Wahrheit und Hoffnung
Reuven Moskovitz
Liebe Freundinnen und Freunde, diesen Brief habe ich geplant, Euch als
Ostergruss zu schicken, aber seit den "Auschwitz-Trauerspielen" in New
York, Auschwitz und Jerusalem befinde ich mich mehr in einer
Karwoche-Stimmung.
Es
ist erschreckend, wie es gelingt, die Weltfriedensorganisation und die
wichtigsten Politiker der Welt vor den
Wagen - vollgeladen mit einer schrecklichen Lüge - zu spannen, um sich
hinter der schrecklichsten Wahrheit in der menschlichen Geschichte,
Auschwitz!!!, zu verstecken. Ich weiss, wie schwierig es insbesondere für
lebens-, friedens- und menschenliebende Deutsche ist, diese Zeilen zu
lesen. Ich habe jedoch inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass ich noch
ernsthaft zu einem wahrhaftigen Frieden zwischen meinem Volk und meinem
palästinensischen Nachbarvolk beitragen kann. Was ich aber kann, ist die
Wahrheit, meine Wahrheit, denjenigen zu sagen, die sich noch engagiert für
einen Frieden einsetzen, der für beide Seiten einigermassen erträglich
sein kann.
Das Wort "Wahrheit" ist viel gelobt, aber auch von vielen misbraucht
worden. Das ist oft sehr bitter für die Menschen, die ernsthaft versuchen,
der Wahrheit zu dienen. Was sich seit knapp 60 Jahren im Nahen Osten
abspielt, kann ich nur als einen kollossalen Triumph der Lüge bezeichnen.
Der ermordete amerikanische Präsident Lincoln behauptete, dass es
unmöglich sei, für längere Zeit die ganze Welt zu betrügen. Meine
israelischen Machthaber sind seit 60 Jahren mit diesem Versuch
erfolgreich. Bush und seine neo-konservative Gruppe versuchen es –
ebenfalls seit mehr als 4 Jahren erfolgreich. Während die westeuropäischen
Politiker die Weichen so stellten, dass das erste Mal seit Jahrhunderten
60 Jahre Frieden in Europa herrscht, haben meine Politiker noch vor der
Staatsgründung die politischen Weichen so gestellt, dass dies nur zu
Kriegen, Not, Mord und Zerstörung führen.
Man kann die Augenbrauen hochziehen und fragen, warum schreibt Reuven
Moskovitz diese hoffnungslosen Zeilen gerade jetzt, da es scheint, als ob
die Entscheidung der israelischen Knesset, den Rückzug aus dem
Gazastreifen in die Tat umzusetzen, einen Schimmer der Hoffnung bringt.
Hoffnung aber hat klare und feste Voraussetzungen. Sehr oft zeigt sich in
der Geschichte, dass die Hoffnung in die Irre führt, wenn sie im Dienste
von Politikern instrumentalisiert wird, die eine hoffnungslose Politik
betreiben. Man kann nicht von einen "hoffnungsvollen" Rückzug aus dem
Gazastreifen reden, während man fieberhaft agiert, um grosse Teile der
Westbank zu annektieren und dann für die Palästinenser ein grosses
Gefängnis im Gazastreifen und in mehreren palästinensischen Enklaven oder
Gefängnissen in der Westbank bleiben werden. Das ist die Absicht von Ariel
Sharon und stellt damit die viel gerühmte Roadmap als einen grauenhaften
Witz dar.
Der
Schimmer der Hoffnung kann sich nur bewahrheiten, wenn mindestens die EU,
UNO, Russland (drei Viertel vom Quartett) eindeutig und nachhaltig darauf
bestehen, dass die berühmte Vision von Bush - als Roadmap bezeichnet - ein
Palästina-Staat in den Grenzen von 1967 bedeutet, wobei ohne Zweifel Ost -
Jerusalem die Hauptstadt von Palästina ist. Hierfür sind gegenseitig
akzeptierte Änderungen notwendig und nicht das, was heute offensichtlich
in der Tat in der Westbank läuft: Die Zerstückelung von den 20%, die noch
von Palästina übrig geblieben sind, und - wie öffentlich oft behauptet
wird - die Annektion von mehr als 50% davon durch Israel. Von Jerusalem
wird in den Kreisen, die Israel heute regieren, überhaupt nicht geredet.
In diesem Fall von Hoffnung zu reden, ist nichts weiter als
Augenwischerei.
Um zu untermauern, was ich behaupte, wage ich, ein Paar Zitate zu
bringen:
Das erste ist von einem polnischen Dichter - Tadeusz Borowski: " Die
Hoffnung ist es, die den Menschen befiehlt, gleichgültig in die Gaskammern
zu gehen, die sie davon abhält, Aufruhr zu planen; Hoffnung macht sie tot
und stumpf. Hoffnung befiehlt den Müttern, sich von ihren Kindern
loszusagen, den Frauen, sich für ein Stück Brot zu verkaufen, den Männern,
Menschen zu töten. Die Hoffnung treibt sie dazu, um jeden weiteren Tag
des Lebens zu kämpfen, weil es gerade der kommende Tag sein könnte, der
die Freiheit bringt....... Noch nie war die Hoffnung stärker als der
Mensch, aber noch nie hat sie soviel Böses heraufbeschworen wie in diesem
Krieg, wie in diesem Lager. Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung
aufzugeben, deswegen sterben wir im Gas".
Ich weiss, welche Gefahr ich laufe, wenn ich ein Zitat in Bezug auf
Auschwitz bringe. Leider aber vergessen viele, dass die
nationalsozialistische Schreckenherrschaft nicht mit Auschwitz angefangen
hat, sondern mit Pogromen und Judenverfolgung. Pogrome und ‚Lynch‘-Atmosphäre
erleben heutezutage die Palästinenser in der Westbank unter der
"demokratischen" Besatzung der israelischen Armee.
Das ist nicht meine Behauptung, sondern die einer von der Regierung
Beauftragten, bezogen auf die Lage, der die palästinensische Bevölkerung
ausgesetzt ist. Leider versteht man nicht, dass, auch wenn Sharon es mit
der Roadmap oder mit dem Rückzug aus Gaza als erstem Schritt auf dem Weg
zum palästinensischen Staat (was sicherlich nicht der Fall ist) ernst
meint, diejenigen, die auf keinen Fall - sogar auf eine Siedlung im
Gazastreifen oder in der Westbank - verzichten wollen, schon Morgenluft
verspüren. Israel ist heutzutage nicht nur mit Korruption, Gewalt,
Heuchelei und Lügen in der Politik sondern auch mit der Gefahr
konfrontiert, die Teile der Neusiedlungen für die israelische Demokratie
darstellen.
Ein Buch, das vor kurzem in Israel erschienen ist, auf ernsthaften und
gründlichen Recherchen beruht und ein Fiktion darstellen soll, beschreibt
einen grausamen und gewalttätigen Staatstreich, um dem Rückzug aus Gaza zu
vermeiden. Wer ein wenig Ahnung über das hat, was damals in Deutschland
passierte, muss eine solche Gefahr ernst nehmen. In Israel nehmen
ernsthafte Menschen diese Absicht und diese Gefahr auf jeden Fall wahr.
Die gegenwärtige israelische Demokratie ist - ähnlich wie die Weimarer
Republik zu ihrer Zeit – gegen diese Gefahr nicht gefeit.
Ein eigenes Zitat: "Wer einen Frieden im heiligen Land ehrlich wünscht,
muss die schreckliche Wahrheit akzeptieren, dass beide betroffenen Seiten
in der Prüfung der Vernunft scheiterten und keine Kraft haben, sich selbst
aus dieser schrecklichen Lage zu befreien. Ohne energische Hilfe von
aussen können Hass und Sprengstoff, konzentriert im Land der Propheten, im
Lande Jesu, im Land, aus dem "Mohammed in den Himmel aufstieg", jederzeit
explodieren (aus meinem Brief an deutschen Freunde April 1975).
Bedauerlicherweise sind die oben geschriebenen Zeilen noch heute aktuell.
Ohne nachträgliche Mitwirkung von Europa hat der Frieden zwischen uns und
den Palästinensern keine Chance. Die gegenwärtige Situation gefährdet den
Frieden und die Stabilität im ganzen Nahen Osten und höchst wahrscheinlich
auch in Europa, wenn man die öffentlichen Pläne in Bezug auf Iran und
Syrien einbezieht.
Die Weichen, die den Nahen Osten in einen Wirbel von Gewalt,
Blutvergiessen und Zerstörung führten, sind schon von Ben Gurion vor knapp
60 Jahre gestellt worden.
"Die Weisheit Israels ist die Weisheit, wie Krieg zu führen ist und nichts
anderes", schreibt Ben Gurion am 8. Januar 1948.
Ein paar Jahre danach schreibt der zweite Ministerpräsident:"Ich habe
gelernt, dass der israelische Staat in unserer
Generation ohne Betrug und abenteuerlichen Geist nicht regiert werden
kann. Dies sind historische Fakten, die nicht zu verändern sind. Es mag
sein, dass die Geschichte die Betrugsstrategien bestätigen wird, genauso
wie die abenteuerlichen Aktionen (er meint damit, die blutigen
Vergeltungsaktionen). Was ich, Moshe Sharet, weiss, ist, dass ich nicht
fähig bin, so zu handeln, deshalb bin ich auch nicht fähig, diesen Staat
zu regieren."
Ein jüdischer Spruch heisst, dass:"eine gelungene Dummheit eine Dummheit
bleibt ". Diese Dummheit, auch wenn sie noch so erfolgreich ist, treibt
uns und den Nahen Osten in den Abgrund. Auch wenn es in unseren Zeiten
pathetisch scheint, Cassandra oder Prophet zu spielen (was ich sicherlich
nicht bin), kann ich vielleicht nur wie Luther sagen: " Hier stehe ich,
ich kann nicht anders" - und wenn es uns nicht gelingt, in der
allerletzten Minuten vor 12 Uhr möglichst schnell die Weichen anders zu
stellen, dann: "Gott behüte uns - Amen!"
Diese Wahrheiten und viele andere hatte ich vor, auf meinem
Friedensmarsch und auf dem Kirchentag zu sagen. Da aber Auschwitz so sehr
in den Knochen von vielen Deutschen steckt, tun sich viele meiner Freunde
sehr schwer damit.
Wie es bis jetzt aussieht, werde ich auch nicht die Möglichkeit erhalten,
auf dem Kirchentag aufzutreten. Ich beschuldige niemanden und bleibe
meiner Lebenslosung treu, die heisst:
"Beurteile niemanden und versuche zu verstehen; und neige Dich wehmütig
vor der menschlichen Verführbarkeit und dem Schmerz".
Reuven Moskovitz
April 2005
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