Der Wunsch, ein Vogel zu
sein
Palästinenser sein
Mike Odetalla
Übersetzt von Einar Schlereth
In dieser Welt ein Palästinenser zu sein, ist wirklich
eine einzigartige Erfahrung. Man beginnt zu spüren, dass man ”anders”
ist als alle anderen, in dem Augenblick, in dem man zu verstehen und zu
begreifen beginnt, was das Geburtsrecht für dich bedeutet. Durch die
einfache Tatsache, dass man geboren wird und auf dem schmalen
Landstreifen zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer lebt, führt
dich dein Leben auf einen Weg, den andere nicht völlig verstehen können.
Die einfache Ankunft in dieser Welt wird mit
Misstrauen und nicht wenig Sorge beobachtet. Du bist nicht einfach ein
neues Baby: du bist eine statistische Zahl, die gezählt und beobachtet
wird von jenen, die sich nicht Sorgen um dein Wohlergehen und deine
Zukunft machen, sondern um die Tatsache, dass ein weiterer Palästinenser
der ”demographischen Gleichung ” hinzugefügt wurde. Diejenigen, die die
Demographie mit Sorge betrachten, wären glücklicher, wenn du überhaupt
nie geboren worden wärst. Deine Ankunft vergrössert ihre Sorge, dass sie
die Mehrheit verlieren könnten. Eine Mehrheit, die auf Rasse und
Religion gründet, und obwohl du deine Vorfahren auf diesem Landstreifen
tausende Jahre zurückverfolgen kannst, bist du in den Augen der
Demographen dort nicht willkommen.
Vom ersten Tag an, wo man die Umgebung zu verstehen
und zu begreifen beginnt, versteht man auch die Bürde, ein Palästinenser
zu sein. Während andere Kinder in der Welt in einer Atmosphäre relativer
Sicherheit und Freude spielen und lernen, kannst du es nicht. Dein Leben
wird von den ständig gegenwärtigen Besatzern reguliert: den Siedlern und
den Soldaten. Während andere Kinder ihre Unschuld behalten, die zur
Kindheit gehört, wird deine zerschlagen und traumatisiert durch den
Anblick und den Lärm eines endlosen dich umgebenden Zermürbungskrieges.
Dinge, die Erwachsene in anderen Teilen der Welt vor Schrecken
erbleichen lassen, sind Teil des täglichen Lebens und der alltäglichen
Routine. Du wirst genauso hart wie deine Umgebung. Die Kinderspiele sind
nicht mehr unschuldig und verlieren Sinn und Intresse für dich. Die
Spiele, die du spielst, spiegeln die Verzweiflung der palästinensischen
Realität wider. Während andere in die Zukunft schauen und planen, bist
du damit beschäftigt, die Gegenwart zu überleben.
Dein Vater, einst die Säule deines Lebens, der Mann,
der dir ein Gefühl von Sicherheit und Glück gab, kann keine Arbeit mehr
finden, um deine Familie zu ernähren. Er wird seiner Kleider und seiner
Ehre beraubt, direkt hier vor den Augen der ganzen Welt: du fängst an zu
sehen, dass er nicht dein Wohlergehen garantieren kann. Dein Herz tut
weh, ihn in solch einem Licht zu sehen. In deinem jugendlichen Zorn
möchtest du, dass er trotzend zurückschlägt, um in deinen Augen den ihm
zustehenden Platz wieder einzunehmen. Doch die Realität ist, dass er es
nicht kann, und du beginnst zu verstehen, dass es nicht aus Furcht für
seine eigene Sicherheit ist, sondern aus Angst um dein Wohlergehen und
das deiner Geschwister ist. Du beginnst, die grosse Bürde zu verstehen,
die auf seinen Schultern lastet – in Schweigen und einsamem Leiden.
Deine Mutter, das Symbol für alles, was gut und rein
ist in dieser Welt, wird darauf reduziert, zu betteln und zu bitten, um
von einem Platz zum nächsten zu kommen. Du beobachtest mit Schrecken und
Wut, wie ein junger israelischer Soldat Gottlosigkeiten brüllt und
abschätzige Bemerkungen über sie macht. Aber sie hält stand und mit der
Geduld, die nur eine palästinensische Mutter haben kann, beharrt sie auf
ihrem Vorhaben. Sie ist in den Vordergrund gedrängt worden in dem
Versuch, die Familie zu versorgen und am Leben zu halten. Sie erträgt
die grössten Erniedrigungen an den Kontrollpunkten, um deinem Vater eine
noch schlimmere Behandlung zu ersparen. Sie tritt mit mütterlichem
Instinkt zwischen dich und die Gefahr, schützt dich vor sicherem
Schaden. Du fragst dich, was sie denkt in schlaflosen Nächten, aber du
wirst es nie wissen, denn sie trägt ihre Last mit totalem Schweigen.
.
Ben Heine,
Tlaxcala
Du gehst zur Schule, wenn es erlaubt ist, und
bekommst gute Noten, doch tief im Herzen weisst du, dass, egal wieviel
Erziehung du geniesst, du bestenfalls einen schlecht bezahlten,
niedrigen Job bekommen wirst. Du siehst die jungen Männer täglich in
denselben Strassen sich versammeln, in einem Ritual aus Langeweile und
Vergeblichkeit. Sie haben entweder ihre Erziehung beendet oder haben
einfach aufgegeben aus Frustration und Hoffnungslosigkeit. Ihre Zahl
scheint täglich zu wachsen, da die Aussichten auf eine hoffnungsvolle
Zukunft sich verringern. Dies, so beginnst du zu verstehen, ist ein
Nebenprodukt der Besatzung, des Kolonialismus und der ehernen Politik,
dein Volk unten zu halten, verzweifelt und zerbrochen. Du beginnst die
Einsamkeit in dieser Welt zu spüren, zu verstehen, dass der Rest der
Welt nichts von deinem Schicksal weiss oder einfach nichts wissen will.
Du siehst die Bilder deiner Folterer im Fernsehen, die nur wenige
Kilometer entfernt leben, die das gute Leben leben, das sie dir
verweigern. Dein Leben, dein Heim, dein Land, deine Geschichte wird
kontinuierlich gestohlen, zerstört und durch andere enteignet.
Du beobachtest mit Neid und Wut, wie andere die
Freiheiten geniessen, die dir verboten sind. Während andere um die Welt
reisen und behaupten, die Welt sei ”kleiner” geworden, spottest du über
sie, weil du nicht einmal ein paar Kilometer reisen kannst, um deine
Familie, deine Lieben und deine Heimat zu besuchen. Deine Welt wird
kleiner und mit jedem Tag klaustrophobischer, voller Checkpoints,
Sperren und Ausgehverboten. Du unterscheidest dich nicht gross von dem
Kanarienvogel, den du im Käfig hältst, ja, er ist vielleicht noch besser
dran als du. Du nimmst ihn heraus und lässt ihn frei und beobachtest mit
Neid, wie er hoch zum Himmel fliegt. Endlich frei ... ein freier Vogel
in Palästina. Du beneidest diesen Vogel und wünscht, dass du auch so ein
Vogel wärest ...
Quelle:
Being Palestinian
Originalartikel
veröffentlicht am 11.3.2009
Einar Schlereth ist
ein Mitglied von
Tlaxcala,
dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese Übersetzung kann
frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert
wird und daß sowohl der Autor, der Übersetzer, der Prüfer als auch die
Quelle genannt werden.
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