Der palästinensische Gandhi
von Ran Ha Cohen
www.antiwar.com
„Wo ist der
palästinensische Gandhi!" ist eine übliche Frage, besonders im Ausland.
Man wird diese Frage nicht oft in Israel hören ( und dann höchstens mit
dem unvermeidlichen, selbstgerechten Achselzucken) Denn nach allem betet
die israelische Kultur selbst die Gewalt an. Das semantische Feld „Krieg"
ist das umfangreichste in der modernen hebräischen Sprache mit
Militarismus als Staatsreligion und mit der volkstümlichen Weisheit, die
in Faustregeln ausgedrückt ist , wie „Wo mit Gewalt nichts erreicht wird,
versuche mit mehr Gewalt!" Aber Amerikaner lieben das Gandhi-Argument.
Während ihre Regierungen Israel gigantische militärische Hilfe geben,
übersetzen private Amerikaner – wie der Schauspieler Ben Kingsley - mit
den besten Absichten den Film Gandhi ins Arabische und zeigen ihn überall
in den besetzten Gebieten, um den Palästinensern ein Beispiel zu geben.
Die Absichten des „Gandhi-Projektes" müssten edel sein. Und obwohl das
Völkerrecht und die Internationalen Konventionen unzweideutig das Recht
besetzter Völker anerkennen, gegen ihre Besatzer auch Gewalt anzuwenden –
genau wie Guerillakämpfer es unter der Naziherrschaft getan haben - muss
die Antwort auf die Frage, ob Gewalt oder Gewaltfreiheit ihrer Sache
besser dient, den Palästinensern selbst überlassen werden.. Da gibt es
natürlich mehrere überzeugende Argumente, um den gewaltfreien Widerstand
aufzugeben. Am meisten hat Israel (aus ihrer Gewalt) Nutzen gezogen, indem
es die Palästinenser als „Terroristen" bezeichnete, was die Anwendung
seiner gewaltigen militärischen Überlegenheit gegen sie legitimierte.
Wenn das „Gandhi-Projekt" jedoch
wirklich hilfreich sein soll, dann habe ich eine bessere Idee für dieses.
Statt dies in den besetzten Gebieten zu zeigen, sollte man überall in
Amerika die ganze Filmlänge der Demonstration, die kürzlich im
palästinensischen Dorf Bilin stattfand, zeigen. Diese Filmmeter können den
Amerikanern helfen, die Realität der von ihren Steuern gut ausgerüsteten
und reichlich finanzierten Besatzung zu erkennen. Das wäre eine
dringendere Aufgabe, als die Palästinenser über den verstorbenen indischen
Führer aufzuklären. Sie würden auch auf eine ungewöhnliche Lösung des
Rätsels „Palästinensischer Gandhi" hinweisen:

Gestern
ketteten sich Palästinenser an ihre Olivenbäume im Dorf Bal'een, um israelische
Bagger davon abzuhalten, diese Bäume ihres Dorfes zu entwurzeln, damit der Bau
der landraubenden Apartheidmauer vorbereitet werden kann
(Assafir, 05.05.2005).

Israelische Besatzungssoldaten verhaften palästinensische und israelische
Friedensaktivisten, die gestern gegen den Bau der landraubenden Apartheidmauer
beim Dorf Bal'een in der Westbank protestierten
(Annahar, 05.05.2005).
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Die Bilin Demo Bilin ist ein kleines
Dorf in den besetzten Gebieten. Die Apartheidmauer wächst mit großer
Geschwindigkeit hinter dem wirksamen Rauchschirm des „Abzugsplanes" auch
bei Bilin, berührt fast die Häuser und schneidet das Dorf von seinem Land
ab. Diese Ländereien werden der illegalen Siedlung von Kirjat Sefer
zugeschlagen, das schon auf dem Land der umliegenden Dörfer gebaut wurde.
Es ist von ultra-orthodoxen Juden bewohnt. (Dem zionistischen Staat gelang
es sogar, Teile dieses traditionellen, nicht-zionistischen jüdischen
Sektors für sein koloniales Projekt zu mobilisieren). Am Donnerstag, den
28, April, nahmen etwa 1000 Palästinenser und etwa 200 israelische Gäste,
die von den Bewohnern Bilins eingeladen worden waren, an einer Demo gegen
die Mauer teil. Alle Teilnehmer waren sich im voraus darin einig, jede
Gewalt zu vermeiden, egal ob sie den Gandhifilm gesehen hatten oder nicht.
Aber noch bevor die Demo den Bereich der Mauer erreichte, wurde sie schwer
von israelischen Sicherheitsdiensten angegriffen, die sie - ohne jegliche
Provokation - mit Tränengasbomben attackierte. Unter den Demonstranten
waren der palästinensische Minister Fares Kadduri, der
Präsidentschaftskandidat Mustafa Barghouti, Uri Avnery und der israelische
Knessetabgeordnete Barakeh, der während dieses Angriffs verwundet wurde.
Die friedliche Demo wurde für israelische Spezialeinheiten eine
willkommene Gelegenheit, mehrere Demonstranten mit der letzten Erfindung
zu verletzen, die hier zum ersten Mal eingeführt wurde: besonders
schmerzhafte, mit Salz bedeckte Plastikkugeln . Der sogenannte jüdische
Genius kennt keine Grenzen.
Die israelische Armee diskriminiert
sich selbst Man könnte sagen, bis jetzt fast nichts Neues. Gandhi
versprach nie, dass die Briten keine Gewalt anwenden würden: er
propagierte den gewaltfreien Aufstand trotz der britischen Gewalt.
Tatsächlich hat die Provokation der isr. Armee nicht funktioniert und die
Demo blieb hier gewaltfrei. Was aber als Nächstes geschah, wird in Haaretz
am 29.4. berichtet: „Während des Zusammenstoßes mischten sich
Undercoverleute unter die Demonstranten und begannen, Steine gegen die
Soldaten und die Polizei zu werfen, sagten Demonstranten. Die
Undercoverleute hatten die Polizei und Soldaten „provoziert", das Feuer
mit Gummi ummantelten Kugeln und Tränengasgranaten zu eröffnen. Die
Demonstranten sagten , sie hätten keine Steine gegen die Soldaten und die
Polizei geworfen." Die erwähnten „Undercovereinheiten" sind israelische
als Palästinenser verkleidete Soldaten, die sich unter die Menge mischten.
Solche Kräfte – in arabischer Sprache, Sitten und Gebräuchen gut trainiert
– wurden von Israel schon während der ersten Intifada in den späten 80ern
oft als Todesschwadronen eingesetzt, um „gewünschte" Personen – also
unerwünschte Palästinenser – umzubringen. Nun hören wir, dass diese
israelischen Undercoversoldaten Steine werfen. Nun kann man ja sagen:
„Demonstranten sagten". Demonstranten können viel sagen. Wer sagte denn,
dass solche Undercoversoldaten in Bilin waren? Sie waren wie Araber
gekleidet, wie kann man das dann behaupten? Selbst wenn Undercoversoldaten
dort waren, kann ich denn den Anschuldigungen von Demonstranten glauben?
Ok, das sind Pluspunkte. Aber höre, was der im Dienst befindliche Offizier
Haaretz gegenüber dazu sagen musste: „Die militärischen Quellen ... fügten
hinzu, dass die Undercovereinheiten mit dem Steinewerfen erst begonnen
haben, nachdem palästinensische Jugendliche diese Taktik übernommen
hatten. „Steine-werfen von Undercovereinheiten ist also ein Teil der Art
und Weise, in der bei solchen Vorfällen operiert wird." lautete die
Quelle.
Also Undercovereinheiten waren
tatsächlich in Bilin anwesend – die Armee hat es selbst zugegeben.
(Tatsächlich ist es sehr einfach, Undercoversoldaten auszumachen, wenn sie
mit dem Verhaften beginnen) Und sie warfen nicht nur Steine bei dieser
Gelegenheit: Steine werfen ist ein Teil ihres Jobs als Regel – die Armee
sagt es selbst. Der einzige Streitpunkt ist, ob sie mit dem Steinewerfen
begannen bevor oder nachdem Demonstranten es taten. Man denke darüber
nach! Warum – um Himmels willen – soll ein Undercoverprovokateur Steine
werfen, nachdem Demonstranten es taten? Man nenne mir einen Grund!
Offensichtlich hat der isr. Offizier ( von Haaretz als Leutnant Tzahi
identifiziert) an diesem Punkt gelogen.
Wir haben nun eine klare
Bestätigung, was palästinensische und israelische Friedensaktivisten schon
lange gesagt haben: die israelische Armee würde einen Widerstand im
Gandhi-Stil gar nicht tolerieren. Irgendjemand in der
Besatzungsbefehlsebene muss den Film von Ben Kingsley, lange bevor das
„Gandhi-Projekt" lief, studiert haben und zu der Überzeugung gekommen
sein, dass gewaltfreier Widerstand nicht im Interesse Israels ist. Um
diese Bedrohung zu hintertreiben, verwendet Israel Soldaten, deren Aufgabe
es ist, eine friedliche Demo in eine gewaltsame zu verwandeln, indem
Undercoverleute eingeschmuggelt werden, die dann auf israelische Soldaten
Steine werfen. Während der Demo benützt die Armee dann die Steine als
Vorwand, die Demo mit Gewalt zu brechen: mit Tränengas, Salz, Gummikugeln
und scharfer Munition . Im Nachhinein wird dieses Steinewerfen, das von
Armeefotografen festgehalten wurde – und sie haben das Steinewerfen ihrer
Kameraden sicher nicht verfehlt – in den Weltmedien als Propaganda
benützt, um die friedlichen Demonstranten als gefährliche Steinewerfer
darzustellen.
Das Problem ist also nun eines der
Täter und nicht der Opfer: es ist Israel – es sind nicht die
Palästinenser. Nicht die Palästinenser sollten den Gandhi-Film ansehen.
Sie kämpften während der 1. Intifada mit Steinen, und es wurde ihnen mit
israelischen Kugeln geantwortet. Sie kämpften während der 2. Intifada mit
Waffen, und Israel antwortete mit Panzern, Bulldozern und Flugzeugen. Nun
haben sie mit einer 3. Intifada, einem allgemeinen, unbewaffneten,
gewaltfreien Kampf gegen den abwürgenden Zaun begonnen , - und israelische
Undercoversoldaten antworten mit Steinewerfen und wollen, dass wir
glauben, die Palästinenser hätten es getan.
Es gibt Tausende von
palästinensischen Gandhis dort: ganze Dörfer, die täglich gewaltfrei gegen
den Raub des Landes und ihres Lebensunterhaltes demonstrieren. Doch leider
werden ihre Stimmen nicht gehört – weil die israelischen
Undercovereinheiten Steine von innerhalb dieser friedlichen Demos werfen
und weil die Kommentatoren und Filmschauspieler verwundert fragen: „Wo ist
der palästinensische Gandhi?