Bericht von Anja
Reichel, derzeit über das EMS mit EAPPI (www.eappi.org)
in Israel/Palästina
Ausnahmezustand in Hebron
Während die deutschen Medien noch
von Sharons Krankenhausaufenthalt, seinem Luftröhrenschnitt, den
möglichen Folgen seines Ausscheidens aus der Politik berichten,
brennt in Hebron die Luft (und so manches palästinensische
Geschäft).
Am 03.01. hatten 8
jüdisch-israelische Familien, die seit 4 Jahren ein
palästinensisches Haus besetzen, den Räumungsbescheid erhalten.
In diversen Gerichtsverfahren war es ihnen nicht gelungen, ihren
Besitzanspruch zu beweisen. Bis 15.01. wurde ihnen Zeit gegeben,
freiwillig ihre Sachen zu packen und das Haus zu verlassen.
Daraufhin strömten seit Freitag hunderte Jugendliche aus der
radikalen Siedlerbewegung nach Hebron um die Familien im Kampf
gegen diese „Ungerechtigkeit“ zu unterstützen.
Hebron ist ein wenig mit dem
Gaza-Streifen zu vergleichen. Etwa 170.000 Palästinenser
bevölkern die Stadt, es gibt 6.700 Siedler in der angrenzenden
Siedlung Kiryat Arba, 200-500 Siedler leben schwer bewacht in
der Altstadt wo auch unser Hebron-Team arbeitet. Kiryat Arba und
die kleinen Siedlungen im Zentrum haben dazu geführt, dass
Hebron nur teilweise der Kontrolle durch die Palästinensische
Autonomiebehörde unterstellt wurde. H2, der grüne Bereich in der
Karte, untersteht israelischer Verwaltung.
Die kleine Gruppe von Siedlern
in der Altstadt ist äußerst gewalttätig. Unsere Kolleginnen,
die tagtäglich eine Gruppe von etwa 90 Kindern zu ihrer
Schule begleiten, werden wie die Schüler regelmäßig von den
Kindern der Siedler mit Eiern und Steinen beworfen. Sie
werden als Nazis beschimpft, bespuckt, angerempelt. Die
Armee steht meistens unbeteiligt daneben und greift nur
selten ein.
Der Unterschied zu Gaza ist,
dass die Siedler von Hebron ein Dorn in den Augen vieler
Israelis sind. Denn ihre Gewalttätigkeit gegenüber
Palästinensern, Polizei und Armee ist bekannt und spricht
man mit den israelischen Sicherheitskräften in Hebron
bekommt man oft zu hören, für wie unsinnig sie es doch
halten, diese „Radikalen“ mit einem großen finanziellen und
menschlichen Aufwand zu „beschützen“.
Einwohner jüdischen Glaubens hat
es schon immer in Hebron gegeben, und bis 1929 schien das
Zusammenleben mit den Palästinensern auch gut zu
funktionieren. In jenem Jahr kam es zu ersten blutigen
Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern in
Jerusalem, Hebron, Safed und Jaffa. Obwohl zahlreiche
arabische Einwohner Hebrons ihre jüdischen Mitbürger
versteckt hatten kamen bei einem Massaker in der Stadt 67
Juden ums Leben. Die Überlebenden wurden zwangsweise nach
Jerusalem gebracht.
1970 entstand die Siedlung
Kiryat Arba. Zunehmend besetzten nationalreligiöse Israelis
die Innenstadt Hebrons und verdrängten die angestammte
arabische Bevölkerung. Wegen der isolierten Lage in der
Altstadt zog nur der militante Rand der Siedlungsbewegung
dorthin, deren Gewaltbereitschaft im Wechselspiel mit
palästinensischen Terroranschlägen im Massaker von 1994
gipfelte (Wikipedia). Baruch Goldstein, ein religiöser
Fanatiker, tötete damals 29 Muslime, als diese am Grab
Abrahams beteten.
Seitdem kommt es immer wieder zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Siedlern und
Palästinensern in Hebron. Die Geschehnisse der letzten Tage
bilden jedoch einen neuen Höhepunkt, denn zum ersten Mal
griffen die Siedler auch sehr brutal die israelischen
Sicherheitskräfte an.
Am Freitag, den 13.01. wurden
wir, ein befreundeter Palästinenser, dessen Nichte und 3
Mitglieder von EAPPI, von jugendlichen Siedlern mit Steinen
beworfen. Der Vorfall dauerte etwa 5 Minuten, in denen wir
Schutz suchend hinter einem Wassertank hockten. Zwei etwa 20
Meter entfernt stehende israelische Soldaten taten zunächst
nichts, schauten dem Treiben zu bis wir sie schließlich
anschreien mussten, doch endlich einzugreifen. Nachdem meine
Schweizer Kollegin Beschwerde bei der Polizei eingereicht
hatte und wir unsere Zeugenaussagen vorbrachten wurde
zumindest einer der drei Angreifer vorübergehend ins
Gefängnis gesteckt.
Am Samstag, den 14.01.(Shabbat!!!), brach eine Gruppe von Mädchen
durch eine Barriere in den Markt von Hebron ein und
verwüstete einige Stände, bevor die Soldaten sie endlich
unter Kontrolle und zur Siedlung zurück bringen konnten.
In großen Gruppen
begannen die gewalttätigen Jugendlichen
palästinensische Häuser mit Steinen zu bewerfen, ein
verlassenes Haus wurde in Brand gesteckt. Ein
israelischer Soldat wurde am Kopf verletzt.
Randalierende Jugendliche zeigten den Hitlergruß and
sagten den Sicherheitskräften, sie verstünden kein
deutsch. Baruch Marzel, Vorsitzender der Partei
„Jüdisch-nationale Front“ und Vater des jugendlichen
Steinewerfers, den wir ins Gefängnis gebracht
hatten, sagte, die Ausschreitungen seien ein
Resultat der Provokation und der unbegründeten
Gewaltanwendung der Soldaten und Polizisten.
Sonntag, 15.01. Es wurde
bekannt, dass den 8 betroffenen Familien ein
Aufschub gewährt worden war, sie also noch länger
(2-4 Wochen) Zeit haben würden, das Haus zu
verlassen. Unterdessen war es in der Nacht zu
weiteren Ausschreitungen gekommen und der
Polizeichef von Hebron forderte massive Verstärkung
an. Schon am Morgen waren die Jugendlichen wieder
unterwegs. Maskiert zogen sie durch die Straßen der
Altstadt, wieder waren die israelischen
Sicherheitskräfte nur in geringem Maße vertreten.
Der israelische
Verteidigungsminister ordnete an, mit allen
Mitteln gegen die Randalierer vorzugehen. Doch
stattdessen schafften es die Jugendlichen auch
am Nachmittag wieder, in die Altstadt
einzudringen, Steine gegen palästinensische
Häuser zu werfen und 6 verlassene Läden in Brand
zu stecken.
Montag, 16.01. Die
jüdischen Siedlungen in der Altstadt werden zur
„Geschlossenen militärischen Zone“ erklärt.
Wasserwerfer sind aufgefahren, die
Sicherheitskräfte haben die Erlaubnis erhalten,
Tränengas gegen die Jugendlichen einzusetzen.
Junge Siedler, die extra für die Proteste
angereist sind sollen der Stadt verwiesen
werden. 200 zum Teil maskierte Randalieren
bewerfen die Sicherheitskräfte mit Flaschen,
Steinen und Farbbeutel.
Was bleibt nach
diesem Chaos? Irgendwann werden die Familien
ihre Wohnungen räumen müssen, es ist zu hoffen
dass die Randalierer bis dahin nicht noch
größeren Schaden anrichten. Es bleibt aber auch
der fade Beigeschmack, dass die israelischen
Sicherheitskräfte nicht wissen, wie mit ihren
eigenen Leuten, sprich den jüdischen Siedlern,
umzugehen. Während zwei kleine palästinensische
Jungen von maximal 9 Jahren stundenlang von der
Polizei festgehalten wurden, weil ein paar
Siedler sie des Steine Werfens bezichtigt
hatten, können hunderte maskierte Jugendliche
randalierend durch die arabische Altstadt
ziehen, Häuser in Brand stecken, Steine werfen,
Geschäfte verwüsten, ohne dass irgendjemand
wirklich eingreift. Was für eine Gerechtigkeit,
was für eine Demokratie ist das?
Natürlich könnte man
versuchen optimistisch zu sein, ‚kein Problem,
das sind die Tage die jetzt ertragen werden
müssen, aber dafür ist dies nur der Anfang der
kompletten Räumung der radikalen Siedlungen in
der Altstadt von Hebron’. Stattdessen
veröffentlichte die große israelische
Tageszeitung „Haaretz“ heute morgen einen
Artikel über geheime Verhandlungen der
israelischen Sicherheitskräfte mit Vertretern
der Siedlerbewegung. Danach heißt es, wenn die
Siedler dafür sorgen, dass sich die
Demonstranten zurückziehen und der Auszug der 8
Familien friedlich verlaufen kann, werden Armee
und Polizei dafür sorgen, dass die Siedler in
wenigen Monaten legal in die Gegend zurückkehren
können. Legal? Nach internationalem Recht ist
jede Besiedlung besetzter Gebiete illegal!
Ich würde gern noch
etwas Positives schlussfolgern, aber auch nach
längerem Kopfzerbrechen kann ich mich nicht dazu
durchringen. Diese Situation ist für uns nur
eine der Schwierigkeiten, die wir während
unseres 3-6monatigem Aufenthalts zu bewältigen
haben. Die betroffenen Palästinenser tragen
diese Bürde ihr ganzes Leben.
Lese auch:
Fahrt nach Hebron
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