Representative in
Palestine & Israel
Die nicht anerkannten
Beduinen-Dörfer in der israelischen Negev-Wüste
Grenzen in Palästina
und Israel (7) - 31.03.2009
Yassin
ist dreieinhalb Jahre alt. Er ist der älteste Sohn von Sara und Iyad.
Im Alter von sechs Monaten begann sein Asthmaleiden. Seine
Asthmaanfälle sind stark und häufig – etwa vier Mal im Monat. Er
benötigt ein elektrisches Atmungsgerät. Bekommt er nächtens einen
Anfall, schaltet sein Vater den Generator ein, damit der Junge das
Atmungsgerät nutzen kann. Geschieht dies am Morgen, kann ihn sein
arbeitsloser Vater zu einer nahe gelegenen Tagesklinik bringen. Ist
diese geschlossen, muss er ihn viel weiter fahren, in das jüdische
Städtchen Arad. Der Preis für jeden Besuch beträgt 75 Schekel, etwa
15 Euro. Um in eine dieser beiden Kliniken zu kommen, müsste die
Familie ein Auto haben. Da sie keines besitzen, laufen sie fünf
Kilometer zu Fuß bis zur Hauptstraße und warten dort auf einen Bus.
Die notwendigen Medikamente, die Yassin erhält, müssen stets gekühlt
aufbewahrt werden. Ansonsten verlieren sie ihre Wirkung und müssen
entsorgt werden. Die Familie hat dafür einen »kühlen« Platz
gefunden: unter dem Kleiderschrank oder in einer Kühltruhe, die sie
extra für diesen Zweck gekauft haben. Doch dieser funktioniert nur
für kurze Zeiträume, nämlich dann, wenn der Generator eingeschaltet
ist.
Yassin
hat das Pech, in einem nicht anerkannten Beduinendorf im
israelischen Süden geboren worden zu sein. 145000 Beduinen leben in
der Negev-Wüste, mehr als die Hälfte von ihnen, etwa 83000 Menschen,
lebten in 45 Dörfern, die vom Staat nicht anerkannt werden. Die
dortige Bevölkerung existiert für die Behörden einfach nicht.
Folglich unterscheiden sich die Lebensbedingungen dieser
israelischen Staatsbürger enorm von denen anderer Israelis. So sind
sie etwa nicht an das Stromnetz angebunden. Einzig private
Generatoren sorgen für Strom, doch diese sind zu teuer für die armen
Beduinen.
Zu Besuch
Die
Dörfer bestehen aus einer Ansammlung von ärmlichen Baracken, in
denen die Bewohner den extremen Wetterbedingungen der Wüste fast
schutzlos ausgesetzt sind. Feste Bauten sind illegal und werden oft
abgerissen. Bei meinem letzten Besuch führten mich Kollegen von den
»Ärzten für Menschenrechte – Israel«, einem langjährigen Partner von
»medico international«, zu den Ruinen eines abgerissenen
Kindergartens, den die Dorfbewohner aufgebaut haben, mit Geldern,
die sie selbst aufgebracht hatten. Kindergärten darf es dort nicht
geben, und in den Dörfern gibt es auch keine einzige Schule für
Jugendliche, die die achtjährige Grundschule beendet haben. Der
Staat weigert sich außerdem, die Dörfer an das Straßennetz
anzubinden oder überhaupt Straßen dort zu bauen. Vielleicht ist das
der Grund, dass keine öffentlichen Verkehrsmittel die Dörfer
erreichen.
Die Dörfer sind zudem nicht an
das Wassernetz angebunden. Die Bewohner verbringen deshalb einen
Großteil ihrer Zeit damit, Wasser zu besorgen. Auch die Müllabfuhr
kommt nicht dorthin. Der Müll von Zehntausenden Menschen wird
einfach nicht gesammelt. Dazu kommt, dass die Dörfer auch kein
Abwassersystem besitzen. Die Bewohner haben selbst für Ersatz
gesorgt und ein Abwassersystem, bestehend aus Auffangbecken,
aufgebaut, damit ihr Abwasser das Grundwasser nicht kontaminiert.
Das
alles führt dazu, dass die Hygienebedingungen äußerst schlecht sind.
Jeden August etwa verbreitet sich vor allem unter den Kindern –
immerhin 60 Prozent der Bevölkerung dieser Dörfer – eine
Durchfallepidemie. Es wundert also nicht, dass etwa 80 Prozent der
Kinder im zentralen Negev-Krankenhaus in Beer Shewa Beduinenkinder
sind. Das führt zu einer Überlastung der Gesundheitsdienste. Doch
diese sind kaum dafür gerüstet: Die lokalen Kliniken sind alle in
Wohnwagen untergebracht. Strom erhalten sie von Generatoren, die
nach Feierabend ausgeschaltet werden, sodass Medikamente nicht
gekühlt gehalten werden können. Wasser gibt es in diesen
Tageskliniken auch nicht. Es gibt viel weniger Ärzte als für
jüdische Israelis, die Ärzte – allesamt Familienärzte – sprechen
kein Arabisch. Weit und breit kein spezialisierter Arzt, kein
Zahnarzt. Ambulanzen kommen nicht in die Dörfer; Patienten müssen
selbst zusehen, wie sie zu festen, in der Regel einige Kilometer
entfernten Sammelplätzen kommen, von wo aus sie abgeholt werden.
Die Beduinen und die
Zwangsmodernisierung
Die
Beduinen in der Negev-Wüste blicken auf eine lange Geschichte von
gezielter Benachteiligung. 1948, vor der Gründung Israels, lebten im
heutigen Staatsgebiet etwa 90.000 Beduinen. 85 Prozent wurden
Flüchtlinge in benachbarten arabischen Staaten, vor allem im
Gazastreifen und in Jordanien. Circa 13.000 blieben in Israel und
siedelten in die Negev-Wüste um. Dort wurde ihr Gebiet von der
israelischen Armee umzäunt. Das Gebiet wurde zur Militärzone
erklärt, und die Beduinen durften es ohne Genehmigung nicht
verlassen. Da die gesamte Beduinenbevölkerung in einem relativ
kleinen Gebiet angesiedelt wurde, lebten jetzt viele Familien auf
Land, das anderen Familien gehörte. Spannungen entstanden zwischen
den Landbesitzern und den Entwurzelten. Es ging um Weideland, um
Wasser. Bis Mitte der Siebzigerjahre baute der Staat sieben
Städtchen, in denen die Beduinen leben sollten. Doch den städtischen
Charakter empfanden die Beduinen als fremd, die Stadtplanung wurde
ihrer Lebensweise nicht angepasst.
Unter den Opfern dieser
gewaltsamen »Modernisierung« sind die Beduinenfrauen. Diese dürfen
traditionell keinen Blickkontakt mit Fremden haben. Der Übergang zu
städtischem Umfeld wurde nicht durch Bemühungen um einen Wandel der
Lebensweise begleitet, so dass die Frauen, die früher ein großes
Gebiet durchschreiten konnten, ohne einem Fremden begegnen zu
müssen, sich jetzt auf das eigene, kleine Grundstück beschränken
mussten. In ihren Häusern gefangen können sie nicht einmal zum
Lebensunterhalt der Familie beitragen. Viele von ihnen leiden unter
Übergewicht und Diabetes. Insgesamt führte die israelische Politik
dazu, dass sich die Clanstrukturen, die allgemein als Hemmnis für
eine Modernisierung erkannt wurden, eher verstärkten.
Der Zwist zwischen den
Beduinen in den nicht anerkannten Dörfern dreht sich zuallererst um
Land. Israel erkennt ihre Besitzrechte auf das Land nicht an. Die
Beduinen weigern sich, ihr Land zu verlassen und damit ihren
Anspruch auf das Land aufzugeben. Die von ihnen geforderte Fläche
sei um einiges kleiner als das Land, das sie vor der Staatsgründung
das ihre nannten. Darüber hinaus verweisen sie auf eine schon
getroffene Übereinkunft, nach der sie das ihnen jetzt zur Verfügung
stehende Land behalten dürfen und im Gegenzug auf etwaiges, schon
von Juden besiedeltes Land verzichten.
Auf das Argument der
israelischen Administration, die Beduinen wären für ihre Lage selbst
verantwortlich, da sie sich weigern, in legale Siedlungen
umzuziehen, reagieren die gewählten lokalen Vertreter der Beduinen
mit dem Hinweis auf die Lebenslage der Beduinen, die in die sieben
Städtchen umzogen: Zwar stellen die Beduinen 27 Prozent der
Gesamtbevölkerung der nördlichen Negev-Region dar, doch der Staat
sieht für sie lediglich ein Prozent des Gebiets vor. Die sieben
Städtchen in diesem Gebiet sind bis heute Geisterstädte geblieben,
in denen sich keine einzige Fabrik angesiedelt hat. Viele sind
arbeitslos, und die Beduinen befinden sich nach wie vor ganz unten
auf der sozioökonomischen Leiter des Staats.
Forderung nach Anerkennung
Die Beduinen, die nicht in
diese sieben Städtchen gezogen sind, fordern die Anerkennung der
bestehenden Dörfer. Diese existierten zu einem Großteil schon vor
Gründung des Staates und erfüllten mit 600 bis 4.000 Einwohnern alle
Parameter für die Anerkennung als Dörfer nach israelischem Recht.
Sie weisen darauf hin, dass die Beduinen der Negev-Wüste schon vor
der Staatsgründung in festen Dörfern lebten, zu denen sie immer
zurückkehrten, nachdem sie ihre Herden zur Weide gebracht hatten.
Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihnen lediglich nur die
Besiedlung in Kleinstädten angeboten wird, während es jüdischen
Bewohnern der Negev-Wüste freisteht, in Dörfer, Städtchen, Städte
oder einzelne Bauernhöfe zu siedeln. Während der Staat alles tut,
Juden zum Umzug in die Negev-Wüste zu bewegen und deshalb Land und
die üppige Infrastruktur, sprich all das, was die Beduinen nicht
erhalten, wie Anschluss ans Wasser- und Stromnetz, Schulen oder
Straßen, fast kostenfrei zur Verfügung stellt. Ariel Scharon
persönlich wurde im Süden Israels eine riesige Fläche zur freien
Verfügung gestellt, auf der er eine enorme private Farm aufbauen
konnte, in der ironischerweise vor allem Araber und Gastarbeiter
anheuern.
Während des Kriegs in Gaza
kamen die nicht anerkannten Dörfer kurz in die israelischen
Nachrichten, in denen sie ansonsten kaum Erwähnung finden:
Qassam-Raketen aus Gaza sind auch in der Nähe der Beduinendörfer
gefallen. »Nicht erwähnt wurde jedoch die Tatsache, dass sich keiner
um die Sicherheit der Einwohner gekümmert hatte«, sagte Wasim Abbas,
Leiter der Abteilung nicht anerkannte Dörfer der »Ärzte für
Menschenrechte – Israel«. »Die Armee hat sich dort nicht einmal
sehen lassen; es wurden dort – im Gegensatz zu den jüdischen
Siedlungen – keine Alarmsirenen installiert, und die Menschen hatten
keine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen, da die
Häuserabrisspolitik der israelischen Administration auch dazu
geführt hat, dass es keine Sicherheitsräume oder Bunker gibt wie in
den nahe gelegenen jüdischen Siedlungen.«
Zuerst erschienen in
Kommune 02/2009
|