regelmäßig besucht. Er schreibt
Berichte über die Situation und Erinnerungen von Palästinensern in den
Lagern, und er fotografiert das Leben dieser Flüchtlinge für zukünftige
Ausstellungen. Er hat regelmäßig unter dem Titel „Hinter der Mauer“
geschrieben.
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dieser umfassenden Information für Forschungs- und Bildungszwecke
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