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Um die Pariser Journalisten trauern,
aber trotzdem die Hyprokrisie bemerken
Rabbi Lerner
Als Herausgeber eines progressiven,
jüdischen und interreligiösen Magazins, das oft Ansichten
wiedergegeben hat, die eine Verurteilung sowohl der Rechten als auch
der Linken provoziert haben, hatte ich guten Grund, wegen der
Ermordung der Journalistenkollegen in Paris besorgt zu sein. Da ich
den Award zum „Magazin des Jahres“des Religion Newswriters-Verbandes
in 2014 gewonnen habe und Kritik an Hamas Vorstößen, Israels Städte
im letzten Sommer zu bombardieren,(auch wenn ich gleichermaßen
Kritik an Israels Übergriffen gegen Zivilpersonen in Gaza) geübt
habe, habe ich guten Grund, besorgt zu sein, ob diese Bekanntheit
nicht die Chancen erhöht, als Angriffsziel islamistischer
Extremisten zu dienen. Aber dann musste ich mich wieder über die Art
und Weise wundern, in der das Massaker in Paris von den westlichen
Medien dargestellt und umrahmt wurde, als entsetzliche Bedrohung für
die westliche Zivilisation, für die Meinungs- und Pressefreiheit.
Ich wunderte mich über die überhitzte Art dieser Darstellung. Ich
brauchte nicht lange, um zu verstehen, wie problematisch dieses
Framing wirklich ist.
Als mir rechte „pro-Israel“ Fanatiker
wiederholt Morddrohungen gesandt haben, mein Haus physisch angriffen
und auf die Tore Äußerungen über mich malten: ich sei „ein Nazi“
oder „ein selbsthassender Jude“ und zu Bombendrohungen gegen Tikkun,
das Magazin, das ich herausgebe, aufriefen, wurde dieser Tatsache
von den Medien keinerlei Beachtung geschenkt, keine Schreie: „Unsere
Zivilisation hängt von der Pressefreiheit ab“, oder Aufforderungen,
diejenigen, die darin verwickelt sind, zu jagen (der FBI und die
Polizei erhielten unsere Beschwerde, aber sie kamen nie auf uns
zurück, um uns mitzuteilen, was sie unternommen haben, um uns zu
schützen oder um die Angreifer zu finden). Auch der Mainstream oder
die jüdischen Medien waren nicht besonders besorgt , dass die
westliche Zivilisation zerstört würde oder die Meinungsfreiheit und
die Gesellschaft unterminiert würde, wenn verschiedene Universitäten
den Professoren, die sich kritisch über Israel geäußert hatten,
eine Anstellung verwehrten, noch, wenn der Hillel-Verband, der eine
Kette von „Hillel-Häusern“ für Studenten auf dem College-Campus
betreibt, entschieden hat, alle Juden von ihrem Gelände zu
verbannen, die Teil der Jüdischen Stimme für Frieden waren. Und die
Medien zeigten auch kein großes Interesse für eine Bombe, die
außerhalb des Hauptsitzes der NAACP (Menschenrechtsorganisation für
ethnische Minderheiten) in Colorado Springs explodierte, an
demselben Tag, an dem der Angriff in Paris im Fokus stand.
Colorado Springs ist die Heimat der
meisten extrem-rechten Aktivisten. Es war ein weißer Mann mit
schütterem Haar, der, wie einige Berichte behaupteten. beim
Bombenlegen beobachtet wurde. Deshalb beschrieben die Medien dies
als die Tat eines verwirrten „Einzelgängers“, anstatt als die eines
weißen rechten christlich-fundamentalistischen Terroristen. Nur
wenige Amerikaner hörten überhaupt etwas über diesen Vorfall. Und
als die schrecklichen Morde an 12 Medienpersonen und die
Verletzungen weiterer 12 Medienmitarbeiter zu einer gerechtfertigten
Empörung in der ganzen Welt führten, haben Sie sich da nicht
gewundert, weshalb es nicht eine ähnliche Empörung aufgrund der
Zehntausenden von unschuldigen Zivilpersonen gegeben hatte, die
durch die amerikanische Intervention im Irak getötet worden waren,
oder aufgrund der mehr als eine Million getöteten Zivilpersonen, die
von den USA in Vietnam getötet worden waren, oder weshalb Präsident
Obama sich weigerte, die CIA-Folterer der meist muslimischen
Gefangenen ihrer gerechten Strafe zuzuführen, und somit de facto
zukünftigen Folterern die Botschaft vermittelt hat, ihre Taten noch
nicht einmal bedauern zu müssen (in der Tat behauptete der frühere
Vizepräsident Cheney verwegen, er erteile den Befehl zu dieser Art
Folter, ohne auch nur zweimal darüber nachzudenken) ?
Deshalb, seien Sie nicht überrascht,
wenn Menschen in der gesamten Welt, obwohl sie die abscheulichen
Taten der Mörder in Paris verurteilen und mit den Familien und
Freunden der Opfer trauern, im Hinblick auf den Medienzirkus, der
diese besondere Empörung umgibt, ein wenig zynisch bleiben, weil die
westlichen Medien schnell die selben verachtenswerten Taten
systematischer Ermordung und Folter vergessen, in die westliche
Länder verstrickt waren. Oder vielleicht sind sie (die Menschen)
auch nur ein bisschen weniger überzeugt davon, dass die westliche
Gesellschaft wirklich die größte Hoffnung für die Zivilisation ist,
wenn sie diese Art der Hypocrisie billigt, anstatt genauso vehement
auf alle Taten zu reagieren, die die Meinungs- oder
Versammlungsfreiheit unterdrücken. Ich könnte mir gut vorstellen
(und bedauere es), wie einige islamistische Fundamentalisten bereits
auf diesen ethischen Widersprüche bei der Gesellschaft des Westens
punkten in Bezug auf deren Prahlerei mit den Menschenrechten, die
die selbsternannten „aufgeklärten Demokratien“ jedoch nie davon
zurückhalten, gegen diese Rechte zu verstoßen, wenn sie realisieren,
dass sie es sind, die angegriffen werden. Doch es gibt eine tiefere
Ebene, auf der der Diskurs so unsinnig erscheint. Wie der
Tikkun-Redakteur, Peter Gabel, betont hat, erkennen die Medien in
keinster Hinsicht die entmenschlichende Art, mit der so viele von
ihnen vorgehen, wer auch immer der vermeintliche bedrohliche
„Andere“ des Tages ist.
Diese Medien waren empört über den
Versuch einiger verbündeter nordkoreanischer Gruppen, Menschen
einzuschüchtern, damit diese einen Film, der den Herrscher von Korea
verhöhnt und dann plant, den derzeitigen (unmoralischen) Herrscher
zu ermorden, nicht ansehen, aber die Medien hinterfragen nie, wie
wir reagieren würden, wenn ein ähnlicher Film gemacht worden wäre,
um den amerikanischen Präsidenten zu verhöhnen und zu ermorden.
Ähnlich haben die Medien sich geweigert,
auch nur darüber nachzudenken, was es für einen französischen
Muslim, der unter Muslimen lebt, die wirtschaftlich marginalisiert
werden und als nichts anderes als Terroristen dargestellt werden,
deren religiöse Kleidung in der Öffentlichkeit verboten ist und
deren Religion erniedrigt wird, bedeutet, mit einem humoristischen
Magazin konfrontiert zu werden, das das Einzige, was ihnen ein
Gefühl der Gemeinschaft und einen höheren Sinn ihres Daseins
vermittelt, nämlich Mohammed und die Religion, die er geschaffen
hat, ins Lächerliche zieht.
Alleine schon diese Art Frage zu
stellen, bedeutet, sich Vorwürfen auszusetzen, keine Rücksicht auf
die Ermordeten zu nehmen oder Ausflüchte für die Mörder zu suchen.
Aber keiner dieser Vorwürfe ist berechtigt. Ich fürchte diese
fundamentalistischen Extremisten genau so wie die jüdischen
Extremisten, die mein Leben bedroht haben, und genau so wie die
christlichen Extremisten, die nun die Macht über den US-Kongress
ausüben. Jegliche Form von Gewalt empört mich und macht mich krank.
Doch die Gewalt ist eine unausweichliche Konsequenz einer Welt, die
systematisch so viele Menschen entmenschlicht, die ein Gefühl der
Ohnmacht und Verzweiflung haben und tief deprimiert sind, weil sie
nirgendwo die Milch der Menschenliebe finden. (frei übersetzt)
Die Repräsentation des Bösen dominiert
die Medien und wird zur Rechtfertigung unserer eigenen schlechten
Taten. Und dieses Böse wurde ermöglicht, weil so viele unter uns
die Augen abwenden und die Ohren verschließen gegenüber den
Schreien der Unterdrückten. Die UN schätzt, dass einige 10 000
Kinder aufgrund mangelnder Ernährung an Hunger und Krankheit sterben
werden, heute und an jedem anderen Tag im Jahr 2015. 2,5 Millionen
leben von weniger als 2 US Dollar pro Tag, 1,5 Millionen von weniger
als 1 US Dollar pro Tag.
Jeden Tag werden Tausende junger Frauen
an die Prostitution verkauft oder tun dies „freiwillig“, um genügend
Geld zu beschaffen, um ihren Familien zu helfen, sich zu ernähren.
Weitere zehn Millionen arbeiten unter verheerenden Bedingungen in
„Ausbeuterbetrieben“. Wenn einige von ihnen und einige, die ihre
Lage kennen und darüber empört sind, sich an verschiedene Formen
nationalistischer oder religiöser fundamentalistischer Extremisten
wenden, so werden ihre gewalttätigen Aktionen mit Recht verurteilt.
Aber auf das Schweigen bei der Gewalt, die strukturiert und eine
weit verbreitete Folge der Kapitalglobalisierung ist, wird nur
selten aufmerksam gemacht. Jeder von uns nimmt diese globale
Realität in sein Unterbewusstsein auf, so wie wir die Gewalt, den
Hass und das Erniedrigen anderer aufnehmen. Wir tolerieren diese Art
endloser „put-downs“, die die „Humor-Magazine“(Karikatur-Magazine)
und sogar angeblich liberale Comedians wie Bill Maher machen, ohne
zu realisieren, wie viel Schaden all dies unserer Seele zufügt.
Die seelischen Folgen sind um uns herum
sichtbar: Menschen, die daran verzweifeln, dass keiner sie versteht,
wachsendes Misstrauen gegenüber anderen und ein Gefühl, das man
niemandem richtig trauen kann. Eine kollektive und globale
emotionale Depression führt dazu, dass sich so viele Menschen in
sich zurückziehen, manchmal auf relativ harmlose Art, aber oft in
einer Art und Weise, die die Möglichkeit nimmt, dass irgendeine
humane Gemeinschaft entsteht, die mit den sozialen Problemen und den
Umweltproblemen, mit denen die menschliche Rasse konfrontiert ist,
umgehen könnte. Dadurch gibt man globalen Unternehmen und deren
angeheuerten Geschützen (hired guns) in Medien und Politik die
Freiheit, die Welt nach ihren eigenen Interessen zu führen, ohne
Rücksicht auf das Wohlergehen anderer Völker oder auf die Umwelt.
„Aber sie machen sich über die Religion von jedem, lustig, nicht nur
über die der Muslime, also, ist es dann nicht fair?“, werden wir
beschwichtigt. Aber diese Beschwichtigung ist nicht beruhigend.
Dass sie jeden verspotten, das ist genau
das Problem!,… die allgemeine Erniedrigung und das Verspotten
anderer ist destruktiv für jeden. Aber es ist natürlich nicht für
alle gleichermaßen destruktiv, weil die Gefahr bei Menschen, die
bereits wirtschaftlich und sozial marginalisiert sind, weit höher
ist, dass dieses Erniedrigen ihnen einen Stachel versetzt anstatt
dass sie sich darüber amüsieren.
“Und sollten nicht Meinungsfreiheit und
die individuelle Freiheit des Menschen unsere höchsten Werte sein?
Diese Werte sind gefährdet, wenn man Comedians eine Art
Verantwortung abverlangt.“ Zwei Antworten:
1.
Nein, die individuelle
Freiheit des Menschen ist nicht unser höchster Wert.
Unser höchster Wert ist,
Menschen mit Liebe, Freundlichkeit, Edelmut zu
behandeln, sie zu respektieren und sie als Verkörperung des
Heiligen und die Erde als segensreich anzusehen.
Individuelle Freiheit ist eine Strategie, um diesen
höchsten Wert zu fördern. Aber wenn diese Freiheit missbraucht w
wird (wie z. B. bei der Erniedrigung von Frauen,
afrikanischen Amerikanern, Schwulen im öffentlichen
Diskurs), bestehen wir oft darauf, dass ein Artikulator von
Rassismus, Sexismus und Homophobie öffentlich gedemütigt
wird ( schalten ihn nicht aus, sondern setzen unsere
Meinungsfreiheit ein, um seine vehement zu bekämpfen).
2.
Die freie
Meinungsäußerung wird nicht vernichtet, wenn wir sie nutzen, um
hasserfüllte oder demütigende Sprache zu marginalisieren.
Deshalb lassen Sie uns die abfällige Sprache, einschließlich des
abfälligen Humors, als das benennen, was es ist :
ein Angriff auf die Würde des Menschen.
Nichts hiervon soll dazu dienen, die
Trauer um die schrecklichen Morde in Paris einzustellen oder
diese in irgendeiner Form zu entschuldigen. Aber es ist ein
Grund, darüber nachzudenken, weshalb Medien nie differenziert
über das berichten, was in unserer Welt geschieht.
Rabbi Lerner ist Herausgeber des
Tikkun-Magazins. www.tikkun.org,
Er ist Autor von 11 Büchern,
einschließlich zwei nationale Bestsellern: The Left Hand of God:
Unser Land aus dem religiösen Recht und der jüdischen Erneuerung
wieder herausnehmen: Ein Weg zur Heilung und Transformation. Er
begrüßt Ihre Mitwirkung bei dem Aufbau einer „Bewegung für Liebe und
Gerechtigkeit“ in der Gesellschaft des Westens.
chiar of the interfaith and
secular-humanist-welcoming Network of SpiritualProgressives -
www.spiritualprogressives.org, rabbi of Beyt Tikkun
Synagoguewww.beyttikkun.org, and author of 11 books including 2
national best seller: The Left Hand of God: Taking Back our Country
from the Religious Right and Jewish Renewal: A Path to Healing and
Transformation. He welcomes your involvement in building a Love and
Justice movement in Western societies.
RabbiLerner.tikkun@gmail.com
übersetzt von Inga Gelsdorf |