Ein
13jähriges Mädchen aus dem Flüchtlingslager Jenin schreibt einen
Brief an Kofi Annan. Sandy Nasser Al Sa’di appelliert an
internationale Organisationen, ihr behilflich zu sein, die
UN-Generalversammlung in New York zu erreichen. Sandy möchte ihren
Brief persönlich an den Generalsekretär der UN aushändigen. Sie
befürchtet, dass ihr Schreiben, sofern sie es nicht persönlich
überreichen kann, entweder von der israelischen Regierung
konfisziert werden würde oder unter die vielen anderen Papiere auf
den staubigen Regalen der UN, die mit „Palästina“ beschriftet sind,
geraten könnte.
Sandy will dem höchsten internationalen Komitee von ihrem Leid und
dem ihrer drei jüngeren Geschwister erzählen. In ihrem Brief besteht
sie darauf, dass sie ohne fremde Hilfe schreibt; Sandy schildert die
Einsamkeit und die Traurigkeit, die sie empfindet, seit ihr die
Mutter weggenommen wurde:
„Ich rufe das Generalsekretariat der UN an, dessen Aufgabe es
ist, die Menschenrechte, die Würde und das Leben der Menschen zu
garantieren. Ich wende mich deshalb an Sie, weil die israelische
Unterdrückung einen gewissen Punkt erreicht hat, an dem mein Leben
zu einem kleinen Gefängnis geworden ist, das sich nicht sehr von den
Gefängnisgittern unterscheidet, die meine Eltern umgeben. Wir
durchleben derzeit ein Leiden und eine Unterdrückung durch die
Besatzung, welche meine Mutter Qahira Al Sa’di aus unserem Haus
weggenommen hat.
Dutzende Soldaten drangen mitten in der Nacht in unser Haus ein
und zogen unsere Mutter aus ihrem Bett heraus. Sie haben uns ihrer
Zuwendung und ihres Schutzes beraubt. Unsere Schreie und Tränen
halfen ihr nicht, als die Soldaten ihr Handschellen anlegten und sie
in Gewahrsam nahmen, wo sie Pein und harten Untersuchungsmethoden
entgegen sah.“
Sandy fährt fort: „Zwei Jahre lang, Ihre Exzellenz, zerreißt es
mir mein Inneres aus Heimweh, meine Mutter, die im Telmond-Gefängnis
isoliert, eingesperrt und unterdrückt ist, wiederzusehen.
Es genügte ihnen nicht, sie einzusperren, sie zu foltern, sie zu
erniedrigen, sie ihrer Würde und ihrer minimalen Rechte, nämlich
ihre Kinder zu sehen, zu berauben.
Seit ihrer Inhaftierung habe ich das Gesicht meiner Mutter nicht
mehr gesehen, und jedes Mal, wenn ich sie zusammen mit meinen
Brüdern besuchen will, weisen sie uns zurück und quälen uns damit.“
Sandy schreibt weiter: „Die Festtage und die glücklichen Anlässe
finden statt, und meine Mutter ist fern von mir, grundlos
eingesperrt, nur weil sie Palästinenserin ist.
An den Festtagen trage ich keine hübschen Kleider und kenne das
Glücksgefühl nicht. Die Besatzung hat mich meiner Kindheit
beraubt, meines Rechts auf Leben. Wie kann ich glücklich sein,
während meine Mutter im Gefängnis ist? Von wo sollte das
Glücklichsein herkommen, wenn die Versinnbildlichung der
Mutterschaft, Zuwendung und Menschlichkeit bedroht von Peinigungen
im Gefängnis sitzt?
Ich gehe daran zu Grunde, Kinder in den Armen ihrer Mütter zu
sehen. Ich sterbe von innen heraus. Ich hasse die Schule, das Leben
und die Straße, da die Gefangennahme meiner Mutter mich jeglichen
Glücks- und Lebensgefühls beraubt hat. Meine Brüder, Ihre Exzellenz,
weinen die ganze Zeit und wollen zeitweise weder etwas essen noch
etwas trinken. Sie wissen nicht, was Spielplätze sind. Sie schlafen
mit Angst und Tränen ein und wachen mit Angst und Tränen auf. Sie
haben nur eine Frage: Wann kommt unsere Mutter zurück?"
Sandy setzt ihren Brief fort: „Sie sind doch die Vereinten
Nationen. Man lehnt es ab, unsere Mutter nur für ein paar Stunden
freizulassen. Man hindert uns daran, uns mit ihr zu treffen – nur
für wenige Sekunden. Sie quälen uns jede Sekunde. Und weil wir
Palästinenser sind, war die Inhaftierung meiner Mutter noch nicht
genug, denn sie sind vor einem Jahr abermals in unser Haus
eingerückt und haben meinen Vater mitgenommen. Das war eine Szene,
die ich niemals vergessen werde, denn ich wachte auf, als Geschosse
und Granaten einschlugen. Ich hörte die Schreie der Soldaten, deren
Gesichter schwarz angemalt waren. Sie hielten unterschiedliche
Waffen in ihren Händen. So drangen sie in unser Haus ein,
verhafteten unseren Vater und ließen uns ohne Mutter und Vater
alleine zurück. Wir wissen bis jetzt nicht, wie lange wir dieses
Schicksal noch werden ertragen müssen.
Mein Vater und meine Mutter sind eingesperrt, und ich bitte das
Gewissen der Welt, uns zu helfen, während wir alleine sind, und
unsere Großmutter Tag und Nacht weint. Einige ihrer Söhne wurden
getötet und andere ins Gefängnis verbracht. Wir weinen und wissen
alle, dass das Leben eine Mischung aus Tränen und Verzweiflung ist.
Die Besatzung hört unseren Schreien nicht zu und stiehlt uns unsere
Kindheit.
Werden Sie unser Weinen erhören?
Wir wollen kein Geld oder Öl oder Gold oder Häuser oder Spiele
oder Spielplätze. Wir haben nur einen Wunsch. Wir bitten Sie, uns zu
helfen, meine Mutter zu erreichen. Wir sind müde vom Warten, Betteln
und Hoffen, während wir zwischen dem Roten Kreuz, dem Roten Halbmond
und der Gefängnisverwaltung unterwegs sind. Wir wünschen uns eine
Gelegenheit, die Wärme unserer Mutter und unseres Kindseins zu
spüren. Wir wollen unsere Mutter und unseren Vater haben!“
Palestine News Network. vom19.04.05
Übersetzung in Deutsche Gabriele Al
Dahouk