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Der
Richter der Kinder
Aya Kaniuk und Tamar Goldschmidt , 1.1.11
Es stimmt, im militärischen Gerichtshof selbst
werden Palästinenser weder erschossen noch
geschlagen. Sie sind nicht das Ziel von
Eliminierung, noch werden sie zum Tode verurteilt –
wenigstens nicht im Gerichtssaal. Aber das
militärische Gericht ist auch der Ort, wo alle
Illusionen sterben. Und die Hoffnungen. Weil es
dort ist, wo Palästinenser begreifen, dass die ihnen
verursachte Verletzung kein Irrtum war, kein
Missverständnis, sondern eine Angelegenheit der
Taktik ist. Dort erfahren sie, dass das Gesetz in
bezug auf Palästinenser nichts anderes als eine
Waffe ist. Eine von vielen: Panzer und Flugzeuge,
Splitterbomben und Checkpoints, Trennungsmauer und
Weißer Phosphor und der IOF-Sprecher.
Das Militärgericht ist das Ende vom Ende. Das letzte
Gericht. Die letzte Anklage, von vornherein – für
die Palästinenser, nur weil sie Palästinenser sind.
Und der Gerichtsraum Nr.2, wo die Kinder vor Gericht
stehen, ist der Platz jenseits dieses Endes. Der
Platz, wo alle Worte enden.
Nur zwei Familienmitgliedern ist es erlaubt, beim
Prozess anwesend zu sein. Dies ist gewöhnlich die
einzige Zeit, wo sie kommen können, um ihren Sohn zu
sehen und sie tun es. Ein ums andere Mal. Sie
können Zigaretten mitbringen und Geld für den langen
Tag, der sie erwartet. Sonst nichts. Kein
Medikament, keine Papiertaschentücher, keine
Lebensmittel, oder ein Buch oder eine Zeitung. Wir,
den Besuchern, die wir keine Palästinenser sind, ist
es erlaubt, ein Notizbuch und einen Schreibstift
mitzubringen; aber keine Tempotaschentücher. Wir
haben hier keine Privilegien.
Vielleicht deshalb, weil Tempotaschentücher ein
Beweis dafür sind, dass es hier etwas zum Weinen
gibt; der Staat Israel ist nicht bereit, seine Taten
mit Namen zu nennen, an deren Ende das Weinen
liegt….
Einem Mann gelang es, eine Rolle Toilettenpapier
hineinzuschmuggeln. Anscheinend tief in seiner
Kleidung versteckt, wagte er, Toilettenpapier zu
verstecken. Nun ging er von Frau zu Frau und gab
jeder einzelnen von ihnen , allen Müttern ein
Blatt, damit sie bereit sind, wenn die Tränen
kommen. Als er uns auch eines gab, waren wir
beschämt, denn wir hatten weder einen Ehemann noch
einen Sohn im Gefängnis. …
Schließlich waren wir doch froh, etwas zu bekommen.
Weil einem an diesem verfluchten Ort nichts übrig
bleibt, als zu weinen …
Gerichtsraum Nr.2 Das Kindergericht. Jeden Montag.
Auf dem Podest sitzt Richterin Sharon Rivlin Ahai.
Von 9 Uhr früh bis etwa 6 Uhr abends kommt ein
Junge, ein Kind nach dem anderen dran. Sie tragen
braune Gefängniskleidung. Füße gefesselt, die Hände
in Handschellen, eine Hand mit der Hand eines
anderen Jungen gefesselt. Einige von ihnen sind so
klein, dass ihre Füße beim Sitzen den Boden nicht
berühren. Einige sind so klein, dass wir wegschauen.
Die meisten von ihnen werden wegen Steine-werfens
oder Molotowcocktails angeklagt Die meisten von
ihnen werden nicht gegen Kaution freigelassen; sie
wurden auch nicht in der Gegenwart eines
Erwachsenen, eines Elternteils oder eines
Sozialarbeiters verhört. Die meisten von ihnen
werden mitten in der Nacht verhaftet. All dies sind
Verletzungen des Internationalen Rechts zur
Verteidigung der Kinder, sogar jener unter
Besatzung. Die meisten von ihnen werden nach einer
Denunziation , meist von einem andern Kind, das auch
mitten in der Nacht verhaftet wurde, verhaftet. Und
die meisten geben zu, wenn auch nicht gleich, dann
später, weil man ihnen rät, zuzugeben.
Zuerst spricht der Ankläger, dann der Richter, die
Verteidigung, der Dolmetscher, zuletzt noch einmal
der Richter. Tarak Mohammads Vater schreibt auf
seine Handfläche die Telefon- Nummer von zu Hause,
um sicher zu gehen, dass der 13 jährige Sohn sich an
sie erinnert und sie kennt. Die Mutter weint, das
Kind auch. Nun seit drei ein halb Monaten in Haft.
Fürs Steine werfen. Seine Untersuchungshaft wurde
schon sieben oder acht mal verlängert. Die nächste
Gerichtsverhandlung ist für den 3. Januar
festgelegt. Der Vater gibt ihm noch zu verstehen,
dass er seine Haare schneiden solle und stark
bleiben wie ein Mann. Ich möchte nicht hier sein, wo
die letzten Worte gesprochen wurden, bevor er
hinausgeführt wird und die Mutter ihr Gesicht
bedeckte.
Zwei andere Kinder werden in den Gerichtssaal
hereingeführt. Sie werden neben einander gesetzt.
Der Gefängniswärter nimmt ihnen die Handschellen ab.
Die Füße bleiben gefesselt.
Einer der Jungs ist Bilal Sami Matar, 14, schon
seit einem halben Jahr in Haft. 21 Kinder und
Jugendliche wurden in jener Nacht im
Kalandia-Flüchtlingslager verhaftet, auch er. Einige
Jungen gaben ihre Namen an.
So geschieht es gewöhnlich. Ein Kind wird wegen
diesem oder jenem Grund verhaftet. Ihm wird gesagt,
gib uns 15 Namen und wir lassen dich gehen. Zunächst
sagt es , auf keinen Fall. Schließlich gibt er ihnen
Namen. Gewöhnlich sind es die Namen der Jungs, die
er kennt, manchmal auch von Jungs, denen er nie
begegnet ist, nur damit die verlangte Zahl an Namen
voll wird. Und schon ist der Handel zwischen dem
Ankläger und dem Verteidiger gemacht und damit auch
die Anklageschrift.
Weil er schließlich zugibt wie jeder andere auch,
egal ob er die Taten wirklich ausgeführt hat, deren
er angeklagt wird.
Selbst wenn er es tat, wie können die
Besatzungsmächte denn wissen, ob er einen Stein
geworfen hat oder nicht? Nur weil es einer gesagt
hat?
Aber anscheinend ist dies völlig egal. Hauptsache,
die Macht kann niedertrampeln. Es gibt noch mehr
Mittel, Kollaborateure zu rekrutieren. Hauptsache
ist, brutal zu sein: zu zerdrücken und
einzuschüchtern …
Die erste Verhandlung wegen Verurteilung wird auf
den 10. Januar verschoben. Keiner ist dagegen. Nicht
einmal das Kind. Es hört nicht hin. Auch seine
Eltern nicht. Sie genießen nur die letzten
Augenblicke einander zu sehen und ein paar Worte
auszutauschen; denn es sind die einzigen
Augenblicke, in denen sie sich seit Monaten gesehen
haben. Und schließlich geschieht doch alles ohne
Rücksicht auf den Jungen und seine tatsächlichen
Taten.
Wie geht’s zu Hause? Fragt der Junge seine Eltern.
Sie sind es schon gewohnt, einige Meter von einander
weg mit einander zu reden, solange der Polizist sie
nicht daran hindert, einander zu sehen. …
„Lernst du?“ Fragt ihn sein Vater mit autoritativer
Stimme. „ Jeden Tag“, antwortet Bilai. „Grüßt alle!“
sagt er noch. Bevor er wieder durch die Hintertür
vom Gefängniswärter hinausgestoßen wird. Er wirft
ihnen noch einen Handkuss zu und verschwindet.
Draußen bricht die Mutter in Tränen aus.
Zwei andere Jungen werden hereingebracht. Ein Name
wird laut gelesen: Mu’amin Omar Asad. Er steht auf.
Es wird einiges gesagt, etwa fast dasselbe, wie beim
vorigen Jungen, über das Steine-werfen, Schleudern,
Vorbereiten, Gesucht .. Demonstriert – so wie der
junge Denunziant gesagt hat. Dann gibt ihm der
Dolmetscher die Anklageschrift in die Hand. Wieder
ein hebräisches Formblatt; eines von vielen, das er
seit seiner Verhaftung erhalten hat, um es zu
unterschreiben, ohne zu wissen, was darin
geschrieben steht. Nachdem er dies erhalten hat,
zeigt die Hand des 14-Jährigen wie automatisch auf
seine Eltern, die nur wenige Meter von ihm entfernt
sitzen….deren Gesichter aschfahl werden.
Wird nicht schuldig gesprochen. Nicht im Augenblick.
Die nächste Gerichtssitzung wird festgelegt auf in
zwei Wochen.
Ein Junge nach dem andern kommt herein, ihre Namen
werden gelesen, sie erheben sich, setzen sich
wieder. Ein anderer Gerichtstermin wird festgelegt
oder eine neue Verhandlung zwischen Ankläger und
Verteidiger. Der Dolmetscher spricht, der Ankläger,
der Richter, der Verteidigungsanwalt ..“vergiss
nicht zu beten“, sagt der Vater zum Kind, das mit
dem Kopf nickt. …bald kehrt das Kind wieder in die
Dunkelheit zurück. Die Mutter weint darüber, dass er
nur so ein dünnes Hemd trägt. Der Junge tut dies mit
einem Lächeln ab und versucht erwachsen und tapfer
auszusehen. Dann wird ihm gesagt, aufzustehen. Es
sind Wörter die die Luft und das Herz zerreißen. Er
erhebt sich. Die Augen der Eltern sind noch einmal
auf die Kette zwischen seinen Füßen gerichtet .. Er
hält seine kleinen Hände hin, damit der Polizist sie
mit der Hand eines anderen Gefangenen fesseln kann.
Zusammen werden sie so hinaus geführt.
23 Kinder und Jugendliche wurden an diesem Tag vor
Gericht gebracht. Die meisten bekannten sich zu den
Taten, die ihnen schon beim ersten Verhör
vorgeworfen wurden oder beim zweiten. Nur wenige
bekennen sich im Gerichtssaal selbst. Die wenigen,
die zunächst nicht schuldig gesprochen werden,
werden es gewöhnlich später. Sie bekennen sich, weil
sie Angst haben. Bedroht werden. Weil sie Kinder
sind. Weil ein Urteil auf Grund einer Denunziation
sehr schwer widerlegt werden kann. Weil speziell das
Militärgericht die Denunziation als eine Tatsache
ansieht. Und wenn sie bekennen – so wird ihnen
gesagt - dann würde die Gefängnisstrafe erleichtert
werden, und manchmal würden sie nur so viele Monate
Gefängnisstrafe bekommen, die sie schon abgesessen
haben.
Auf jeden Fall sucht das Gericht nicht nach der
Wahrheit, kann es auch nicht mit solchen Mitteln.
Und wenn sie nicht bekennen – so wird ihnen gesagt –
werden sie viel länger im Gefängnis bleiben. Drum
bekennen sie sich schuldig.
Es ist schwer, etwas über diesen schrecklichen Ort
zu sagen, der schlimmer ist als andere Orte. Welche
Finsternis ist finsterer und schmerzvoller. Ist es
die der Mütter und ihrer gebrochenen Herzen? Oder
die Hilflosigkeit der Väter, dessen Kind verlassen
ist, und er nicht die Macht hat , es zu schützen?
Ist es der Schrecken der Kleinen, das Gefühl, dass
dies ein verlorenes Spiel ist, bei dem sich niemand
um die Wahrheit bemüht. Mag es sein, wie es ist,
dieses System befähigt niemanden, die Wahrheit
herauszufinden. Dass dies kein wirkliches Gericht
ist, sondern nur ein weiteres Werkzeug der
Besatzung. Wo Palästinenser schuldig sind, solange
nicht das Gegenteil bewiesen ist - und selbst wenn
das Gegenteil bewiesen wird. Sie sind schuldig, weil
sie Palästinenser sind.
Ist es das unerträgliche Gefühl eines Kindes und
dann eines anderen und noch eines und die leeren
Augen der verschiedenen Besatzungskräfte. Das gut
aussehende Soldatenmädchen mit seinen langen,
gepflegten Haaren, das genau zwischen der Mutter
und dem Jungen steht, damit sie sich nicht sehen
oder Worte wechseln können … und der Polizist,
dessen Blick faul und leer ist, der die meiste Zeit
auf sein Handy schaut, ob er eine Nachricht bekommen
hat, während neben ihm Schicksale entschieden werden
… Oder ist es die Richterin mit ihrem freundlichen
Gesicht, die nicht zum Himmel schreit und sich nicht
schämt und protestiert gegen das, was sie im Dienst
für ihr Land tut. Wie sie ruhig dasteht angesichts
dieser seltsamen Anklagen, 13 jährige Kinder, die
vielleicht einen Stein geworfen haben, vielleicht
auch nicht .. die mitten in der Nacht verhaftet
wurden. Oder sich nicht wundern, dass jeder bekennt
und trotzdem Monate vergehen, bis das Urteil
gesprochen wird, dass sie nicht gegen Kaution
freigelassen werden, dass sie bis zum Ende der
Verhandlungen im Gefängnis sitzen: drei, vier,
sechs, acht Monate und mehr, egal welche Anklage es
war, egal, ob es ein Kind ist, dass es da nie
Unschuldige gibt; dass jede Stimme eines
Armeemannes eine glasklare Sache ist und jedes
belastende Zeugnis auch, glasklar. Aber nicht die
Leugnung. Die Leugnung ist niemals glasklar . Noch
die Behauptung, dass das Bekennen mit Gewalt
erreicht wurde.
Dass ich etwas unterzeichnete, das ich nicht
verstand. Dass ich Angst hatte; das ich
zusammengeschlagen wurde. Dass ich es nicht getan
habe, nein ich tat es nicht.
Sogar wenn man zu den Kindern kommt. Ihre leugnenden
Worte werden als lächerlich angesehen, reine
Zeitverschwendung. Das ändert sich, wenn das Kind
und seine Eltern erfahren, dass egal, was er tat
oder nicht getan hat – sein Schicksal ist besiegelt.
Und das System gibt ihm nicht die Möglichkeit, sich
selbst zu verteidigen. Dass es besser ist zu
bekennen. Und das ist es dann auch, was gewöhnlich
getan wird.
Und so kommt ein Kind nach dem anderen dran. Alles
scheint ihr und den andern Richtern vernünftig. Acht
Monate und sechs … und außerdem noch 5000 Schekel
zahlen.
Dieses Strafgeld sind schließlich immer die
Gerichtsgebühren. Immer mehr Geld muss von denen
gezahlt werden, die gar nichts haben. Dann muss der
Sohn eben noch einige Monate sitzen …
Ein Kind kommt in einem kurzärmeligen t-Shirt an und
zittert vor Kälte. Es scheint fünfzehn zu sein,
sieht aber viel jünger aus. Er weiß nicht, wer sein
Anwalt ist. Keine Eltern. Er beißt auf seinen
Fingernägeln herum, lutscht an seinem Daumen, er
blickt zerstreut und ängstlich. Er wird wegen
Steine-werfens angeklagt. Der Anwalt Samara nimmt
sich seiner an.
Ich beantrage die Verschiebung dieses Falles, um die
Verhandlung am 13. des nächsten Monats fertig zu
machen, sagt die Richterin.
Der Polizist hat dem Kind schon die Handschellen
umgelegt, das aufsteht, um wieder hinausgeführt zu
werden. Da fragt die Richterin ärgerlich, warum ist
er nicht angezogen? So ein leichtes T-Shirt bei
diesem kalten Wetter. Wie kann das sein? Ihre
mitleidige Stimme ist an niemanden besonders
gerichtet.
Tatsächlich sollte man sich darüber aufregen, er
friert tatsächlich, Euer Ehren. Aber warum jetzt
dies? Was ist mit dem Überfall mitten in der Nacht,
um ihn zu verhaften? Dass er bis jetzt noch keinen
Anwalt gesehen hat? Dass da kein Erwachsener bei
seinem Verhör anwesend war? Dass seine Eltern nicht
informiert wurden, wo er eigentlich ist? Dass er
auf Grund einer Denunziation verhaftet wurde? Dass
er nicht gegen Kaution entlassen wurde? Dass er
monatelang in Haft war, bevor seine
Gerichtsverhandlung begann?
Und wenn er Steine geworfen hat, woher wissen Sie
das? Ist dies der Weg, es herauszufinden. Kann man
das denn überhaupt herauskriegen?
Und wenn er dies tat, Euer Ehren, ist es dies, was
er verdient?
Würde dies geschehen –Euer Ehren - wenn dies ein
jüdisches Kind wäre, das Steine geworfen hat?
Eine Antwort ist nicht nötig, Euer Ehren, die
Antwort ist klar.
Aus dem Hebr.
übersetzt: Tal Haran - 1.1.11
Aus dem Engl.
übersetzt und gekürzt: Ellen Rohlfs
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