Text des nicht gehaltenen Vortrags:
"Weltkrieg um Palästina - Von Lord Balfour bis John Kerry"
Prof. Dr. Rolf Verleger, Dipl.-Psych.
Spiegelsaal der deutschsprachigen Gyula-Andrássy Universität,
Pollack-Mihály tér 3, Budapest, 15. Mai 2013, 18 Uhr
… (Begrüßung und Dank für die Einladung)
15. Mai 2013 / Schawuot
Der heutige Abend fällt auf einen besonderen Tag für das
Judentum, und auf einen besonderen Tag für die Palästinenser.
Für das Judentum ist heute abend der zweite Abend des
Schawuot-Fests. Schawuot heißt „Wochen“, denn auf dieses Fest soll man sieben
Wochen warten. Jeden Tag soll man zählen, bis das Fest endlich kommt: Am zweiten
Abend von Pessach fängt man an und sagt „Heute ist der erste Tag im Omer“, am
nächsten Abend sagt man „Heute ist der zweite Tag im Omer“ und so fort bis zum
„49. Tag im Omer“. Der 50. Tag ist dann Schawuot.
Ein einfacher Grund für dieses Sieben-Wochen-Zählen ist, dass man sich für
Schawuot nicht so einfach nach dem Mond richten kann wie bei den meisten anderen
Festen: Pessach, Sukkot, auch Purim beginnen an Vollmond, Rosch HaSchana beginnt
an Neumond. Aber Schawuot ist ein paar Tage nach Neumond, mittendrin, daher muss
man genau zählen, damit man das Datum nicht verpasst.
Der wesentliche Grund aber ist, dass mit diesem Zählen jedes
Jahr das Warten symbolisiert und wiederholt werden soll: Das Warten auf das
Gesetz, das die Kinder Israels sieben Wochen nach ihrem Auszug aus Ägypten
erhielten und das sie seit dieser Zeit manchmal freudig, manchmal widerwillig
anerkannten als das Besondere, das das Judentum ausmacht: An Schawuot, sieben
Wochen nach Pessach, dem dramatischen, befreienden Auszug aus dem Land der
Knechtschaft, erhielt das Volk in der Wüste am Berg Sinai das Gesetz, die 10
Gebote.
Es gibt einen „Midrasch“, eine Erzählung, dass Gott seine
Gebote unter den Völkern der Welt anbot. „Was steht denn drin?“ fragte Edom, die
Nachkommenschaft Esaus. „Zum Beispiel ‚Morde nicht!‘“. „Nein, tut uns leid,
können wir nicht befolgen, unserem Stammvater Esau wurde ja prophezeit, er müsse
mit Hilfe seines Schwerts leben.“ Und so ging es bei anderen Völkern, jedem
passte etwas nicht, mal „Du sollst nicht ehebrechen“, mal „Du sollst nicht
stehlen“. Nur das Volk Israel sagte: „Wir werden hören und es befolgen“.
Das heißt, Israel wählte sich Gottes Gesetz und Moral, und
dadurch wurde es zum „auserwählten Volk“ – eine Wahl auf Gegenseitigkeit. Das
jüdische Volk war über Jahrtausende stolz darauf, Träger von Gottesfurcht und
Moral zu sein: Auserwählt von Gott, weil es sich seinerseits Gottes universell
gültige Moral auserwählt hatte.
Übrigens ist es kein Zufall, dass das christliche Fest Pfingsten um die gleiche
Zeit ist wie Schawuot. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zum anderen ist heute abend der Tag, an dem die Palästinenser
des 65. Jahrestags der "Naqba" gedenken, ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat,
ihrer Enteignung, eben der Geschehnisse der Jahre 1947-1948, die in der Gründung
des Staates Israels endeten.
Wie lassen sich diese zwei Fest- und Gedenktage miteinander
vereinbaren? Was ist das für ein Judentum, das solches Unrecht an anderen
zulässt, rechtfertigt, schönredet und sogar feiert? Das ist eine Frage, die im
Judentum – und darüber hinaus - für heftige Kontroversen sorgt.
Ich möchte hier, an der Andrássy-Universität mit ihrer
europäischen Geschichte aber auch über einen anderen Aspekt reden, nämlich über
die Verantwortung Europas für dieses Problem: Israel ist ein Kind Europas,
Europa hat sein Problem mit seiner großen jüdischen Minderheit in eine andere
Weltgegend exportiert: Der dortige Konflikt ist unsere europäische
Verantwortung.
Der Nahe Osten und der erste Weltkrieg
Im Jahr 1917 schrieb der britische Außenminister Lord Balfour
seine historische Deklaration, dass die Regierung Seiner Majestät die
Einrichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina mit Wohlwollen betrachte.
Wieso gab mitten im Ersten Weltkrieg die britische Regierung
eine solche Erklärung heraus? Wieso ausgerechnet in diesen aufgewühlten Zeiten?
Wieso erfolgte die romantisch anmutende Ansiedlung einer "Heimstätte" kurz nach
dem Attentat von Sarajewo, dem Massensterben von Verdun, den
österreich-italienischen Gebirgsjägermetzeleien, den russischen Revolutionen?
Dieses zeitliche Zusammentreffen wirkt zunächst ganz
zufällig. Allenfalls könnte man sich einen Zusammenhang mit den russischen
Revolutionen von 1917 vorstellen: Großbritannien sorgte sich vielleicht, dass
die russischen Wirren zu viele Juden nach England treiben würden, und suchte
prophylaktisch eine Möglichkeit, diese loszuwerden, eben nach Palästina.
Es war aber kein Zufall.
Vielmehr wurde der Erste Weltkrieg wesentlich um den Nahen
Osten geführt. Es ging dabei um die Weltmachtinteressen Großbritanniens und die
Gefährdung dieser Interessen durch das aufstrebende Deutsche Kaiserreich.
Um 1850 hatte Großbritannien ganz Indien erobert. Die
Sicherung des Handelswegs nach Indien wurde nun oberstes Gebot britischer
Politik. Dieser Handelsweg führte über das Osmanische Reich, das sich von
Bosnien bis Basra ausdehnte, von Europa bis zum Indischen Ozean. Das russische
Zarenreich wollte das Osmanische Reich zerlegen, um ans Mittelmeer vorzudringen.
Dies empfand Großbritannien als Bedrohung seines Handelswegs und stützte daher
das Osmanische Reich gegen das Zarenreich.
Die Handelswege änderten sich durch den Bau des Suezkanals.
Auch der Kanal war eine Bedrohung der britischen Vorherrschaft, denn ihn baute
und besaß Frankreich, die Konkurrenzmacht Großbritanniens. In einem gelungenen
Coup sicherte aber der britische Premierminister Disraeli die Aktienmehrheit am
Suezkanal für Großbritannien, das fortan mit Frankreich kooperierte. Durch den
Kanal verlagerte sich das britische Interesse am indischen Handelsweg südlicher,
fort vom Kerngebiet des Osmanischen Reichs. Daher mussten nun die Fahrt durchs
Mittelmeer und die Landflanken des Suezkanals geschützt werden. Folgerichtig
besetzte Großbritannien nach Gibraltar und Malta auch Zypern, um den Meerweg zu
sichern, sowie Ägypten, um die Westflanke des Kanals zu kontrollieren. Beides
gehörte aber zum Osmanischen Reich, ebenso wie die Ostflanke des Kanals. Das
Interesse Großbritanniens an der Integrität des Osmanischen Reiches sank.
Das deutsche Kaiserreich, das lange neutral gegenüber diesen
Konflikten geblieben war (Bismarck konnte noch als "ehrlicher Makler" zu einer
Friedenskonferenz nach Berlin laden), betrieb unter Wilhelm II. eine Politik des
Einflusses im Osmanischen Reich. Sichtbarer Ausdruck dieser Politik war die
Bagdad-Bahn: Diese Eisenbahn von Istanbul bis Basra konnte Truppentransporte an
den Indischen Ozean ermöglichen. Außerdem rüstete Wilhelm die deutsche Marine
auf. Durch diese beiden Faktoren erschien ein Angriff auf das imperiale Herz
Großbritanniens – den Seeweg nach Indien - möglich.
Es war dieser Konflikt um den Nahen Osten zwischen
Großbritannien und Frankreich auf der einen Seite und Deutschland und
Osmanischem Reich auf der anderen Seite, der Großbritannien zur Teilnahme am
Ersten Weltkrieg brachte. Erstes Kriegsziel für Großbritannien war die
Zerschlagung des Osmanischen Reiches, um dadurch Deutschland diese
Einflussmöglichkeiten zu nehmen. Großbritannien schickte seine Marine zur
Eroberung Istanbuls. Die osmanische Armee wehrte den Angriff ab. In den
Schlachten bei Gallipoli starben Zehntausende. Bei uns ist das nicht sehr
bekannt, aber der ANZAC day zur Erinnerung an die Teilnehmer dieses Feldzugs ist
noch heute höchster Nationalfeiertag in Australien und Neuseeland, woher ein
großer Teil der britischen Truppen stammte.
Das Osmanische Reich wehrte zwar diese und folgende
Interventionen Englands und Frankreichs ab, blieb aber dadurch so geschwächt,
dass es die Kontrolle über die Länder außerhalb der heutigen Türkei nicht
behalten konnte. Um auch die Gebiete rechts des Suezkanals unter seine Kontrolle
bringen, musste das Britische Empire eine Vereinbarung mit der verbündeten
Kolonialmacht Frankreich treffen; diese erfolgte in der Tat 1916 durch das
geheime Sykes-Picot - Abkommen, in dem die Einflussgebiete in Arabien abgesteckt
wurden. Zum anderen – und das war erheblich komplizierter – musste auf den
aufstrebenden neuen Kriegsverbündeten USA Rücksicht genommen werden, deren
Präsident Wilson in seiner 14-Punkte-Charta das Selbstbestimmungsrecht der
Völker einforderte: Die Zeit des hemmungslosen Kolonialismus ging vorbei. Was
sollte Großbritannien in dieser Lage tun, um den Suezkanal abzusichern?
In dieser Lage ging es nicht darum, dass Dr. Chaim Weizmann –
das führende Mitglied der Zionisten, der damals in London lebte – Balfour zu
irgendetwas hätte überreden können oder müssen. Sondern: Wenn es den Zionismus
nicht gegeben hätte, Großbritannien hätte ihn erfinden müssen. Darum wurde die
Balfour-Deklaration 1917, mitten im Krieg, ausgesprochen. Denn Großbritannien
passte seine imperialen Interessen geschmeidig dem von den USA ausgehenden
Zeitgeist an. Es ließ sich nach Kriegsende vom Völkerbund, also den USA,
Frankreich und den anderen Siegermächten des Ersten Weltkriegs, ein Mandat
geben, um einer zivilisatorischen Aufgabe von Jahrtausendrang nachzugehen: dem
jüdischen Volk eine nationale Heimstätte in Palästina zu schaffen. Dass die
Durchsetzung dieses Mandats an der rechten Flanke des Suezkanals stattfand, war
dabei nicht eine willkommene Zufälligkeit, sondern Zweck des Unternehmens.
Zionismus: eine Strömung im Judentum
Im Folgenden möchte ich näher darauf eingehen, wie damals, um
das Jahr 1917, sich der Zionismus innerhalb des Judentums darstellte, und im
Weiteren darauf, welche Diskussionen es innerhalb der zionistischen Bewegung
gab.
Zionismus, entstanden im Zarenreich des 19. Jahrhunderts,
verfolgte das Ziel, dem in Europa vielfach diskriminierten und verfolgten
Judentum durch die Gründung eines eigenen Staates zu Selbstbestimmung,
„Normalität“ und moderner Kultur zu verhelfen.
Der Name „Zionismus“ sollte die Kontinuität zur jüdischen
Tradition ausdrücken: Die alte religiöse Sehnsucht nach Gottes Rückkehr zum Berg
Zion in Jerusalem sollte durch diese Bewegung ihre reale Erfüllung finden.
Dessen ungeachtet verstand die große Mehrheit der Zionisten sich damals als
unreligiös oder sogar anti-religiös und als modernisierendes Element innerhalb
des Judentums. Denn die traditionelle jüdische Kultur und Mentalität traf bei
vielen Zionisten auf Verachtung. So wandten sie sich gegen die jiddische
Sprache, die sie als „Jargon“ und Sklavensprache der Diaspora ansahen, und
belebten stattdessen das Hebräisch der heiligen Bücher zu einer im Alltag
gesprochenen Sprache wieder – gegen den heftigen Widerstand religiöser Juden.
Als Anti-Zionisten kann man solche Leute bezeichnen, die
diese Bewegung ablehnen. Viele Juden taten dies – aus ganz unterschiedlichen
Gründen.
1) So argumentierten religiöse traditionelle Juden – so wie
die meisten aus der Familie meines Vaters –, das Judentum sei mitnichten eine
politische Bewegung eines „Volkes“, sondern vielmehr eine Religion, deren Gebote
und Verbote zu befolgen sind: Die Zionisten profanierten eine spirituelle Frage;
Emanzipation und Selbstbestimmung lägen allein in Gottes Hand.
2) Der damals modernen Kultur offener gegenüberstehende Juden
– so wie die meisten aus der Familie meiner Mutter – wandten hingegen ein, das
Judentum sei eine Religion wie jede andere auch. Man könne nicht loyaler Bürger
zweier Staaten sein. Emanzipation sei daher individuell im Rahmen des jeweiligen
Staates zu erreichen, in dem man als Bürger lebe. Diese Ansicht war nicht auf
"assimilierte" deutsche Juden beschränkt. Ihr individuelles Glück zu suchen war
offensichtlich auch das Lebensmotto der Hundertausende von Juden aus dem
Zarenreich, die sich auf die Auswandererschiffe nach Übersee zwängten.
3) Ähnlich, aber weniger individualistisch, argumentierten
jüdische Sozialisten, vor allem im „Bund“ („Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund
in Litauen, Polen und Russland“), dass die Emanzipation der Juden im jeweils
eigenen Land erfolgen müsse – als nationale Gruppe mit einer eigenen Kultur und
der eigenen gesprochenen Sprache, dem Jiddischen. (Der Bund wurde nach der
Oktoberrevolution von den herrschenden Bolschewisten als "rechtsabweichende"
Sozialdemokratie zerschlagen.)
4) Andere jüdische Sozialisten sahen die Herkunft als weniger
wichtig an: Die Unterdrückung der Juden sollte als ein "Nebenwiderspruch" durch
eine Gesellschaft freier und gleicher Menschen automatisch beendet werden. Für
eine solche Lösung arbeiteten zum Beispiel Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Eduard
Bernstein, Rosa Luxemburg, Trotzki, Kaganowitsch, Simonjew, Kamenew, Ernest
Mandel, Bruno Kreisky und viele andere.
In meinen Augen sind alle diese Ansichten – Religiosität,
Zionismus, individuelle Emanzipation, Emanzipation als Gruppe, Emanzipation der
ganzen Welt – richtig und falsch zugleich. Jede dieser Ansichten habe ich
geteilt, jeder dieser Ansichten habe ich widersprochen und beides tue ich immer
noch. Irgendeine dieser Ansichten in eine Schublade namens „Anti-Zionismus“ zu
stecken, ist nur möglich, wenn man die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse,
Freund und Feind einteilt – kurzum: wenn man nur bis zwei zählen kann.
STRÖMUNGEN IM ZIONISMUS
Zionismus hat, wie vorhin gesagt, das Ziel, den Juden durch
einen eigenen Staat zu Selbstbestimmung, "Normalität", eigener Kultur und
Sprache zu verhelfen. Die Geschichte des Zionismus ist eine Geschichte der
Auseinandersetzung über dieses Ziel. Es mag überraschen: Leute, die den
Jüdischen Staat als Ziel ablehnten, bildeten Führung und Rückgrat der
Zionistischen Bewegung.
Dieser Konflikt wurde auch in Berlin ausgetragen. Ein Hinweis
darauf befindet sich nicht weit vom Bahnhof Zoologischer Garten, in der mit
schönen Berliner Gründerzeithäusern bebauten Meinekestraße, quer zum
Kurfürstendamm. Das Haus mit der Nummer 10 gehörte seit 1925 der „Jüdischen
Rundschau“, dem Zentralorgan der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Die
Gedenktafel am Haus weist darauf hin, dass diese Vereinigung rund 50 000
Menschen zur Auswanderung verhalf. Die meisten dieser Menschen werden wohl nach
Palästina gegangen sein, in die „Jüdische Heimstätte“ unter britischer
Herrschaft.
Chefredakteur der „Jüdischen Rundschau“ war von 1919 bis 1938
Robert Weltsch. Er emigrierte 1938 nach Palästina, lebte und arbeitete nach dem
Krieg in England und starb 1982 in Israel.
Interessant ist, was dieser überzeugte Zionist Weltsch vom
jüdischen Staat hielt. Er lehnte ihn ab! In seinem Essay von 1951 „A Tragedy of
Leadership“[3]
schildert er, dass dies 1917-1948 die entscheidende Streitfrage in der
zionistischen Bewegung war, und insbesondere zwischen großen Teilen der Bewegung
und ihrem Führer, Dr. Chaim Weizmann.
Bei diesen Auseinandersetzungen zwischen der Führung und der
aktiven Mitgliedschaft der zionistischen Bewegung ging es um das Verhältnis
zwischen den nach Palästina einwandernden Juden und den dort ansässigen Arabern.
Weizmann und die anderen offiziellen Vertreter der zionistischen Bewegung
betonten immer wieder, „dass die Juden nicht nach Palästina kämen, um die Araber
zu dominieren; und sie erklärten feierlichst zu vielen Anlässen, dass kein
Araber aus dem Land vertrieben werden sollte“. „Weizmanns Formel in den Jahren
des scharfen Konflikts in der Folge des arabischen Aufstands von 1929 war …,
dass ‚die Juden nicht dominieren wollen und nicht dominiert werden wollen’.
Praktisch, wenn nicht sogar wörtlich, bedeutete dies […] [das] Programm eines
bi-nationalen Staats, wo beide Gemeinschaften gleiche Rechte und innere
Autonomie haben würden.“
Dies war bis 1942 die offizielle zionistische Position,
unterstützt insbesondere von den Aktivisten des „Friedensbundes“ (Brit Schalom)
um Martin Buber, dem auch Weltsch angehörte. Tatsächlich teilten viele Zionisten
diesen Standpunkt nicht aus vollem Herzen – ohne dies jedoch laut auszusprechen.
Dafür bedurfte es des mutigen und begabten Ultra-Nationalisten Wladimir Se'ev
Jabotinsky, der das aussprach, was andere nicht zu denken wagten: „Nur
Jabotinsky sagte offen schon auf dem Kongress von 1921, dass Palästina nicht mit
dem Einverständnis der Araber zu besiedeln sei und dass Amerika eine Wildnis
geblieben wäre, wenn die weiße Besiedlung vom Einverständnis der Indianer
abhängig gewesen wäre.“ Tatsächlich war dies so sensationell nicht. Die vom
US-Präsidenten Wilson 1919 eingesetzte King-Crane-Kommission zu Palästina hatte
klipp und klar erklärt, dass das Ziel eines jüdischen Staats nur mit massiver
Gewalt gegen die ansässige Bevölkerung zu erreichen sei – sie schätzte, dafür
sei eine Truppenstärke von 50.000 Mann erforderlich –, und hatte deswegen davon
abgeraten, das zionistische Projekt zu unterstützen. Jedoch wollte sich die
Mehrheit der zionistischen Bewegung 1921 nicht mit solchen unangenehmen
grundsätzlichen Fragen befassen. Vielmehr zeigte sich der Zionistenkongress über
diesen Vergleich entsetzt: „Niemand akzeptierte Jabotinskys Argumentation, dass
das ganze Unternehmen letztlich militärisch sein würde.“ Innerhalb der
zionistischen Bewegung wurden Wladimir Jabotinsky und seine Anhänger fortan als
„Revisionisten“ tituliert.
Die Frage nach dem Umgang mit den Arabern wurde dann
allerdings doch von dem ansonsten stets diplomatisch auftretenden Weizmann zur
Entscheidung gebracht, und zwar in Berlin: „Die Sache kulminierte auf dem
schicksalhaften Treffen des zionistischen Generalrats in Berlin im August 1930
[…] Weizmann, provoziert durch die Tiraden der Revisionisten, erklärte
unverblümt, dass die Umwandlung Palästinas in einen Jüdischen Staat […]
unmöglich sei, da wir die Araber nicht vertreiben könnten und wollten. […] Die
Araber, sagte er, seien ‚so gute Zionisten wie wir’: auch sie liebten ihr Land
und könnten nicht überredet werden, es jemand anderem zu überlassen. […]
Weizmanns Rede in Berlin wirkte als Bombe, obwohl diese Dinge schon lange
debattiert worden waren. Niemals zuvor war dieser Aufruf zum Realismus mit
solcher Autorität und so klar formuliert worden; es gab kein logisches Argument
dagegen […] [Trotzdem] protestierten die meisten Diskussionsteilnehmer sofort
gegen Weizmanns Worte.“
Vermutlich speiste sich dieser Protest aus der gleichen
Quelle wie das Unbehagen über den radikalen Jabotinsky im Jahr 1921: Man
wünschte sich nicht mit dem unangenehmen moralischen Dilemma
auseinanderzusetzen, dass die Zionisten – in ihrem Selbstverständnis die
emanzipatorische Vorhut eines diskriminierten Volkes – ihre Ziele am besten mit
aggressiver Landnahme und Vertreibung eines anderen Volkes durchsetzen könnten.
Weltsch schildert dann die Ereignisse, die 1931 zur Abwahl
Weizmanns führten. (Weizmann selbst schweigt sich in seiner Autobiografie dazu
weitgehend aus): "Am Vorabend des 17. Kongresses in Basel 1931 gab Weizmann der
Jüdischen Telegraphen-Agentur (JTA) ein Interview, in dem er sich offen gegen
die Idee wandte, einen Jüdischen Staat als das Ziel des Zionismus zu
proklamieren. Laut JTA sagte er, 'die Welt wird diese Forderung nur in eine
Richtung deuten: dass wir eine Mehrheit erlangen wollen, um die Araber zu
vertreiben.' Das Interview löste einen Sturm der Entrüstung aus, und ein
Misstrauensantrag wurde gestellt. Kurioserweise waren die zionistischen
Parteien auf zweifache und widersprüchliche Weise schockiert. Zum einen lehnten
sie Weizmanns Implikation ab; zum anderen sprachen sie jedoch zugleich strikt
gegen jede Politik aus, die Restriktionen gleich welcher Art beinhalten würde,
die eine Vertreibung der Araber von vornerein ausgeschlossen hätte."
Die Argumentation des ehrlichen Ultra-Nationalisten
Jabotinsky erschien den meisten zionistischen Aktivisten zu Recht als zu
radikal, und so wurde Weizmann vier Jahre später, 1935, wieder zum Vorsitzenden
gewählt. Jabotinskys Programm aber wurde vom Vorsitzenden der jüdischen
Vertretungskörperschaft im britischen Mandatsgebiet Palästina durchgeführt –
auch wenn dieser der gemäßigten sozialdemokratischen Mehrheitslinie angehörte:
„Nun tauchte ein neuer Gegner aus den Reihen der Partei auf“, so Weltsch, „die
immer Weizmanns loyalste Unterstützer war, in der Person von Herrn David
Ben-Gurion, der offen Weizmann während des Krieges 1939-1945 und auf dem
Kongress 1946 bekämpfte und der seine eigene politische Agenda und den
sogenannten ‚Aktivismus’ organisierte, […] den Dr. Weizmann niemals guthieß.
Bereits 1940 hatte Weizmann praktisch allen Einfluss auf das Geschehen in
Palästina verloren und wurde über die Ereignisse nicht einmal mehr informiert.“
Als Chaim Weizmann 1944 nach Palästina zurückkehrte, musste er erkennen, dass
sich die nationalistische Bewegung von seinem humanistischen Zionismus weit
entfernt hatte.
Weltsch kommt zu dem bitteren Schluss: „Die Wahrheit war,
dass ein Kapitel zionistischer Geschichte zu Ende war. Neue Kräfte waren an die
Oberfläche gekommen, und alle außer einer kleinen Gruppe von Old-Timern waren
überzeugt, dass eine neue Zeit – das barbarische Post-Hitler-Zeitalter des 20.
Jahrhunderts – neue Methoden benötigte, sehr verschieden von dem, was Dr.
Weizmann und seine Freunde befürwortet hatten.“
Was Robert Weltsch resigniert als „Old-Timer“ bezeichnete,
waren meiner Meinung nach die besten Köpfe des Judentums innerhalb der
zionistischen Bewegung, zu denen Chaim Weizmann, sein Mentor Ascher Ginsberg (Achad
ha'Am), Martin Buber und Hannah Arendt zählten. Später gehörten unter anderen
Mosche Scharett, Nachum Goldmann und Uri Avnery dazu. Ihre Zahl war nicht
gering, aber sie bildeten fortwährend die Minderheit.
Diese Minderheit hatte das Pech, den agilen David Ben-Gurion
als Gegner zu haben. Ben-Gurion war seit 1935 als Gegenspieler Weizmanns
aufgetreten. Er hatte Jabotinskys gewalttätiges Programm übernommen und
bereitete bereits 1938 die Pläne zur Vertreibung und Enteignung der Araber vor,
die er dann ab 1947 umsetzte. In der von ihm verfassten Unabhängigkeitserklärung
proklamierte Ben-Gurion einen demokratischen Rechtsstaat mit gleichen Rechten
für jedermann – tatsächlich aber beraubten die Zionisten unter seiner Führung
die arabischen Vertriebenen ihres Besitzes, verhinderten gewaltsam deren
Rückkehr und stellten die Verbliebenen obendrein unter Militärrecht.
Am dunkelsten ist es kurz vor dem neuen
morgen
Man muss sich heute fragen: Wo sind diese kontroversen
Positionen im Judentum geblieben? Wo wächst denn im Judentum das rettende
Kräutlein, um dieses Weltproblem Nr.1 – Palästina & Israel – zu entschärfen?
Ich kenne die Diskussion in Ungarn leider überhaupt nicht.
Was ich weiß, ist wie es in meiner deutschen Heimat ist: Dort, in Deutschland,
wächst das rettende Kräutlein sicher nicht am kräftigsten. Denn das deutsche
Judentum ist tot: ausgerottet und vertrieben. Was wir zur Zeit erleben, ist der
Versuch, dieses Judentum durch die Ansiedlung von Juden aus der Ex-Sowjetunion
neu zu beleben. Diese Menschen sind damit beschäftigt, ihre Identität zwischen
den drei Polen neue Heimat, alte Heimat und Judentum zu definieren; bei der
Erstellung dieses neuen Lebensentwurfs erscheint Kritik an Israels Haltung nicht
als vordringlich.
Am kräftigsten wächst dieses rettende Kräutlein in den USA.
Diese Meinung mag überraschen, denn allgemein redet man ja davon, dass die
jüdische Lobby die Haltung der USA zu Israel bestimmt. Dies ist aber keine
jüdische Lobby, sondern eine zionistische Lobby.
Denn: 1) Weder bestimmen Juden entscheidend die US-Politik,
noch ist 2) die jüdische Bevölkerung der USA mehrheitlich auf der
rechts-nationalistischen Linie des AIPAC ("American-Israeli-Public-Affairs-Committee").
Zu 1): Es ist doch sehr naiv anzunehmen, dass der
großbürgerliche Südstaatenspross G.W. Bush vor allem auf jüdische Berater hörte.
Das waren doch nicht "seine" Leute! Die Wirklichkeit ist möglicherweise
wesentlich schlimmer. Dieser Mann schien doch entscheidend von
fundamentalistisch-christlichen Predigern beeinflusst gewesen zu sein – von
Leuten, die die Evolution der Tier- und Pflanzenwelt bezweifeln und für die
stattdessen eine unumstößliche Wahrheit ist, dass das Volk Israel seine
Herrschaft über seine Feinde errichten müsse, dann werde der Gottessohn Jesus
erneut zur Erde niederfahren, alle Juden würden sich zu ihm bekehren und das
Königreich Gottes auf Erden werde anbrechen. In seinen besseren Stunden mögen
George Bush Zweifel gekommen sein, ob Arik Sharon und Ehud Olmert wirklich
Gottes Werkzeuge auf dem Weg zum Königreich Gottes waren, und manchmal mögen
sich ja auch rational denkende Leute in den Ministerien durchgesetzt haben. In
diesem Gewirr aus Irrsinn und ökonomisch-politisch definiertem nationalem
Interesse agierte dann auch noch das AIPAC - durchaus erfolgreich.
Die Ersetzung Bushs durch die Obama-Administration ist daher
jedenfalls ein Fortschritt. Obama schien zunächst zu versuchen, alle jüdischen
Lobbygruppen abwechselnd zufriedenzustellen, und davon gibt es durchaus mehrere,
die sich widersprechen, wie folgt. Danach hielt er sich einfach raus und wartet
vielleicht auf die richtige Gelegenheit.
Zu 2) Viele Umfragen besagen, dass die Mehrheit der jüdischen
US-Amerikaner gegen die rechts-nationalistischen Ziele ist, die das AIPAC
vertritt: Die Mehrheit war von Anfang an gegen die US-Invasion im Irak, und die
Mehrheit wünscht eine für beide Seiten befriedigende Zweistaatenlösung für
Israel und Palästina. Das AIPAC vertritt mithin nicht die Mehrheit der
US-amerikanischen Juden, sondern lediglich deren nationalistische Fraktion. In
Gegnerschaft zum AIPAC hat sich schon lange eine Reihe von Basisorganisationen
für ein Umdenken eingesetzt. Die größte dieser Gruppen ist Jewish Voice for
Peace, mit ca. 100.000 Empfängern ihrer e-mail-Rundbriefe. In den letzten Jahren
dazugekommen ist J-Street, eine Gruppe, die sich als direkte Konkurrenz zum
AIPAC versteht, nämlich als Lobby-Organisation in Washington für die schweigende
Mehrheit des US-amerikanischen Judentums, für eine Zweistaatenlösung. J-Street
hat 150.000 Unterstützer. Kennzeichnend für das Klima unter jüdischen jungen
US-Amerikanern ist, dass es gerade auch jüdische Aktivisten waren, die an
Kaliforniens Spitzenuniversität Berkeley im März 2010 eine Mehrheit (leider
keine 2/3-Mehrheit) in der studentischen Vertretung dafür gewannen, dass die
Universität keinen Aktienbesitz mehr von US-Firmen haben sollte (General
Electric und United Technologies), die an der israelischen Besatzung des
Westjordanlands profitieren. Dies war keine Eintagsfliege: Das Votum wurde vor
drei Wochen, im April 2013, wiederholt und wird wahrscheinlich praktische
Konsequenzen haben. Jüdische Aktivisten dieser Art sind in Deutschland rar, aber
nicht in den USA. Die U.S. Campaign to End the Israeli Occupation ist ein
Zusammenschluss von 400 großen und kleinen Organisationen (u.a. Jewish Voice for
Peace), hat vier vollbezahlte Funktionäre in der Zentrale (das sind meines
Wissens mehr als bei uns pax christi!), darunter die Jüdin Anna Baltzer und die
Muslimin Ramah Kudaimi, und macht mit kreativen Aktionen Öffentlichkeitsarbeit.
Es sind auch nicht nur jüdische "Graswurzel"-Organisationen,
die die Politik der AIPAC-Lobby ablehnen, es sind genauso einige bekannte
jüdische Mächtige der US-amerikanischen Finanzwelt und Hollywoods (aus denen
nach einem beliebten antisemitischen Vorurteil wir Juden ausschließlich
bestehen). Zum Beispiel Ihr ungarischer Landsmann, der Finanzspekulant George
Soros hat erhebliches Geld investiert, um einer Friedenslösung näherzukommen: Er
war wichtigster Finanzier der "Genfer Initiative", in der 2005 Israelis und
Palästinenser einen kompletten Friedensplan aushandelten: Soros bezahlte unter
anderem die Zusendung des Verhandlungsergebnisses an jeden israelischen
Haushalt. Zum Beispiel James Wolfensohn, Vorgänger des unseligen Bush-Beraters
Paul Wolfowitz als Weltbankpräsident: Wolfensohn investierte 2005, als er Bushs
Sonderbeauftragter für Israels Abzug aus Gasa war, persönlich 500.000 $ in den
Ausbau der Gewächshäuser in Gasa, um dort den landwirtschaftlichen Export
anzukurbeln. Dies war für ihn ein finanzielles Desaster; denn nach Israels Abzug
aus Gasa, der bewusst nicht mit der palästinensischen Seite koordiniert wurde
("wir haben keine Partner für Verhandlungen" war das Mantra der israelischen
Seite), wurden ca. 30% der Gewächshäuser von Palästinensern geplündert und der
Rest durch Israels Blockade von Exporten und Importen seit 2006 ruiniert. Noch
im September 2009 sagte Wolfensohn in einem Interview mit dem britischen "Jewish
Chronicle", die einzige Lösung des Problems, die er sich vorstellen könne, sei
ein vereinter palästinensischer Staat. Solche klaren Worte aus prominentem Munde
mögen in Deutschland rar sein, aber nicht in den USA. Schließlich sei auch noch
Hollywood erwähnt: "Mister Hollywood" ist Steven Spielberg. Alle liebten
Spielberg für seine fantasievollen Filme wie "Der weiße Hai", "E.T.", "Jurassic
Park". Dass er auch etwas zur Zeitgeschichte zu sagen hat, zeigte er mit
"Schindlers Liste"; dafür liebten wir Juden ihn. Dass der Weg Israels, sich mit
immer neuer Gewalt gegen Gewalt zu wehren, ein Irrweg sein könnte, das zeigte er
mit "München"; dafür hassen ihn die jüdischen Rechts-Nationalisten.
AUSKLANG
Kürzlich brachte die FAZ einen Bericht darüber, dass Schüler
in Israel sich zum Gedenktag an die Hitler'sche Judenvernichtung mit
aufklebbaren Auschwitz-Tätowierungen schmücken können. Ich schrieb dazu einen
kleinen Leserbrief, der das Wesentliche zusammenfasst, was ich sagen möchte, und
mit dem ich daher hier enden möchte:
Mein Vater hatte die Auschwitz-Nummer am Arm. Er war ein
Opfer der Nazis. Seine Frau und Kinder waren ermordet worden. Aber er wollte
sein Leben nicht als Opfer führen: Er heiratete eine überlebende junge jüdische
Frau - meine Mutter - und setzte neue Kinder in die Welt. Ich bin kein Opfer,
sondern ein Kind der Hoffnung. Als ich ihn als kleines Kind fragte, was das für
eine Nummer an seinem Arm sei, sagte er "das ist meine Autonummer". Daraus habe
ich mitgenommen: Unser Auftrag als Nachkommen ist, eine bessere Welt aufzubauen,
und nicht, uns einen Opferstatus in Erbpacht aufrechtzuerhalten.
Das ist keine
Frage von geschmackvollem oder geschmacklosem Gedenken, sondern eine
grundsätzliche Frage. Erinnerung an die Vergangenheit ist wichtig. Aber es kommt
nichts Gutes dabei heraus, wenn man Vergangenheit und Gegenwart verwechselt. Das
Judentum und vor allem Israel muss seine heutigen Probleme anpacken, mit
Nächstenliebe und Großmut anstatt mit einem fantasierten Opferstatus.
Erstklassig, in seiner Analyse wie auch
als Zeitzeugnis eines begeisterten Anhänger Weizmanns:
Josef Cohn: England und Palästina: Ein Beitrag zur britischen
Empire-Politik. Kurt Vowinckel Verlag, Berlin, 1931. (Beihefte zur
Zeitschrift für Geopolitik, No.8).
In großem Zusammenhang: Eugene Rogan:
Die Araber: Eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbruch.
Propyläen 2012, insbesondere Kap.6 Teile und herrsche: Der Erste
Weltkrieg und die Nachkriegsordnung
Prägnant: Daniel Cil Brecher: Dr.
Weizmann, es ist ein Junge in Der David – Der Westen und sein
Traum von Israel. PapyRossa, Köln, 2011
Originell: Shlomo Sand: Die Erfindung
des Landes Israel, Propyläen 2012. Insbesondere Teil III: Von der
Wallfahrt zum christlichen Zionismus: Balfour verheißt das Land
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