Die 8. Chanukkakerze – in
Bilin
David Shulman, Ta’ayush – Ha-Campus-Lo Shotek 1.1.06/
Gush Shalom
Wir
klettern den breiten schmutzigen Pfad hinunter ins Wadi,
dann einen sanften Hang wieder nach oben. Schwere Laster
voll mit Felsen und Erde fahren an uns in beiden Richtungen
vorbei und wirbeln Dreck auf. Bulldozer sitzen phlegmatisch
auf dem Hügel uns zur Rechten; immer wieder fahren sie mit
fürchterlichem Lärm an. Ein paar Augenblicke beobachten wir
sie, wie sie mit ihren großen Schaufeln den Hügel
bearbeiten. LKWs fahren die Trümmer weg. Es ist wie eine
riesige Baustelle, voll mit Drahtzäunen, Bauhütten, Wächter
und gelangweilten Soldaten in ihren Jeeps. Zwischen zwei
tiefen Gräben an der Oberfläche des Wadis liegt noch ein
grüner Grasstreifen und stehen ein paar alte Olivenbäume,
die letzten Zeugen der Terrassenlandschaft und felsigen
Felder, auf denen noch Ziegen und Hirten verweilen. Dies
wird alles weggerissen, um die riesige Siedlung,
Modiin-Illit auf der einen Seite und die Mauer auf der
anderen Seite zu bauen.
Wir
können die Mauer selbst nicht sehen, die dem Lauf des
nächsten Wadi im Osten folgt. Wir können aber klar die
Häuser von Bilin und die Moschee sehen, dort wo wir im
letzten September mit den Soldaten zusammenstießen. Und
wohin wir jetzt gehen, das ist wieder Bilin – obwohl diese
Felder auf der falschen, der israelischen Seite der Mauer
liegen, genauer gesagt, sind sie in dem Gebiet, das Israel
annektiert, um Raum für die weitere Ausdehnung von Modiin
Illit zu schaffen. So wie es jetzt aussieht, wird Bilin 62%
seines historischen Landes verlieren. Es geht hier nicht um
Sicherheitsbelange, sondern wie jeder weiß, allein um
Landraub. Die einzige Hoffnung ist, dass der Oberste
Gerichtshof, der über einen Appell vom 1.Februar entscheiden
soll, die Regierung zwingt, die Mauer 2-3 km weiter
westlich verlaufen zu lassen, näher an der Grünen Linie.
In
der Zwischenzeit haben sich die Leute von Bilin
bemerkenswert kreativ bewiesen. Wie einer der alten Dorfbewohner mir gegenüber
stolz und in seiner blumigen Sprache sagte: „Bilin ist die
Nummer eins unter den palästinensischen. Dörfern. An
jedem Freitag morgen begann Woche für Woche der fast
feierliche gewaltfreie Protest der Dörfler und die
gewaltsame Unterdrückung durch die Armee - immer wieder
von neuem. Es waren mehr als 30 solcher Demonstrationen. Bis
jetzt wurden mehr als 300 Dörfler verletzt. 20 von ihnen
sind noch im Gefängnis. Bis jetzt ist es ein beständiges,
familiäres, letztlich tragisches Drama. Aber vor zwei
Wochen geschah etwas Neues: die Leute von Bilin
schafften es, einen Wohnwagen auf den Hügel zu befördern,
auf dem wir jetzt stehen – jenseits der Mauer. Sie
nannten dies einen „illegalen Außenposten“, den berüchtigten
von israelischen Siedlern benützten Terminus, wenn sie
wieder ein Stück Palästinas an sich gerissen hatten.
Hunderte solcher Außenposten sitzen oben auf den Hügeln der
Westbank; trotz ihres Versprechens gegenüber den
Amerikanern, sie wegzuschaffen, hat weder die Armee noch die
Regierung sie je angetastet. Einige von ihnen stehen nun
seit Jahren dort. Bilins „Außenposten“, der auf vom Dorf
gestohlenen Land steht und mit Genehmigung des Biliner
Gemeindeamtes, wurde natürlich von Soldaten überrannt und
innerhalb von 36 Stunden demoliert und abgeholt.
Mit erstaunlicher Ausdauer
kamen – genau vor einer Woche - die Dorfbewohner mit einem
2. Wohnwagen. Mit Schmunzeln erzählt uns Muhammad die
Geschichte, als ob er ein leicht ironisches, selbst
parodierendes Heldenepos zitieren würde. Als die Soldaten
der Zivilverwaltung ankamen, um den 2. Wohnwagen zu
entfernen, fragten die Dörfler sie, warum die jüdischen
Siedler illegal bauen dürften, ohne Genehmigung, völlig
unbestraft ( dazu auf Bilins Land), während Bilins
Außenposten sofort zerstört wird . „Aber dies sind doch
richtige Gebäude,“ antwortete der Bürokrat der
Zivilverwaltung und zeigte zu den großen Wohnungsblöcken in
Modiin-Illit – von denen jeder wusste, dass sie illegal
sind. „Wie definiert man denn ein Gebäude?“ fragten die
Biliners. Der Bürokrat antwortete hochmütig: „Nun, vier
Mauern, ein Dach und mindestens 10 qm und ein Fenster.“ „Was
würde denn geschehen, wenn ihr morgen hier genau so etwas
vorfinden würdet?“ fragten sie. „In diesem Fall müsste man
nach dem Gesetz 10 Tage warten, damit der Besitzer Einspruch
erheben kann, bevor man es abreißt .“
Das genügte. Es war eine
kalte, regnerische Nacht, und alle Wege und Terrassen waren
aufgeweicht. Aber die Leute von Bilin waren wild
entschlossen, ein Haus zu bauen – obwohl sie wussten, dass
es früh um 8 Uhr vollkommen fertig sein muss . Es war keine
einfache Sache, die Zementpacken und das andere Baumaterial
vom Dorf über das Wadi, an den Sicherheitsleuten vorbei und
auf der anderen Seite wieder nach oben zu befördern. Ein mit
Baumaterial beladener Wagen blieb im Schlamm stecken, und
sofort kamen die Sicherheitsleute sehr argwöhnisch herbei.
Die Dörfler redeten sich irgendwie heraus und schafften es
dann doch, bei strömendem Regen den Wagen rauszuziehen und
alles auf den Hügel zu befördern. Vielleicht half ihnen
letzten Endes der Sturm. Sie mussten noch drei oder vier
Touren im Dunkeln machen, während eine kleine Gruppe wie
wild während der Nacht arbeitete. Um 3 Uhr standen die
Mauern - nun fehlte noch das Dach – doch Zement würde bei
dem Regen nicht trocknen. Aber nach ein paar Stunden gab es
trotz allem ein Dach. Plötzlich wurde ihnen klar, dass sie
kein Fenster hatten. Es war nach der Definition nötig. Also
rannten sie zum Dorf zurück, klopften an eine Tür und
entschuldigten sich aufgeregt beim Besitzer, lösten ein
Fenster aus seinem Rahmen, um es im neuen Gebäude
einzubauen. „Es tut uns leid, dass wir dein Haus ruinieren,
aber wir brauchen wirklich dringend ein Fenster!“
Hier steht es nun, das
nicht all zu imponierende „Zentrum für gemeinsamen Kampf“
mit seinem welligen Dach, seinen grauen Mauern und - Gott
sei gepriesen – auch mit einem eigenen Fenster. Eine
Palästinenserin ruhte sich auf einer Matratze aus. Ziegen
grasten unter den Olivenbäumen. Ein junger Mann im
Rollstuhl schwätzte mit einem israelischen Mädchen,
vielleicht mit einer der „Anarchistinnen für Frieden“, die
von Anfang an bei dem Kampf Bilins dabei war. Nicht so weit
weg beobachteten Soldaten diese bunt gemischte Gruppe von
israelischen Friedensaktivisten, um die Chanukkakerzen in
Bilin anzuzünden. Ich studierte unterdessen, was in die
Zementblöcke eingraviert war und langsam dämmerte mir, dass
es ein Teil eines wohl bekannten Liedes der berühmtesten
israelischen Liedermacherin - eine der Ikonen der Rechten -
Naomi Shemer, und ins Arabische übersetzt war: „Willkommen
in der Bilin-Schule, willkommen in der 1. Klasse: hier wurde
ich geboren. Hier werden auch meine Kinder geboren. Hier
habe ich mein Haus mit meinen eigenen Händen gebaut.“ Was
hätte zionistischer sein können als diese Worte? Tatsächlich
ist das ganze Unterfangen eine bissig ironische
Wiederholung der klassisch zionistischen Art von Homa u
Migdal, „Mauer und Turm“ – die Methode mit der über Nacht
eine Siedlung nach der anderen in den hitzigen 30er Jahren
aufgebaut wurde – angesichts der heftigen Opposition der
britischen Mandatspolizei. Man sage nur nicht, dass die
Völker nichts von einander gelernt haben! Ich traf den
Graveur Fadi, der stolz auf seine Gravour war. Irgend jemand
habe ihm Naomi Shemers Lied diktiert, das hierher passt.
Dann nahm er mich auf die andere Seite des „Hauses“ und
zeigte mir die Fortsetzung: „Hier ist es, wo ich sein
werde.“
Können wir hoffen, dass
dies wahr wird? In weniger als einer Woche ist die
Gnadenfrist vorüber. Es ist sehr wahrscheinlich, dass
dieses kleine Zeichen von Hartnäckigkeit und menschlichem
Glauben von der Armee zerstört werden wird. Vielleicht
können wir sie auch mit legalen Mitteln stoppen. Eine Sache
ist klar: die Leute von Bilin lassen sich angesichts des
überwältigenden Staatsterrors nicht einschüchtern. Da kommt
Wajih, ein kräftiger Mann mit Bart. Er erzählt mir seine
Geschichte. Die Mauer hat ihm 62 (62.000 m²) Dunum Land
genommen. Er hat 5 Söhne. Der Älteste, Ran ist der, der im
Rollstuhl sitzt. Er wurde von der Hüfte abwärts bei einer
gewaltfreien Demo zu Beginn der Intifada in Ramallah durch
eine israelische Kugel gelähmt. Ein anderer erhielt bei
einer Demo in Bilin eine Kugel in den Kopf. Zwei andere
Söhne wurden auch von Soldaten verwundet. Wajih selbst bekam
den Splitter einer Panzergranate ab; er zeigt mir die Narbe
unter dem Bart. Der 5. Sohn ist im Gefängnis und wartet auf
die Gerichtsverhandlung. Dann hat er noch 5 Töchter. Jonatan
fragt ihn, wie er das durchhalten kann: „Es ist nicht so
schlimm. Ich habe noch ein kleines Stückchen Land und ein
paar Ziegen.“ Er ist voller Energie. Er ist eifrig dabei,
einigen Israelis, die heute kamen, etwas arabisch
beizubringen . Er bietet jeweils am Freitag ein oder zwei
Stunden vor den Tränengas- und Gummikugelattaken der
israelichen Soldaten israelischen Friedenskämpfern
arabischen Sprachunterricht an.
Nun ist es fast Zeit, die
Kerzen anzuzünden. Ein großer etwas rudimentärer
Chanukiya-Kandelaber war schnell aus 2m langen
Bewässerungsrohren konstruiert worden und wir sammelten uns
drum herum, um die Worte zu hören: Uri Avnery beginnt: „
Vielleicht ist es seltsam, dass wir heute an einem jüdischen
Feiertag heute hier Kerzen anzünden. Es ist Chanukka
–Nacht, das Fest des Lichtes, das Fest der Freiheit. Das
Land auf dem wir stehen, ist das Land der Makkabäer. Hier
in Modiin auf genau diesen Hügeln haben die Makkabäer ihre
große Revolution begonnen. Sie wurde ein weltweites Symbol
für den Kampf gegen Unterdrückung, Besatzung und
Ungerechtigkeit. Wenn wir uns heute fragen, wer ist
Antiochus, der Unterdrücker, und wer sind die Makabäer –
dann ist die Antwort sehr einfach: Israel ist Antiochus und
diejenigen, die gegen die Besatzung kämpfen, die
Palästinenser und die Israelis sind die Makkabäer. Bilin ist
das palästinensische Modiin. Wir sind hier, um diesen
Kampf zu unterstützen. Wir wollen euch nicht alleine lassen,
bis ihr wirklich frei seid“.
(Antiochus
Epiphanes war der griechische König von Syrien, gegen dessen
tyrannische Regierung die Makkabäer vor 2174 Jahren
rebellierten.)
Dann nahm Muhammed das
Mikrophon. Er danke uns fürs Kommen. „Wir sind davon
überzeugt, dass dies der einzig richtige Weg ist, den Kampf
gegen die Besatzung zu entfalten. Deshalb haben wir dieses
„Zentrum für gemeinsamen Kampf“ errichtet. Wir sehen die
Israelis nicht als unsere Feinde. Unser Feind ist die
Besatzung. Wir wollen die Besatzung los werden. Wir
wollen niemandem physisch weh tun, weder den Siedlern, noch
den Soldaten – aber wir werden nicht nachgeben.. Wir hoffen,
dass von diesem Platz, wo wir jetzt stehen, die große
Revolution beginnen wird, die Revolution der Friedenskräfte,
der israelischen wie der palästinensischen.“ Er sagte uns
noch, dass unter uns ein anonymer Unterstützer sei, ein
Ultra-Orthodoxer von Modiin-Illit – ein Siedler, der vom
Kampf der Biliner so bewegt sei, dass er in der langen
regnerischen Nacht kam und beim Bau des „Hauses“ mitgeholfen
hatte. Er erzählte uns die Geschichte dieser Nacht.
Nun ist es Zeit, alle 8
Kerzen anzuzünden. Ich habe in meinem Leben schon viele
Chanukka- Leuchter angezündet fast 2500 – grob gezählt.
..Ich dachte immer, dass es etwas sei, das wirkliche
Bedeutung für uns Juden hat. Ich glaube, ich hatte nicht
recht. Aber heute Abend flackerte für einen kurzen
Augenblick auf dem steinigen Hügel hier mitten unter
Olivenbäumen, Ziegen, dem behinderten Sohn, den
bescheidenen Männern und Frauen von Bilin und dem
anspruchslosen „Zentrum für gemeinsamen Kampf“ der kindliche
Traum wieder in mir auf.
Leute traten, als sie an
der Reihe waren, ein Licht anzuzünden, ein wenig verlegen
nach vorne, um ein paar Worte zu sagen:
„Ich zünde heute dieses
Licht für all die Kämpfer an, die gegen die Besatzung und
die Unterdrückung sind, wie die Makkabäer, die Söhne
dieses Bodens waren.“
„Ich zünde das Licht gegen
Ungerechtigkeit und Diskriminierung an, im Geiste der besten
spirituellen Führer des Judentums aller Zeiten.“
„Ich entzünde ein Licht an
gegen die Hooligans, die palästinensische Bäume zerstörten
und Oliven stahlen und die in den letzten Jahren viele
palästinensische Häuser zerstörten, und die so die Ehre
Israels beschmutzten.“
„Ich entzünde dieses Licht
zu Ehren des Staates Israels - innerhalb der Grünen Linie -
an, einem Staat, für den Freiheit und Gerechtigkeit hohe
Werte sind.
„Ich entzünde das Licht
für menschliche Würde und Menschenrechte .“
„Ich entzünde ein Licht für
die Liebe aller Menschen – wo immer sie sind.“
„Ich entzünde das Licht als
Protest gegen die Siedler an, die schamlos palästinensisches
Land stehlen.“
Der letzte ist ein Mann
aus Bilin, der einen Text auf Arabisch liest:
„Ich zünde dieses Licht im
Namen der Freundschaft unserer beider Völker an, die beide
Kinder dieses Landes sind !“
Als der Himmel ganz dunkel
war, brannten alle 8 Lichter am Chanukka-Kandelaber.
(dt. Ellen Rohlfs )
Der Autor ist ein renommierter israelischer
Professor der Geisteswissenschaften sowie Aktivist
der Anti-Besetzungsorganisationen Ta’ayush und
Hacampus-lo-shotek