Die
Dämmerung des Zionismus
Daniel Beaumont * -
5. Juli 2021
Der Preis war hoch,
aber die Palästinenser
hatten im Mai wieder die
Aufmerksamkeit der
Weltpresse. Dafür
brauchte es ein
elftägiges Bombardement
des Gazastreifens und
Angriffe
unterschiedlicher Art
auf Palästinenser im
Westjordanland und sogar
innerhalb Israels
selbst.
Die tägliche Gewalt, die
den Palästinensern im
Westjordanland und in
Gaza angetan wird, ist
keine Neuigkeit.
Ansonsten bleibt Israels
historischer Auftrag,
„ein Licht für die
Nationen" zu sein – d.
h. sein Raub
palästinensischen Landes
und seine Verletzung
palästinensischer Rechte
– meistens unbeachtet.
Das Einzige, was sich
bei diesem Prozess
ändert, ist zumeist das
Tempo der Diebstähle und
Verstöße. Das Tempo
beschleunigt sich, wenn
Israel wie ein Dieb
denkt, dass niemand
zuschaut. Aber jetzt
scheint ein anderer
Faktor diese Ereignisse
zu beschleunigen. Die
Angst Israels wächst,
weil die Wut und der
Abscheu auf der ganzen
Welt über sein Verhalten
wächst. Gleichzeitig
schwinden sowohl die
Macht als auch der
Einfluss seines einzigen
wirklichen Freundes, der
USA, und Israel findet
sich immer isolierter.
Seine neue Freundschaft
mit den Vereinigten
Arabischen Emiraten,
Bahrain, Sudan und
Marokko verringert seine
Isolation kaum und soll
in jedem Fall nur
Eindruck machen.
Israelis sind jetzt
eingeladen, in Dubai
Urlaub zu machen. Israel
bleibt aber eine
zionistische Insel in
einem Meer von 360
Millionen Arabern, die
es verachten. All diese
Dinge deuten darauf hin,
dass die Zeit kommen
wird, in der der Rest
der Welt Israel endlich
sagen wird – es reicht.
In den USA hat die
Berichterstattung über
den
israelisch-palästinensischen
Konflikt im Laufe der
Jahre den Eindruck
erweckt, er sei
hoffnungslos
kompliziert. Das ist ein
Trugschluss. Die Ursache
des Konflikts – es gibt
nur eine – ist, dass
Israel den
Palästinensern ihr Land
raubt. Ebenso gibt es
wirklich nur ein
Hindernis für seine
friedliche Lösung.
Israel will keinen
Frieden. Denn Frieden
würde bedeuten, dass
Israel aufhören müsste,
palästinensisches Land
zu stehlen, und es hat
nicht die Absicht, das
jemals zu tun, bevor es
sich alles angeeignet
hat. Alle großen
Abkommen, die Israel mit
verschiedenen arabischen
Partnern unterzeichnet
hat, machen dies
deutlich. Beginnend mit
den Camp-David-Verträgen
von 1978 hat Israel in
jedem Abkommen genau die
Bestimmungen ignoriert,
die in irgendeiner Weise
die Rechte der
Palästinenser
anerkannten. Die meisten
palästinensischen Führer
haben seither Israels
Recht anerkannt, auf dem
Land zu existieren, das
es vor 1967 eingenommen
hat. Und keine
israelische Regierung,
ob Likud oder Labor, hat
seither jemals die
Usurpation von
palästinensischem Land
gestoppt. Und die
Grenzen auf den
Landkarten von 1978
haben sich nicht
geändert.
Aber die Haltung
gegenüber Israel in der
ganzen Welt und sogar in
den Vereinigten Staaten
hat sich geändert. Und
diese Veränderung wird
wahrgenommen, wie die
Berichterstattung über
Israels Angriff auf die
Palästinenser im Mai
zeigt. Die meisten
Berichte im Mai begannen
und endeten noch immer
so, wie sie es seit 1948
getan haben. Sie
begannen mit einer
„rücksichtslosen
palästinensischen
Provokation“ und einer
„maßvollen israelischen
Antwort“, und sie
endeten mit den düsteren
Aussichten auf eine
"friedliche Lösung"
wegen der Spaltung
beider Seiten und ihrer
Weigerung, Kompromisse
zu schließen.
Aber neben diesen
Standardformulierungen
beinhalteten viele der
Geschichten im Mai auch
etwas Neues. Die
weltweiten Proteste
waren neu und ließen
sich nicht ignorieren.
Zehntausende gingen in
Städten auf der ganzen
Welt auf die Straße, um
gegen Israels Angriff
auf den Gazastreifen und
die gewaltsame
Unterdrückung
palästinensischer
Proteste im
Westjordanland, in
Jerusalem und in Israel
selbst zu protestieren.
Die Größe und das Ausmaß
der Proteste zwangen die
Presse, noch etwas Neues
zur Kenntnis zu nehmen:
die sich verändernde
Haltung gegenüber Israel
auf der ganzen Welt,
besonders unter jungen
Menschen. Und besonders
hervorgehoben wurden
diese Veränderungen in
den USA. Dieser Wandel
ist schon seit geraumer
Zeit im Gange, aber für
die Mainstream-Medien
ist er jetzt eine
Neuigkeit. Die
Berichterstattung über
die sich ändernden
Einstellungen
beinhaltete
notwendigerweise eine
Änderung der Rhetorik in
der Berichterstattung.
Begriffe wie
„Kriegsverbrechen",
„Apartheid", „Paria"
haben begonnen, in den
Mainstream-Medien
häufiger aufzutauchen.
All diese Dinge
signalisieren, dass eine
Neubewertung des
Zionismus im Gange ist.
Und das hat
weitreichende
Auswirkungen für die
Zukunft Israels. Der
Staat Israel wurde 1948
mit dem Zionismus als
ideologischer Blaupause
gegründet. Wenn die Idee
des Zionismus in
Misskredit gerät – was
dann?
Die Zahl der Menschen,
für die der Zionismus
noch eine respektable
Idee ist, nimmt ab. Für
diejenigen in Israel und
im Ausland, die noch an
ihm festhalten, wird
seine Verteidigung immer
schwieriger, je mehr
sich die Leichen seiner
Opfer stapeln. Die erste
Linie ihrer Verteidigung
des Zionismus und eines
zionistischen Staates
ist das pauschale
Argument, dass Kritik an
Israel und am Zionismus
antisemitisch sei. Das
ist nicht nur deshalb
absurd, weil Israels
gegenwärtige Handlungen
nicht zu rechtfertigen
sind, sondern es
übersieht auch die
Tatsache, dass vor
langer Zeit von Juden
selbst noch
fundamentalere Kritik am
Zionismus geäußert
wurde. Als der Zionismus
begann, Gestalt
anzunehmen, stritten
Juden nicht nur über die
Grundsätze und Ziele des
Zionismus, sondern
einige stellten auch die
Idee des Zionismus
selbst in Frage. Einige
hielten ihn gar für eine
Torheit.
Der Zionismus begann im
neunzehnten Jahrhundert
als Lösung der
sogenannten
„Judenfrage". Die
Judenfrage' war
natürlich nicht wirklich
eine Frage hinsichtlich
der Juden, sondern zum
europäischen
Antisemitismus. Die
Lösung des Zionismus
war, dass das jüdische
Volk ein eigenes
Heimatland haben sollte.
Das scheint einigermaßen
einfach. Aber von Anfang
an waren die
Implikationen dieser
einfachen Idee und die
Details ihrer Umsetzung
sofort ein Streitpunkt
zwischen den Zionisten
und ihren
nicht-jüdischen
Verbündeten. Und die
Folgen dieses ungelösten
Streits begleiten uns
bis heute.
Die erste Frage, die
sich hinsichtlich der
Judenfrage stellte, war,
was ist ein Jude? War
das Wort „Jude" in
erster Linie ein
ethnischer oder ein
religiöser Begriff?
Diese Frage taucht immer
noch in der aktuellen
Debatte darüber auf, was
es bedeutet zu sagen,
Israel sei ein jüdischer
Staat. Prominente frühe
Zionisten debattierten
über diese Frage, aber
ihre Debatte blieb
offensichtlich
ergebnislos Für Theodor
Herzl, der den ersten
zionistischen
Weltkongress 1897
leitete, war Jude in
erster Linie ein
ethnischer Begriff. Aber
für Rabbi Abraham Kook,
der nach der
Jahrhundertwende mehrere
einflussreiche Artikel
schrieb und später der
Oberrabbiner des
Mandatsgebietes
Palästina sein sollte,
war das Wort in erster
Linie ein religiöser
Begriff. Es ist
schwierig, ein anderes
Wort zu finden, das eine
Gruppe von Menschen
benennt, die ähnlich
uneindeutig ist. Wenn
wir "Italiener" oder
"Muslim" sagen, haben
wir eine ziemlich klare
Vorstellung davon, über
welche Menschen wir
sprechen. Nicht so bei
dem Wort "Jude". Und das
ist immer noch ein
Streitpunkt unter den
Menschen, die innerhalb
der gegenwärtigen
Grenzen Israels leben –
die, wie ich hinzufügen
möchte, – ihrerseits
gleichfalls umstritten
sind.
Das zweite Problem war,
dass dem Zionismus ein
Merkmal anderer Formen
des Nationalismus
fehlte. Andere
Spielarten des
Nationalismus bezogen
sich auf Völker, die
bereits in einer Region
konzentriert waren, auch
wenn sie diese nicht
beherrschten – die
Serben zum Beispiel im
neunzehnten Jahrhundert.
Aber der Zionismus war
eine Form des
Nationalismus für ein
Volk ohne jedes Land.
Ihr Heimatland
existierte nur in ihrer
Vorstellung. Dies konnte
nur die Probleme
verstärken, die bereits
mit einfacheren
Versionen des
Nationalismus
einhergingen, die
zumindest ein wenig Land
unter den Füßen hatten,
um das ihre Befürworter
mit ihren Nachbarn, den
Befürwortern eines
anderen Nationalismus,
kämpfen konnten. Die
Zionisten hatten also
ein Problem, das andere
Nationalisten nicht
hatten. Bevor sie um ein
Stück Land kämpfen
konnten, mussten sie
dafür überhaupt erst
einmal ein Stück Land
finden. Es gab nur zwei
Möglichkeiten, dies zu
tun: sie konnten es
kaufen oder sie konnten
es stehlen
Bei der Diskussion, wo
ein zionistischer Staat
errichtet werden sollte,
wurde Europa nie
ernsthaft in Betracht
gezogen. Es war ja der
Antisemitismus in
Europa, der den
Zionismus überhaupt erst
hervorgebracht hatte.
Und auf jeden Fall würde
kein europäischer Staat
einen Teil seines Landes
verkaufen. Das war nicht
mehr passiert, seit der
Zar Alaska an die USA
verkauft hatte.
Die beiden Orte, die von
frühen zionistischen
Denkern am häufigsten
genannt wurden, waren
Palästina und
Argentinien. Der
Säkularist Herzl
bevorzugte Argentinien,
wo es viel mehr
unbesiedeltes Land gab
und wo bereits eine
aufstrebende Kolonie von
sowohl aschkenasischen
als auch sephardischen
Juden existierte. Aber
Herzl erkannte, dass
Palästina aus
emotionalen Gründen
erheblich mehr
Unterstützung hatte.
Palästina war ein
kleiner, aber wichtiger
Teil des Osmanischen
Reiches, das damals
allerdings nur eine sehr
kleine jüdische
Bevölkerung hatte.
Tatsächlich rangierte
Palästina von allen
Orten im Osmanischen
Reich mit einer
jüdischen Bevölkerung an
letzter Stelle. Viel
größere jüdische
Bevölkerungen gab es in
Algerien, Syrien, Irak
und in Istanbul selbst.
Eine Schätzung der
jüdischen Bevölkerung in
Jerusalem im Jahr 1867
bezifferte sie auf etwa
4000 bis 5000 Menschen.
Man vergleiche dies mit
der jüdischen
Bevölkerung von Bagdad,
damals ebenfalls Teil
des Osmanischen Reiches,
die zur gleichen Zeit
auf etwa 80.000 bis
90.000 Menschen
geschätzt wurde - also
etwa ein Drittel der
Stadtbevölkerung.
Zum Leidwesen der
Betreiber des
zionistischen Projekts
standen die Osmanen vor
dem Ersten Weltkrieg der
jüdischen Auswanderung
nach Palästina generell
feindselig gegenüber,
obwohl ihre öffentlichen
Äußerungen zu diesem
Thema zurückhaltend
waren. Ihr Misstrauen
hatte keine religiöse
Grundlage, sondern war
auf die Übergriffe von
Russland und
Österreich-Ungarn auf
das Osmanische Reich
zurückzuführen. 1882
verkündete der
osmanische Ministerrat,
dass Juden, die
einwandern wollten, sich
nicht in Palästina,
sondern nur in anderen
Provinzen niederlassen
konnten, sofern sie
osmanische Untertanen
wurden. Für Zionisten
kam diese Bestimmung
aber nicht in Frage.
Also versuchten
verschiedene
zionistische
Parteiungen, diese
Politik über britische
und amerikanische Kanäle
zu umgehen. Sie setzten
Hebel in europäischen
Regierungen in Bewegung
und unternahmen
Täuschungsmanöver, um
Land in Palästina zu
erwerben.
Trotz des osmanischen
Widerstands gegen die
Gründung jeder Art von
unabhängigem Staat – ob
jüdisch oder nicht –
machte die zionistische
Bewegung weiterhin
einige Fortschritte,
hauptsächlich weil das
Osmanische Reich größere
Probleme hatte. Die
jüdische Auswanderung
nach Palästina hielt an,
und die zionistische
Bewegung gewann
weiterhin Anhänger und
Unterstützer. Unter
letzteren waren viele
wohlhabende und mächtige
Juden, die das Projekt,
die Kontrolle über
Palästina zu erlangen,
unterstützten - obwohl
sie selbst mitnichten
die Absicht hatten, von
Paris oder London oder
Wien in eine kleine
staubige Provinz des
Osmanischen Reiches
umzuziehen, um dort
Landwirtschaft zu
betreiben.
Dann änderte der Erste
Weltkrieg alles. In
dessen Folge wurde
Palästina bei der
Zerschlagung des
Osmanischen Reiches zum
britischen
Mandatsgebiet. Der
Erfolg schien nun näher
– die britische
Regierung hatte keine
Skrupel, das Land eines
anderen zu verschenken.
Aber die Probleme, die
dem Zionismus von Anfang
an innewohnten, blieben
bestehen. Diese waren
erstmals achtzig Jahre
zuvor von Karl Marx
erkannt worden.
Während der Zionismus zu
Marx' Zeiten noch keinen
Namen hatte, war die
allgemeine Debatte, aus
der er hervorgehen
sollte, bereits unter
dem Etikett der
"Judenfrage" im Gange.
Im Jahr 1843 schrieb
Marx einen Aufsatz mit
dem Titel „Über die
Judenfrage", der den
gesamten philosophischen
Rahmen sprengte, aus dem
der Zionismus entstehen
sollte – und nicht nur
der Zionismus, sondern
im Umkehrschluss auch
alle anderen
nationalistischen
Projekte.
In seinem Essay begann
Marx mit der Diskussion
der Ansichten seines
Hegelianer-Kollegen
Bruno Bauer, der
argumentiert hatte, dass
die Lösung der
"Judenfrage" ein
säkularer Staat wie die
Vereinigten Staaten sei.
Marx konterte, indem er
– wie Tocqueville und
viele andere Beobachter
– auf die herausragende
Rolle hinwies, die die
Religion in der
amerikanischen
Gesellschaft und damit
auch in ihrer Regierung
spielte. Marx
argumentierte, dass ein
säkularer Staat in der
Tat nicht gegen die
Religion sei, sondern
ihre Existenz
voraussetze. Obwohl „Über
die Judenfrage"
geschrieben war, bevor
er seine Idee des
Klassenkampfes
ausarbeitete, sagt Marx
in dem Essay, dass die
Tatsache, dass es in den
Vereinigten Staaten
keine etablierte
Religion gab, irrelevant
sei. Die Menschen in den
Vereinigten Staaten
waren keineswegs frei,
weil sie alle der
Herrschaft des Geldes
und des Marktes
unterworfen waren. Und
jemand, der nicht frei
ist, kann einem anderen
keine Freiheit gewähren.
An dieser Stelle muss
ich hinzufügen, dass
Marx nicht nur das, was
zum Zionismus werden
sollte, sondern auch die
heutige Vorstellung von
Identitätspolitik
vorwegnahm und
widerlegte. Die klare
Implikation von Marx'
Essay ist, dass jede
politische Bewegung, die
nur auf die Emanzipation
einer einzelnen Gruppe
von Menschen abzielt,
letztlich scheitern wird
– egal, welche
kurzfristigen Gewinne
sie erzielen mag. Vom
Marx'schen Standpunkt
aus ist die einzige
wirkliche Form der
menschlichen
Emanzipation die
Emanzipation aller
Menschen. Die
angestrebte Emanzipation
aller kann nicht von
einer Gruppe nach der
anderen erreicht werden.
So zu denken ist eine
Art bürgerlichen
Denkens, in dem eine
Gesellschaft lediglich
ein Aggregat von
Individuen ist, und
verschiedene Klassen und
Institutionen sind bloße
Abstraktionen ohne
substanzielle Existenz
nach ihrem eigenen
Recht. Für Marx muss die
Emanzipation der Juden
Teil der Emanzipation
aller Menschen sein, die
von Regierungen
unterjocht wurden, die
allein den Interessen
der Wohlhabenden
dienten.
Achtzig Jahre nach Marx'
Aufsatz gewann der
Zionismus, trotz seiner
falschen Vorstellungen,
Anhänger in Europa und
auch Land in Palästina.
Doch in Palästina
zeigten sich die dem
Zionismus von Anfang an
innewohnenden Probleme
in der zunehmenden
Feindschaft zwischen den
zionistischen Kolonisten
und der einheimischen
arabischen Bevölkerung.
Und es waren die
Ereignisse in Palästina,
die Sigmund Freud
dazu brachten, seine
Gedanken über den
Zionismus darzulegen. Zu
sagen, dass sie negativ
waren, ist eine
Untertreibung.
Die Zwietracht in
Palästina zwischen
Arabern und
zionistischen Emigranten
war seit dem Ende des
Ersten Weltkriegs
gewachsen. Der August
1929 markierte einen
Wendepunkt, als die
Zwietracht zwischen den
beiden Seiten
gewalttätig wurde. Der
Auslöser für diese
Gewalt kam Mitte August,
als eine Gruppe von
Hunderten von Juden zur
Westmauer marschierte
und "Die Mauer gehört
uns" rief. Am nächsten
Tag versammelte sich
eine große Anzahl
arabischer Muslime an
der Mauer und verbrannte
Kopien der Tora. Dann
begannen sie, Juden in
der ganzen Stadt
anzugreifen, und bald
griffen Araber auch
Juden in den umliegenden
Städten an. Das Ganze
kulminierte, als
Hunderte von Arabern die
jüdische Gemeinde in
Hebron angriffen. Es
folgte ein Massaker, bei
dem 67 Juden und 9
Araber getötet wurden.
In einer Woche wurden
mehr als hundert Juden
von Arabern
niedergemetzelt. Die
meisten der Opfer waren
zionistische Siedler,
aber einige wenige waren
einheimische Juden. Ihr
Schicksal war
verhängnisvoll. Sie
hatten in der Region
mehr als tausend Jahre
lang friedlich Seite an
Seite mit Muslimen und
Christen gelebt, und nun
fanden sie sich
unversehens in das
zionistische Projekt
verwickelt. Neunzehn
Jahre später, mit der
Gründung des Staates
Israel, sollte das
Gleiche noch einmal
passieren, aber jetzt
mit der einheimischen
jüdischen Bevölkerung
überall in der
arabischen Welt von
Marokko bis zum Irak.
Anfang 1930 schickte der
Keren Hayesod, eine vom
Zionistischen Kongress
gegründete
Spendenorganisation,
einen Brief an
prominente Juden in
aller Welt mit der
Bitte, sich öffentlich
für einen jüdischen
Staat in Palästina
einzusetzen. Chaim
Koffler, der Leiter des
Keren Hayesod in Wien,
schickte einen solchen
Brief an Freud. Dieser
Brief und Freuds knappe
Antwort wurden erst 1990
öffentlich gemacht.
Freuds Antwort kann in
einem Artikel von Ro
Oranim aus dem Jahr 2019
nachgelesen werden[1].
Freud schrieb an Oranim:
"Ich kann nicht tun, was
Sie wünschen. Wer die
Massen beeinflussen
will, muss ihnen etwas
Mitreißendes und
Aufrührerisches geben,
und mein nüchternes
Urteil über den
Zionismus lässt das
nicht zu." Es folgte
sein nüchternes Urteil
über den Zionismus: "Ich
glaube nicht, dass
Palästina jemals ein
jüdischer Staat werden
könnte, noch dass die
christliche und
islamische Welt jemals
bereit sein würde, ihre
heiligen Stätten unter
jüdische Obhut zu
bringen. Es wäre mir
vernünftiger erschienen,
ein jüdisches Heimatland
auf einem weniger
geschichtsbelasteten
Land zu errichten. Aber
ich weiß, dass ein solch
vernünftiger Standpunkt
niemals die Begeisterung
der Massen und die
finanzielle
Unterstützung der
Wohlhabenden gewonnen
hätte."
Freud drückte sein
Mitgefühl für die
schmerzlichen Ereignisse
aus, die die jüdischen
Emigranten kurz zuvor
erlebt hatten, aber dann
folgte etwas, das für
Koffler eine noch
schmerzhaftere Lektüre
gewesen sein muss. Freud
sagte: "Der grundlose
Fanatismus unseres
Volkes ist zum Teil für
das Erwachen des
arabischen Misstrauens
verantwortlich zu
machen. Ich kann
überhaupt kein
Verständnis aufbringen
für die fehlgeleitete
Frömmigkeit, die ein
Stück einer
herodianischen Mauer in
ein nationales Relikt
verwandelt und damit die
Gefühle der Eingeborenen
beleidigt." Freud
schloss mit den Worten:
"Urteilen Sie nun
selbst, ob ich mit einem
so kritischen Standpunkt
der Richtige bin, um als
Trostspender für ein von
unberechtigten
Hoffnungen verblendetes
Volk aufzutreten."
Kofflers Reaktion war
mehr oder weniger: "Oh
Mann, da habe ich mich
wohl vertan." Seine
Überraschung über Freuds
Antwort deutet darauf
hin, dass es ihm an
einer auch nur
rudimentären
Vertrautheit mit dessen
Ideen mangelte – vor
allem mit denen zur
Religion. Nachdem er
Freuds Antwort gelesen
hatte, schrieb er auf
Hebräisch in die obere
Ecke des Briefes:
"Zeigen Sie das nicht
den Ausländern!" Freuds
Antwort, mit Kofflers
Notiz dazu, landete
schließlich in den
Archiven der
Nationalbibliothek
Israels, aber, wie
gesagt, sie wurde erst
1990 veröffentlicht.
Das Wort "Ausländer" in
Kofflers Notiz war Ra
Oranims Übersetzung des
hebräischen Wortes
zarim in seinem
Artikel von 2019. Das
kam mir merkwürdig vor.
Angesichts von Kofflers
Entsetzen hätte man
erwarten können, dass er
sagt: "Zeigen Sie das
niemandem!" Wen könnte
Koffler mit "Ausländern"
gemeint haben?
Ich zeigte Kofflers
hebräische Notiz einer
befreundeten Hebraistin,
die mir sagte, dass das
hebräische Wort, das mit
"Ausländer" übersetzt
wird, zarim ist,
der Plural des Wortes
zar. Sie schrieb: "zar
ist ein polysemantisches
Wort, das 'Fremder',
aber auch 'Außenseiter'
bedeutet." Zudem dachte
sie, dass die bessere
Übersetzung von zarim
'Außenseiter' wäre. Das
heißt, Menschen
außerhalb von Keren
Hayesod. Das ist viel
plausibler, als dass
Koffler darüber besorgt
war, was Ausländer oder
Nicht-Juden über Freuds
harsche Antwort denken
könnten.
Wahrscheinlicher ist,
dass Koffler darüber
besorgt war, was
zionistische Kollegen
von ihm denken könnten.
Er befürchtete zu Recht,
dass der Brief ihn vor
der breiteren
Gemeinschaft der
Zionisten als
uninformiert und naiv
erscheinen lassen würde.
Denn niemand, der ein
allgemeines Wissen über
Freuds Arbeit und seine
Ansichten über Religion
hatte, hätte sich die
Mühe gemacht, den Brief
zu lesen.
Die grundlegenden Fehler
im zionistischen Projekt
und die Konflikte und
Probleme, die
notwendiger-weise folgen
würden, wurden von Marx
und Freud in ihren
Ursprüngen gesehen.
Diese werden jetzt auch
von einer wachsenden
Zahl von Menschen auf
der ganzen Welt gesehen.
Am 6. Mai demonstrierten
Palästinenser in
Ostjerusalem gegen die
bevorstehende
Vertreibung von sechs
palästinensischen
Familien aus ihren
Häusern in Ostjerusalem.
Am nächsten Tag stürmte
die IDF, die israelische
Armee, das Gelände der
Al-Aqsa-Moschee. Nach
Angaben des israelischen
Fernsehens reagierte sie
auf eine Gruppe von
Palästinensern, die sie
mit Steinen bewarfen.
Als die IDF im Haram
al-Sharif und in
Ost-Jerusalem blieb,
stellte die Hamas am 10.
Mai ein Ultimatum an
Israel, die IDF bis 18
Uhr von diesen Orten
abzuziehen, sonst würde
es Konsequenzen geben.
Israel ignorierte das
Ultimatum natürlich.
Wahrscheinlich begrüßten
es viele in der
Regierung und im Militär
sogar. Um 18 Uhr begann
die Hamas mit dem
Abschuss von Raketen.
Wie zu erwarten, wurden
Netanjahus Provokationen
vor dem 10. Mai von den
Mainstream-Medien in den
USA ignoriert. Aber
ansonsten wusste man in
der Welt, dass sie
Netanyahus letzter
verzweifelter Versuch
waren, seine eigene
politische Haut zu
retten. Der Krieg, wenn
man ihn überhaupt so
nennen kann, war seine
blutigere Version des 6.
Januar [in Washington
– Anm. d. Übers.].
Es ist keine
Überraschung, dass er
und Trump sich gut
verstanden. Sie sind
beide Kriminelle und
Betrüger, deren einzige
Loyalität ihnen selbst
gilt. Aber der Angriff
verfehlte sein erklärtes
Ziel, die Hamas ein für
alle Mal auszuschalten.
Sobald der
Waffenstillstand erklärt
worden war, begann die
Hamas mit dem
Wiederaufbau. Nach allen
strategischen Maßstäben
hat die Hamas gewonnen –
zu dem gleichen Schluss
kam auch die renommierte
israelische Tageszeitung
Haaretz. Für Israel
dürfte wohl noch
bestürzender sein, dass
sie [die Hamas – Anm.
d. Übers.] alle
Palästinenser innerhalb
und außerhalb Israels
trotz ihrer politischen
Spaltung vereint hat. In
einem kürzlich
erschienenen
Counterpunch-Artikel
sieht Patrick Cockburn
diese neue Einheit als
einen Weg für die
Palästinenser, die
Initiative zu ergreifen,
indem sie die
Anerkennung ihrer Rechte
jetzt zum wichtigsten
Thema machen und die
Fata Morgana eines
"Friedensprozesses" und
einer
"Zwei-Staaten-Lösung"
den westlichen
Politikern überlassen.
Die fadenscheinigen
Argumente, die von
Israel und seinen
Unterstützern
vorgebracht werden, um
seinen Angriff auf den
Gazastreifen und seine
Mordtaten in der
Westbank als
"Selbstverteidigung" zu
rechtfertigen, und seine
vergeblichen Versuche,
die Demonstrationen der
Palästinenser innerhalb
Israels gewaltsam zu
unterdrücken, haben
niemanden getäuscht,
außer seine hoffnungslos
verblendeten
Unterstützer v. a. in
den USA.
Am 12. Mai schoss ein
israelischer Soldat in
Hebron einem
vierzehnjährigen
palästinensischen Jungen
ins Auge, während er
Schuhe einkaufte. Er war
mehr als eine halbe
Meile von der nächsten
Demonstration entfernt.
Die Chirurgen waren
nicht in der Lage, die
Kugel in seinem Gehirn
zu operieren, und er
starb im Krankenhaus.
Sechs Tage später, am
18. Mai, schoss die
israelische Polizei im
Stadtteil Sheikh Jarrah
in Ost-Jerusalem der
vierzehnjährigen Jana
Kiswani mit einer Kugel
mit Schwammspitze in den
Rücken, während sie mit
ihrem Vater vor ihrem
Haus stand.[2]
Als er versuchte, ihr zu
helfen, schossen sie ihm
ins Bein. Dann feuerten
sie eine
Betäubungsgranate auf
sie ab. Das Geschoss
brach dem Mädchen die
Wirbelsäule und
beschädigte eine Niere.
Über den Polizisten, der
auf seine Tochter
schoss, sagte ihr Vater
Muhammad: "Er wollte
einen Mord begehen."
Siebzehn Tage später,
wieder in Sheikh Jarrah,
nahm die israelische
Polizei die
vierzehnjährige Nufouth
Hammad fest - wegen
Gesichtsbemalung.[3]
Sie hatte die
palästinensische Flagge
auf die Gesichter ihrer
Freunde gemalt, und es
ist offensichtlich ein
Verbrechen, die
palästinensische Flagge
in Jerusalem zu zeigen.
Der israelische Angriff
auf Palästinenser im Mai
hat eine größere
Empörung ausgelöst als
frühere Angriffe. Eine
jüngere Generation
überall auf der Welt
verliert die Geduld mit
ihren altersschwachen
Führern hinsichtlich
aller globalen Themen:
Menschenrechte,
Klimawandel, die
eklatant ungleiche
Verteilung des
Wohlstands im
Kapitalismus. So sieht
sie auch die
palästinensische Sache
als Teil des weltweiten
Kampfes für
Menschenrechte.
Weder Marx noch Freud
wären von dem Elend
überrascht gewesen, das
durch das zionistische
Projekt geschaffen
wurde. Und jetzt
gelangen immer mehr
Menschen überall zu der
Ansicht, dass es
schlecht durchdacht und
von Anfang an zum
Scheitern verurteilt
war. Dass es die falsche
Antwort auf die falsche
Frage war.
(Übersetzung: Jürgen
Jung)
Quelle
Anmerkungen:
1. Die
hier zitierten Auszüge
aus Freuds Brief finden
sich in "What Did Freud
Really Think of Zionism?"
Ro Aranim, im Blog The
Librarians, 9. August
2019.
https://blog.nli.org.il/en/freud_on_zionism/
2. Die Vorfälle von
Muhammad Khalil Younis
Freijat und Jana Kiswani
finden sich in dem
Artikel "Israel Attacks,
Kills Children Amid
Broad Crackdown" von
Tamara Nassar in The
Electronic Intifada, 28.
Mai 2021:
https://electronicintifada.net/blogs/tamara-nassar/israel-attacks-kills-children-amid-broad-crackdown
3. Die Verhaftung von
Nufouth Hammad findet
sich in dem Artikel
"Israeli Forces Detain
Palestinian Girl in
Sheikh Jarrah" in The
Palestine Chronicle, 4.
Juni 2021: https://www.palestinechronicle.com/israeli-forces-detain-palestinian-girl-in-sheikh-jarrah/
↑
*Daniel Beaumont
lehrt arabische Sprache
und Literatur und andere
Kurse an der University
of Rochester. Er ist der
Autor von Slave of
Desire: Sex, Love &
Death in the 1001 Nights
und Preachin' the
Blues: The Life & Times
of Son House. Er
kann kontaktiert werden
unter: daniel.beaumont@rochester.edu
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