Reuven Moskovitz: Daran besteht kein Zweifel. Die USA machen das
schließlich auch - etwa wenn sie versuchen, im Irak den radikalen
Schiitenführer al-Sadr umzubringen.
Israels Verteidigungsminister Schaul Mofas hat gesagt, dass Scheich Jassin
für Israel das Gleiche war wie Bin Laden für die USA. Was halten Sie
davon?
Ich bin nicht einverstanden mit Hamas. Das ist eine Bande von Menschen,
die nur an die Gewalt glauben. Aber zu sagen, dass Scheich Jassin der Bin
Laden Israels gewesen sei, ist der Versuch, den Mord an ihm mit
scheinheiligen Argumenten zu rechtfertigen. Dabei war ausgerechnet Scheich
Jassin unter den Hamas-Führern derjenige, der über einen Waffenstillstand
sprechen wollte - vorausgesetzt, Israel zieht sich auf die Grenzen von
1967 zurück. Aber es gibt leider eine Tendenz, alles zu dämonisieren, was
mit dem palästinensischen Widerstand zusammenhängt. Man darf doch den
Ursprung des Konfliktes nicht vergessen: die fehlende Anerkennung des
Rechts der Palästinenser auf wenigstens einen Teil des Landes, der einmal
diesem Volk gehört hat. Und die fehlende Anerkennung des Rechts, dort
selbstbestimmt zu leben, frei von Schikanen.
Bush scheint Israels
expansive Siedlungspolitik akzeptiert zu haben. Was bedeutet das?
Damit ist klar: Die
Palästinenser sollen auf etwa 13 Prozent jenes Territoriums beschränkt
werden, das früher Palästina gewesen ist. Wie die israelische Zeitung
Maariv analysiert: Den Palästinensern bleibt dann mit Gaza und
isolierten Exklaven im Westjordanland ein zersplittertes "Bantustan",
vergleichbar den Homelands in Südafrika zu Zeiten der weißen Herrschaft.
Diese Politik wird keinen Frieden bringen. Sie wird den Terror weiter
anheizen. Und das nicht nur in Nahost.
Bislang war Arafat durch die
USA geschützt. Scharon hat erklärt, dass auch der PLO-Chef zum Ziel werden
könnte. Wird Israel sich wirklich über die USA hinwegsetzen?
Nichts ist ausgeschlossen, von
der Scharon-Regierung muss alles erwartet werden. Die haben bereits manche
Grenze überschritten. Wenn man sie nicht stoppt, kommt es zu einer
Katastrophe.
Scharon behauptet, dass
Israel nach der Liquidierung von Scheich Jassin sicherer sei.
Was ist das für eine Sicherheit?
Scharon hat das Konzept: Sicherheit durch Gewalt und noch mehr Gewalt.
Doch diese Gewalt hält die Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang.
Wenn die organisierte, die friedliche, die demokratische Welt - die doch
an Menschenwürde und Völkerrecht glaubt - nicht endlich versucht, diese
Spirale zu durchbrechen, wird das die Völker in den Untergang treiben.
Die Regierung in Jerusalem
sagt, dass Scheich Jassin hinter dem Terror der Hamas steckte.
Nein! Scheich Jassin ist kein
Planer gewesen. Er war ein gelähmter Mensch, angewiesen auf seinen
Rollstuhl. Er wurde gerade nicht auf dem Weg zu einem Terroranschlag
umgebracht, sondern auf dem Heimweg, nach dem Verlassen einer Moschee.
Scheich Jassin ist die geistliche Autorität der Palästinenser gewesen. Und
nicht nur für die Palästinenser: Scheich Jassin war berühmt in der ganzen
islamischen Welt. Jetzt haben wir einen Märtyrer geschaffen.
Nun gibt es die These, dass
Jassin liquidiert worden sei, weil Scharon Stärke beweisen wollte, um die
Hardliner in seinem Lager zu besänftigen - damit Scharon den Abzug aus
Gaza nicht als Flucht aus Schwäche aussehen lässt.
Scharon will die Palästinenser
in die Knie zwingen, indem er ihr Leben derart erschwert, dass die
Menschen wie in einem Gefängnis leben. Gleichzeitig kalkuliert er ein,
dass es gerade durch diese Politik zu einer dramatischen Situation kommen
kann - die ihm dann die Entschuldigung dafür gibt, die Palästinenser
endgültig zu vertreiben.
Meinen Sie damit den so
genannten "Transfer", das heißt, die Umsiedlung der Palästinenser in die
Nachbarländer?
Genau. Diesen "Transfer" hat
freilich nicht nur Scharon im Hinterkopf.
Lassen sich die Exekutionen
von Scheich Jassin und Abdel Asis Rantisi womöglich als Ergebnis einer
kühlen Abwägung interpretieren - entweder nehmen die Palästinenser die
Liquidierung hin, oder sie lassen sich zu einem Mega-Anschlag provozieren?
Quasi zu einem 11. 9. in Israel - und das wäre dann der Anlass, den
"Transfer" aller Palästinenser durchzusetzen?
Das ist eine der Optionen. Aber
nicht erst heute: Dieser "Transfer" war bereits in den Köpfen mancher
Politiker vor der Staatsgründung 1948. Sie dachten dabei an das Beispiel
der Türkei und den "Transfer" der griechischen Bevölkerung aus Kleinasien
nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.
Eine sehr düstere Prognose.
Gibt es einen Ausweg?
Wir brauchen eine Intervention
der Völkergemeinschaft. Wenn es überhaupt noch eine Chance für Frieden
geben soll, dann müssen die israelischen Truppen aus dem Westjordanland
abziehen. Und dort müssen internationale Einheiten stationiert werden.
taz Nr. 7339 vom 21.4.2004, Seite 12, RENÉ
GRALLA