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Sent: Monday, December 13, 2004 3:59 PM
Subject: Tulkarem
Hallo aus der Sonne,
das Wetter ist wirklich eine reinste Freude hier: Sonne, blauer
Himmel, etwas Wind, richtig warm!!
Ich bin gerade aus Tulkarem zurueckgekommen, wo ich eineinhalb
Tage verbracht habe. Das ISM-regional-commitee dort hat ein Programm
organisiert fuer uns, mit welchem es uns moeglich ist, die Gegend um
die Stadt und sie selbst ein wenig kennenzulernen. Tatsaechlich bin
ich jetzt voller Eindruecke, wir haben soo viel gesehen und
gehoert...Bald werde ich noch einmal hinfahren, wir konnten gar
nicht alle Ausfluege unternehmen, da die Zeit zu kurz war. ( Morgen
geht es naemlich endgueltig nach Assira zur Olivenernte!!)
Tulkarem ist eine kleine Stadt, welche fast unmittelbar an der
gruenen Grenze liegt, nun natuerlich unmittelbar von der Mauer
betroffen i! st. Die Stadt selbst leidet aehnlich wie Nablus unter
kleineren und groesseren Militaerinvasionen, vor knapp 2 Jahren sind
bei einem Grossangriff aus der Luft auf die oertliche
Polizeistation, das benachbarte Gefaengnis, die Unterkuenfte der
palaestinensischen Soldaten und Polizisten, die Stadtverwaltung und
Parteiraeume der Fatah sowie eine angrenzende Moschee nicht nur all
diese Gebaeude zerstoert worden. Die Detonationen haben die
umliegenden Haeuser schwer beschaedigt, manche der Steinbrocken
flogen bis zu 500 Meter weit. Vor 2 Stunden noch bin ich in all
diesen Truemmerhaufen umhergelaufen, habe fotografiert und das
entsetzliche Geschehen fuer mich rekonstruiert.
Den Vormittag des heutigen Tages haben wir nicht in Tulkarem
selbst verbracht. Nach einer ruhigen, komfortablen Nacht im Hause
einer der im Commitee mitarbeitenden Frauen sind wir am Morgen
aufgebrochen und haben zuerst eine Schule in einem benachbarten Dorf
besichtigt. Die Klassen bestehen zum Teil! aus 46 Schuelern, bis zur
dritten Klasse Jungs und Maedels zusammen, danach getrennt. Mit uns
gekommen waren 2 Frauen vom oertlichen Gesundheitsministerium,
welche Anti-Laeuse-Mittel an die Klassen verteilt haben, nicht ohne
die noetigen Erlaeuterungen zu geben. Ich fand die Kinder
erstaunlich diszipliniert, ja geradezu hungrig, etwas zu lernen. Die
meisten von ihnen kommen aus dem Dorf, einige muessen jeden Morgen
einen 3-Kilometer-Fussweg in Kauf nehmen, auf dem sie taeglich an
Soldaten vorbei muessen, oftmals lange von ihnen aufgehalten werden,
meistens zu spaet zur Schule kommen. Diese kleinen Maedchen wirkten
muede und in ihren Gesichtern sah man eine Reife, die nicht auf
schoene Erlebnisse zurueckzufuehren ist.
Die Einrichtung war recht spaerlich, obwohl das Schulgebaeude neu
ist. Es fehlt zum Beispiel ein Kopierer und Computer. Die Eltern
muessen Schulgeld bezahlen, was fuer viele von ihnen nur unter
grossen Muehen moeglich ist. Seit Beginn der Intifada naemlich sind
viele der Maenner arbeitslos. Hatten sie vorher einen einigermassen
bezahlten Job in Israel, so ist ihnen diese Quelle seit ca. 4 Jahren
verwehrt.
Von diesem Dorf - Kufr Labad - fuhren wir weiter zu einem
anderen, noch viel kleineren Dorf, dessen Haeuser nicht wirklich
beisammen, sondern ueber eine weite Gegend verstreut stehen. Zu
diesem Dorf - Alhissab - fuehrt keine ordentliche Strasse, des
oefteren schon haben die Israelis den Bau verweigert und noch dazu
auf dem bestehenden Schotterweg immer wieder roadblocks errichtet.
Das Dorf hat keine Elektrizitaet, das Legen oder Spannen der
Leitungen wird von den Israelis nicht gestattet ( Meine Guete, warum
muessen diese widerlichen Eindringlinge eigentlich um Erlaubniss
gefragt werden?? Und wollen die Dorfbewohner eigenhaendig
irgendetwas herstellen oder errichten, werden sie dafuer bestraft.
Es schreit zum Himmel.). Jedes Haus hilft sich mit einem privaten
Generator. Die Bewohner sind sehr arm, leben von der Hand in den
Mund. Der Gipfel ist aber die Siedlung, die nur einen Stei! nwurf
entfernt von der groessten Haeuseransammlung munter vor sich hin
waechst. Vor dreizehn Jahren gab es dort "nur" die Militaerbasis,
die Bewohner des Dorfes konnten einigermassen damit leben. Dann aber
begann der Bau der schnuckeligen kleinen huebschen Haeuser, der
feinen Strassen mit ihren Blumenkuebeln auf den Verkehrsinsel; wie
eine Schnecke waechst dieses Ungeheuer von innen nach aussen, der
sie umgebende Zaun muss immer weiter nach aussen verlagert werden,
so langsam frisst die Siedlung die Laendereien und Grundstuecke der
Dorfbewohner. Wir stehen oberhalb von ihr, blicken auf das ruhige
Treiben, das scheinheilige huebsche Gesicht dieser Heimstatt...Dann
erzaehlen uns unsere Begleiter, das dies gar keine Heimstatt ist,
die Siedlung ist so gut wie unbewohnt! Die leeren Haeuser warten
alle noch auf ihre Bewohner, gebaut wird trotzdem immer weiter.(
Dies ist in ganz vielen Siedlungen in Palaestina gaengige Praxis. Es
zeigt deutlich, dass der Staat westlich der gruenen Grenze ganz
offensichtlich zu viel Geld hat und nicht weiss, wohin damit...Das
stimmt natuerlich nicht...Israel hat ja grosse finanzielle
Schwierigkeiten.
Aber der Landraub an allen Ecken und Enden kann geschehen - auf
Kosten der Schwaechsten in der Bevoelkerung.). Nichts desto trotz
werden die Dorfbewohner fast taeglch uebelst von Soldaten
belaestigt, diese legen Feuer, stoeren die Nachtruhe, verschrecken
die Kinder auf deren Weg zur Schule...Diese ist ueberhaupt das
traurigste Exemplar einer Bildungseinrichtung, welches ich jeh
gesehen habe. Drei kleine Raeume, in denen es auch keine
Elekrizitaet gibt. Es ist duester innen drin und kalt. In jedem
Klassenraum werden zwei Klassenstufen gemeinsam unterrichtet, ca. 10
SchuelerInnen sitzen und frieren in einem Raum. Die Tuer nach
draussen muss offen bleiben, damit ein wenig Licht hereinkommt...Die
Einrichtung ist spaerlichst, die Lehrer sind seit Jahren nicht
fortgebildet worden, das Dorf wird so gut wie nie von jemandem
besucht, da die Konfrontationen mit der Armee zu zahlreich und zu
abschreckend sind. Wann immer die Schule die palaestinensische
Flagge auf dem Dach des Gebaeudes hisst, kommen Siedler oder
Soldaten, schiessen sie entweder kaputt oder reissen sie nieder. Der
Widerstandsgeist der Schule reichte fuer 14 Flaggen, dann reichte
das Geld nicht mehr...
Das taegliche Schickanieren der Soldaten zielt klar in eine
Richtung: Machen wir den Dorfbewohnern das Leben so schwer wie
moeglich, verlassen sie hoffentlich bald ihre Haeuser. Dann bekommt
die Siedlung endlich den Platz, den sie will...
Ich bewundere unendlich den Widerstandswillen der Leute hier. Was
die aushalten und unter welchen Bedingungen sie ihre Kinder gross
ziehen, ist sagenhaft. Sie sagen, ihnen hilft ihr Glaube. Er gibt
ihnen die Kraft zur Resistenz und die Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Mich erfasste eine solche Traurigkeit, als wir uns in ihrem Dorf
aufhielten. Das Verhalten der Israelis ist fuer mich kaum mehr
auszuhalten. Meine ohnmaechtige Wut kann ich mit Worten nicht mehr
beschreiben. Diese armselige Gesellschaft, die ihre ganze Potenz!
aus der kreativsten und abartigsten Unterdrueckung eines anderen
Volkes bezieht, auf dessen Land es sich breit macht - dies
finanziert von Deutschland, den USA und einigen anderen mehr.
Ich moechte nicht vergessen zu erzaehlen, dass die Dorfbewohner
selbst aus der Luft, die sie taeglich atmen, den giftigen Atem der
Besatzung riechen: es gibt hier in Sichtweite eine Chemiefabrik auf
israelischem Land, die nur dann arbeitet, wenn der Wind so weht,
dass er die giftigen Gase in Richtung des Dorfes traegt...Und ihr
Abwasser ist uebrigens von einer Deponie verseucht, auf welcher die
Israelis ihre medizinischen Abfaelle entsorgen, bzw. eben nicht
entsorgen. Diese ist in unmittelbarer Naehe der Haeuser
platziert...Die Siedlung hat ihre eigenen Leitungen.
Gestern verbrachten wir den Nachmittag mit einem Farmer. Seine
Laendereien sind durch den Bau des Zaunes in zwei Teile geteilt
worden. Ein Teil liegt nun im "Westjordanland", der andere in dem
Niemandsland zwischen der gruenen Grenze und dem Zaun.-- Ich rede
von Zaun, weil dieser Ausdruck mit seinen 4 Buchstaben der kuerzeste
ist, der das Gebilde beschreibt: der Zaun ist eine hundert Meter
breite Schneise, welche sich aus Strassen, Schotterwegen,
Elektrozaeunen, Stacheldrahtrollen, Graeben, Erdwaellen,
Kameragespickten Masten etc. zusammensetzt. Und sich wie eine
SCHLANGE durch die Landschaft zieht. Wie doppelt laecherlich ist das
Gejammer der Israelis, wieviel Geld ihre Supersicherheitsmassnahme
verschlingt, wenn man bedenkt, dass sie sie wesentlich billiger
haetten haben koennte, wenn sie sie einfach schnurgerade entlang der
gruenen Grenze haetten verlaufen lassen.--Dieser Farmer nun hat in
vielerlei Hinsichgt unglaublich unter den Folgen des Zaunmauerbaus
zu leiden. Auf den Laendereien, welche nach wie vor im
Westjordanland liegen, darf er nichts hinbauen, keine Gebaeude, kein
Gewaechshaus, gar nichts, welches die Sicht der Soldaten, die
entlang des Zaunes patroullieren auf einer Breite von 300 !! Metern
verwehren koennte. Was ihm jedoch mit den Fel! dern und
Gewaechshaeusern und Hainen auf der anderen Seite widerfaehrt ist
noch viel schlimmer. Um zu diesen Laendereien zu gelangen, muessen
er und all seine ca. 50 Arbeiter durch ein Tor in dem Zaun. Dieses
Tor hat eine Nummer und jeder der Arbeiter braucht von den
israelischen Behoerden alle 1-3 Monate eine Genehmigung, dieses Tor
passieren zu duerfen. Diese Genehmigungen zu bekommen ist aufwendig
und umstaendlich und meistens der Willkuer irgendwelcher Halbkinder
ausgesetzt. Das Tor nun wiederrum wird offiziell, so steht es auf
einem Schild, drei Mal am Tag fuer eine Stunde geoeffnet. Tatsache
ist, das es 2 mal am Tag fuer einige Minuten offen. Mal um halb 6,
mal um 7 oder um 8 oder um 9 Uhr morgens...Die Arbeiter stehen sich
also fast taeglich die Fuesse in den Bauch, bis irgendwann der Jeep
vorfaehrt. Im Besten Fall vergehen dann nur einige Minuten, bis das
Tor geoeffnet und die Arbeiter einzelnen durchgelassen und
abgezaehlt werden. Meistens rauchen aber die Soldaten! erst einmal
einige Zigaretten, fruehstuecken im Jeep oder lesen die Zeitung.
Auch bei Regen, versteht sich. Irgendwann bequemen sie sich dann,
oeffnen das Tor, lassen die gezaehlten und gecheckten Maenner durch.
Wer 2 Minuten spaeter kommt, hat Pech gehabt. War am Vortag das Tor
vielleicht um 8 offen, oeffnen die Soldaten es am naechsten Tag um
6.30. Wer dann noch nicht da ist, kommt nicht mehr durch.
Am Nachmittag dann die gleiche ueble erniedrigende Prozedur.
Frueh, vor 14 Uhr, sammeln sich die Arbeiter - ihr Arbeitstag ist
also recht kurz -, offiziell wird das Tor um 14 Uhr
geoeffnet....Doch oft stehen die Arbeiter dann bis um 17 Uhr...Die
Frustration will ich jetzt nicht beschreiben, wieviel sinnvolle
Arbeit haette in dieser Zeit oftmals erledigt werden koennen! Wird
dann das Tor geoeffnet, wird erst einmal abgezaehlt. Fehlt jemand,
muessen alle warten. Ist aus irgendeinem Grund jemand dazu
gestossen, kann es sein, dass alle Arbeiter ihre Genehmigung
verlieren...Durchgerissen vor ihren Augen zum Beispiel. Wiederfaehrt
einem der Arbe! iter beim Arbeiten etwas Schlimmes, gibt es einen
Unfall oder aehnliches, bleibt ihnen nichts anderes uebrig, als bis
zum Nachmittag zu warten, bis sich die Soldaten gnaedig herablassen,
das Tor zu oeffnen...Vergisst einer ein Werkzeug oder etwas anderes
mitzubringen, hat er Pech gehabt. Es muss kollektiv gewartet werden.
Genauso muss der warten, der seine Arbeit vielleicht schon um 11 Uhr
beendet hat...Das Maechteungleichgewicht in dieser taeglich sich
wiederholenden widerlichen Prozedur ist so greifbar, so demuetigend,
so frustrierend. Mich wundert ja schon lange nicht mehr, dass aus
der palaestinensischen Gesellschaft Selbstmordattentaeter oder
aehnliches hervorgehen. Aber nach den Erlebnissen der letzten 2 Tage
ueberrascht mich gar nichts mehr.
Uebrigens braucht der Farmer auch noch eine Genehmigung, um seine
Olivenbaeume abzuernten, die jenseits des Zaunes liegen. Doch viele
darf er gar nicht bearbeiten, da sie zu nah am Zaun stehen...
Man kann sich wirklich die Haare oder irgendwas raufen ob all der
unglaublichen Ungerechtigkeiten, die hier vor sich gehen. Doch dabei
soll es nicht bleiben!! Wie froh bin ich, dass ich hier sein kann
und wenigstens meinen Winzbeitrag leiste, dass wenigstens ich nicht
nur aus der Ferne zuschauen muss, was alles so passiert.
Bevor ich jetzt zu theatralisch oder pathetisch werde, mache ich
lieber Schluss. Bin schon froh, dass ich mir einmal mehr einiges von
der Seele schreiben konnte. Jetzt gleich werde ich noch ein wenig
drueber reden koennen und dann muss ich halt einfach mal sehen,
wohin mit all meiner Wut.
Uebrigens - wird sind durch den kleinen Beit Iba-checkpoint
zurueck nach Nablus gekommen! Damit hatte ich nie gerechnet. Mit
einer huebschen kleinen story haben uns die misstrauischen Soldaten
tatsaechlich reingelassen. Zu bloed, dass wir so auf sie und ihre
widerliche Gnade angewiesen sind. Andererseits wuerde ich ihnen zu
gern mal ins Gesicht springen.
Eure Hanan
Von: ism-germany(at)gmx.net [mailto:ism-germany(at)gmx.net]
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www.palsolidarity.org
ISM (International Solidarity
Movement) ist einer Bewegung palästinensischer, internationaler und
israelischer Friedens- und Menschenrechtsaktivistinnen, die mit
gewaltfreien Mitteln für ein Ende der israelischen Besatzung
arbeiten und sich für einen gerechten Frieden in ISrael und
Palästina einsetzen.
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