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Ein Tag in Palästina

Kharbatha Bani Harith

 

29.03.2004

Ramallah
Neal
21 Mar 04

Der heutige Tag war ein ziemlich verrücktes Abenteuer, hat aber auch meine Überzeugung gefestigt, wie absolut verrückt die Soldaten hier sind und wie absolut notwendig es ist, daß die Leute ein Ende dieser Mauer fordern und noch wichtiger, ein Ende dieser Besatzung. Es ist erstaunlich, wie schnell einen ein Tag, tatsächlich nur fünf Stunden, nach vorn drängen kann. Heute fühlte ich mich zum ersten Mal gefährdet, mehrere Male ziemlich verängstigt und beschloß sogar, daß ich mir lieber in den Hinterkopf als ins Gesicht schießen lassen würde, aber dazu komme ich später.

Heute Morgen standen wir früh auf, um uns auf den Weg zu einem Dorf namens Kharbatha Bani Harith zu machen, welches, für diejenigen, die Landkarten und Globen betrachten, nahe der "Grünen Linie" und in der Reihenfolge unter Tulkarem, dann unter Budrus Deir Qaddis, dann sollte es dort in der Nähe zu finden sein [Anm.: das Dorf liegt fast auf gleicher Höhe mit Ramallah].

Wir kamen nach einer 45-minütigen Fahrt über die schlechtesten Straßen, die ich je erlebt habe an, es erinnerte mich an den äußeren Strand von Orleans, nur daß die Straßen hier von tiefen Furchen durchzogen sind, entstanden durch Regenwasser und Jahren ohne Straßenausbesserungsarbeiten. Ich war froh, nicht viel gefrühstückt zu haben, da mir andernfalls vermutlich schlecht geworden wäre. Unser Fahrer hielt in der Nähe der Baustelle an, die 150 Meter entfernt, eine Baustellenzufahrt durch Olivenhaine entlang, lag. Viele Frauen und Kinder gingen an uns vorbei, weg von der Demonstration, was für gewöhnlich ein schlechtes Zeichen ist und das Geräusch von abgefeuerten Gasbehältern wurde durch den stechenden Geruch und die geröteten Wangen von Leuten, die weinten, weil sie zu viel von dem Gas eingeatmet hatten, bestätigt, als wir näher kamen.

Nachdem wir den Olivenhain durchquert hatten, sahen wir eine Gruppe von 100 Dorfbewohnern auf einem Stück frisch planiertem Ackerland sitzen, denen ein Bulldozer ungefähr 15 Meter entfernt gegenüberstand. Da wir die anderen ISM-Mitglieder, die eigentlich dort sein sollten, nicht sahen, entschieden wir uns, uns zu der Gemeinschaft zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt war es 08:15 Uhr. Ich war für die rechtliche Seite und die Medienarbeit verantwortlich und stand wie üblich etwas weiter hinten. Die Demonstration fand auf flachem Land am Fuße eines Hügels rechts von uns statt. Auf dem Hügel waren Jungen, die zwecklos Steine in die Richtung der Soldaten warfen, während die Soldaten sie mit Gas und Gummigeschossen beschossen. Bei der Demonstration hatten sich die Menschen auf ihr Land gesetzt und ein größerer Teil der Gemeinde stand weiter hinten, außerhalb der Reichweite des Gases.
 
Innerhalb der nächsten Stunde beschlossen die Soldaten drei Mal, die Menge mit Schlagstöcken anzugreifen. Jedes Mal wenn sie den Sitzenden näherkamen, rannten die Palästinenser und die ISM-Mitglieder von hinten zu ihnen, um ihnen so Verstärkung zu geben. Die Soldaten schlugen einige Leute, es gab etwas Geschubse und dann schließlich eine heikle Pattsituation zwischen beiden Seiten. Nach 5 bis 10 Minuten des gegenseitigen Anstarrens rannten die Soldaten so schnell sie konnten zurück zu ihren Jeeps und wenn sie sie erreicht hatten drehten sie sich um und feuerten mit Gummigeschossen auf die stehenden Menschen. Nachdem dies das erste Mal geschehen war wurden wir schlauer und als wir sahen, wie die Soldaten zu ihren Jeeps rannten, drehten wir uns ebenfalls um und liefen weg, in der Hoffnung, eine Deckung zu finden, bevor sie sich umdrehen und zu schießen beginnen würden. Und während wir liefen blieb eine Gruppe von 150 Menschen sitzend oder liegend auf ihrem Land.

Beim ersten dieser Abläufe wurde auf mich geschossen. Ich versuchte, auf dem Boden zu liegen und wegzukriechen, als mich ein Gummigeschoß hinten am Oberschenkel traf. Zum Glück trug ich Baggypants und ich glaube, ich habe nicht einmal eine Schramme. Ich gab die Kugel dem neben mir liegenden Mann als ein Andenken und dann lachten wir beide zusammen. Dann ging ich weiter und versteckte mich hinter einem Haufen Steine, während weitere Gummigeschosse über unsere Köpfe hinwegpfiffen - eindeutig kein guter Tag, um über die Steine hinweg nach Soldaten Ausschau zu halten!

Während wir uns hinter den Steinen versteckten kamen 8 israelische Aktivisten, alle ungefähr in meinem Alter, mit einem Megaphon. Wir sprachen kurz über die Situation und dann gingen sie weiter vorwärts, während der Rest der Menge mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag und hoffte, nicht von einer Kugel getroffen zu werden. Der Kommandeur der Armee hob seinen Schlagstock in die Luft, senkte ihn dann und alle Soldaten feuerten gleichzeitig. Daraufhin gab es verletzte und Sanitär begannen zu laufen. Manchmal schossen die Soldaten zuerst mit Gas und wenn die Menschen versuchten, ihm zu entkommen, wurden sie ins Visier genommen - diese ganze Erfahrung war ziemlich entnervend.

Kurz nachdem die israelischen Aktivisten gekommen waren, wurde einer von ihnen, mit einer blutigen Binde um den Kopf, plötzlich auf einer Bahre hinter mich zu den Krankenwagen gebracht. Ich stand noch mit mehreren seiner Freunde, als sie bemerkten, daß einer ihrer Freunde verletzt worden war und liefen hinter ihm her. Ich fand später heraus, daß man ihm zwischen die Augen geschossen hatte und daß er sich in kritischer Lage im Krankenhaus befindet. Später sollte ein Augenspezialist zu ihm kommen, der herausfinden sollte, ob er eines seiner Augen oder sein Augenlicht verlieren wird. Ich werde Ihnen die restlichen Details ersparen, da sie schwer zu ertragen sind und ich denke, es reicht, um eine Vorstellung zu bekommen.

Heute wurden über 37 Menschen verletzt. 30 von ihnen erlitten Verletzungen oberhalb der Hüfte, verursacht durch Gummigeschosse, einschließlich 5, unter anderem eine alte palästinensische Frau, die am Kopf getroffen wurden. Gleichgültig aber, wie viele Palästinenser verletzt worden sind, die Verletzung des israelischen Aktivisten wird die größte Meldung sein. Ich will damit nicht sagen, daß es nicht wichtig ist, daß die Soldaten jemand sehr ernst verletzen, den sie eigentlich mit ihrer Uniform und ihrer sogenannten "Sicherheits"-Mauer verteidigen sollen. Aber mir scheinen die Verletzungen der Palästinenser ebenso wichtig. Aber so ist es nunmal, Schüsse auf gewaltfreie Demonstranten und ein bißchen Tränengas und ich akzeptiere, daß das eine eine größere Nachricht ist als das andere.

Um 10:35 Uhr begannen ungefähr 50 Soldaten und Grenzpolizisten Ausländer mit Ferngläsern auszumachen und fingen mit ihren letzten Vorbereitungen für ihren großen, gewalttätigen Vorstoß in die Menge an. Warum? Ich bin nicht sicher, da niemand verhinderte, daß die Arbeiten weitergingen. Und dann plötzlich ging es los, zuerst mit einigen Knallgranaten, die meisten direkt auf eine Gruppe junger Frauen gefeuert, die zusammensaßen und sangen. Sie begannen zu laufen, ich sah viele über die Steine stolpern als mehr Granaten und dann Tränengas abgefeuert wurden. Die Soldaten bewegten sich sehr schnell auf mich zu und ich wollte hingehen und den Frauen helfen, aber mir wurde klar, daß ich dabei verhaftet werden würde. Ich drehte mich um und begann, zu den Olivenhainen zu laufen als die Gummigeschosse begannen zu fliegen und mir wurde schnell klar, daß ich inmitten der Steinewerfer gelandet war, die jetzt begonnen hatten, Steine auf die gewalttätigen Soldaten zu werfen. Dann begannen die Soldaten, ungezielt in die Olivenhaine zu feuern. Ich versuchte, in eine sicherere Gegend zu laufen, aber die Kugeln kamen weiter und ich konnte nicht die schießenden Soldaten sehen, nur die Kugeln, die praktisch aus dem Nichts kamen, durch Olivenzweige und dann pfiffen sie einem am Kopf vorbei.
Ich erreichte schließlich, was ich für einen sicheren Ort hielt und dann kam eine Kugel durch die Zweige genau auf mich zu, ich sah sie und versuchte instinktiv, meine Hüften aus ihrer Richtung zu bewegen und so traf sie mich am Hintern und killte mein Mobiltelephon, das in meiner hinteren Tasche war. Ein älterer Mann begann, nach einem Arzt zu rufen, was mich tatsächlich glauben ließ, ich wäre schwer verletzt, aber ich schaute nach und da war kein Blut und so sagte ich, daß es mir gut ginge, was auch stimmte. Ich war wirklich ziemlich beeindruckt, daß ich es in dem Sekundenbruchteil, in dem ich das Ding kommen sah, schaffte meinen Körper zu bewegen und so die Wirkung der Kugel auf meinen Körper abzuschwächen und Mann, bin ich froh, daß die Kugel nicht höher flog.

Die Armee jagte uns weiter durch den Olivenhain, überall flogen Kugeln umher, alle die Art von mit Plastik überzogenem Stahl. Ich machte mir Sorgen um meine Freunde, aber alle bis auf einen konnten entkommen. Eine wurde von Polizisten mitgenommen, aber sie wurde gerade entlassen, nachdem sie einige Papiere unterschrieben hatte und ist jetzt wieder zurück in der Wohnung.

Ich wünschte, ich könnte dem Tag eine lustige Wendung geben, aber ich kann nicht. Es war einfach schrecklich. Ich denke am meisten über die Schußwunden oberhalb der Taille nach, weil dies dort ist, wohin man zielt, wenn man jemanden ernsthaft verletzen will und der Gedanke, daß geschossen wurde, um gewaltfreie Menschen ernsthaft zu verletzen, die zusammengekommen waren, um zu verhindern, daß ihr Ackerland zerstört wird, scheint unfassbar. Es ist fast, als würden die Soldaten den Einsatz erhöhen und die Palästinenser zu mehr Gewalt bringen wollen. Ich weiß es nicht. Ich bin dankbar, daß ich heute nicht ernsthaft verletzt worden bin und ich bin glücklich, daß ich durch meinen Ausdruck der Solidarität den gleichen Risiken gegenüberstand wie die Palästinenser. Ich bin nicht hierhergekommen um mich in Gefahr zu begeben, aber dadurch, daß sie gesehen haben, daß wir uns alle für sie diesen Gefahren ausgesetzt haben und daß ich als Amerikaner von einer amerikanischen Waffe, die von US-Steuergeldern finanziert worden ist, angeschossen wurde, muß gegen die Propaganda, die in unseren beiden Ländern über einander existiert und die gegenseitigen Gefühle wirken. Ich habe mich schon sehr lange nicht mehr so gefährdet gefühlt und ich mußte mir heute viele Gedanken darüber machen. Es geht mir jetzt gut und mir ist klar, daß sich die Menschen hier noch viel schlimmerem gegenübersehen - und viel regelmäßiger - aber es ist immer alles relativ zur eigenen Erfahrung und dieser Tag war wie kein anderer meines bisherigen Lebens. Ich liebe Euch alle und mir geht es wirklich gut und ich bin glücklich, wieder in Biddu zu sein, ich werde bald mit Euch reden und hoffe weiterhin, daß sich die Dinge hier ändern werden und der morgige Tag für uns sicherer werden wird.

Original:
http://www.palsolidarity.org/reports/writings/21Mar04_04_03_59RamallahNeal.htm

Kharbatha Bani Harith: shot twice today, but I’m ok – and one of the lucky one

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