Naa
und wie war Palästina? Anne Lehmann
- Bei dieser Frage gerate ich ins
Taumeln. In ein paar Minuten sind
solch einprägsame Erfahrungen nicht
zu beschreiben und die Eindrücke nur
im Kontext der politischen und
geschichtlichen Gegebenheiten des
Landes zu verstehen.
„Nimm dir Zeit, ich erzähl dir gern
davon. Ich kann den Konflikt nicht
überblicken, aber ich will
versuchen, die Situation so zu
schildern, wie ich sie erlebt
habe... beeindruckend, kraftvoll,
engagiert, voller Hoffnung und doch
von der Gemeinschaft ignoriert.“
Als ich dieses Land betrat, staunte
ich zuallererst, weil es sich,
entgegen meiner Vorstellungen vom
kargen Ödland, um ein fruchtbares
Gebiet handelt ... voller
Olivenhaine, grüner Oasen, belebt
durch kleine Flussbäche. Doch die
alltäglichen Auseinandersetzungen
mit der israelischen Armee zermürben
die Menschen. Die Schikanen an den
Grenzposten und ungeahndete
Resolutionsverstöße, die zum Ruin
ganzer Dorfgemeinschaften führten,
lösen die (Lebens-) Chancen der
palästinensischen Bevölkerung auf.
Eine Mauer, die dazu da ist,
Terroranschläge zu ver- hindern,
gibt es aus meiner Sicht nicht. Wie
einzelne Puzzlestücke zieht sie ihre
Linien durch das Landesinnere. Dabei
geht es um Wasserressourcen, frucht-
bares Land und den Schutz neu
erbauter (Groß-)Siedlungen, die
immer näher an die palästinensischen
Städte rücken. Wie ist es zu
erklären, dass auf der
palästinensischen Seite das Tote
Meer vollständig eingezäunt wurde?
Offiziell dient diese Maßnahme dazu,
die illegale Ausreise nach Jordanien
zu verhindern, inoffiziell ist das
Meer ein Juwel für die
Tourismusbranche, die nun auf Wer
Palästina betritt, wird erstaunt
sein über den Schlag von Menschen,
dem man begegnet. Starke Frauen, die
es trotz widriger Umstände schaffen,
die zerrütteten Familien
zusammenzuhalten. Männer, denen
soviel Ungerechtigkeit widerfahren
ist, dass ich über ihre
ausgeglichene und besonnene Art nur
staunen konnte. Jugendliche, die aus
wenig viel Kreatives schaffen können
und sich ehrenamtlich engagieren.
Die jungen Leute sind gut
ausgebildet, aber ohne
wirtschaftlichen Aufschwung sind sie
ihrer Perspektiven beraubt. Einige
werden das Land nie verlassen
dürfen, eine Folge der Sippenhaft,
die alle Familienmitglieder im
Kollektiv bestraft.
Wie leicht es ist, eine Straftat
unter einer Besatzung zu begehen,
wurde vor allem bei unseren Besuchen
in den sozialen Projekten deutlich.
Hiesige Sozialarbeiter*innen haben
nicht das Problem, interessierte
Jugendliche für ihre Ideen zu
finden, vielmehr verhindert die
Angst der Eltern, dass die Projekte
weiteren Zulauf bekommen.
Jugendliche, die ein Zeichen gegen
den Landraub setzten wollen (bspw.
einen Olivenbaum pflanzen oder an
einer Demo teilnehmen), können sich
strafbar machen und müssen mitunter
mit Haftstrafen rechnen. Welches
Ausmaß dahinter steckt, wurde mir
erst klar, als ich im
Flüchtlingslager (eine ehemalige
Zeltstadt) zwei leitenden
Mitarbeitern begegnete. Sie
erzählten vom Alltagsleben und den
Schwierigkeiten der Familien, dem
viel zu beengten Wohnraum, der
schlechten medizinischen und
mangelnden schulischen Versorgung,
von den Razzien der israelischen
Armee im Lager und vom Tod eines
Jugendlichen, der zuvor Steine nach
den Soldaten warf. Die beiden Herren
sind aus meiner Sicht
aufopferungsvolle Menschen und
trotzdem ver- brachte der eine 20
Jahre, der andere 7 Jahre in
israelischer Gefangenschaft. Zwei
fast zerstörte Leben, die sich nun
mit voller Energie dem Wiederaufbau
eines Flüchtlingslagers widmen.
(...)
Ich bin mit dem Bild groß geworden,
dass Israel ein einflussreicher
Staat ist, dem die Deutschen ihre
ungeteilte Unterstützung zusprechen.
Vom stetigen Kampf Palästinas um die
Anerkennung seiner Unabhängigkeit
und einer zumindest ansatzweise
„fairen“ Grenzziehung erfuhr ich
ausschließlich aus den Medien. Mit
diesen Vorstellungen trat ich vor
einigen Jahren eine dreimonatige
Urlaubsreise nach Israel an. Ich
lernte das Leben dort kennen und
verliebte mich in Tel-Aviv. Die
Herzlichkeit, die mir entgegen
gebracht wurde, berührte mich. Das
Gespräch mit einem alten Herren, der
in einem deutschen KZ interniert
war, die ihm zugeteilte Nummer auf
alle Zeiten in seinem Unterarm
tätowiert, lässt mich nie wieder
los.
Ich bin froh, dass die deutsch-
israelische Beziehung trotz der
Verbrechen der Vergangenheit
besteht. Doch der ideologischen
Verfolgung der Juden fiel nun auch
die palästinensische Bevölkerung zu
Opfer. Es erschüttert mich, dass
jenen Menschen kaum mehr die Luft zu
atmen gelassen wird. „Wer sich nicht
frei fühlt, kann nicht wachsen. Wer
nicht wächst, ent- wickelt sich
nicht. Nicht entwickeln heißt
Stillstand.” (F. Matt) ...aus
der
Dokumentation unserer
Fachkräftebegegnung 2015 (pdf) |