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Friedlicher Widerstand in der Westbank: Interview mit Jamal Juma‘

Jamal Juma’: Die PA „eliminiert“ den zivilen Widerstand

Electronic Intifada, 8. August 2011

Nur wenige Palästinenser sind  mit dem Kampf gegen Israels Mauer in der Westbank enger verbunden als Jamal Juma’. Als Koordinator der 2002 gegründeten palästinensischen Grassroots Anti-Apartheid Wall Campaign hat Juma’ aufgrund seiner politischen Aktivitäten gelitten. Er wurde Ende 2009 und Anfang 2010 inhaftiert, hat aber nach seiner Freilassung beharrlich gegen ein Projekt gearbeitet, das der Internatioalen Gerichtshof für illegal erklärte.

Juma’ sprach mit Ida Audeh von der Electronic Intifada über den Mangel an zivilen Widerstandsaktionen in den von der PA[Palästinensischen Autorität] kontrollierten Gebieten der Westbank, den Gang der PA zur UN und die Rolle der palästinensischen Diaspora für die nationale Befreiung.1)

Ida Audeh: Vor neun Jahren begann die Kampagne gegen die Mauer. Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?

Jamal Juma’: Wir wollten die Konstruktion der Mauer stoppen, die bereits gebauten Sektionen niederreissen und den Bauern ihre Eigentum zurückgeben. Übrigens sind diese Ziele mit den 2004 gegebenen  Empfehlungen des Internationalen Gerichtshofes identisch. Seit 2004 haben wir zu einem Boykott Israels aufgerufen.

IA: Nach einem neuen Bericht der UN, “Zum letzten Stand des Barrierebaus: Sieben Jahre nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofes zur Barriere” wurden 30 Prozent der Mauer bis jetzt nicht gebaut. 2) Wird die Mauer langsamer fertiggestellt als ursprünglich geplant?

JJ: Der zivile Widerstand hat vor allem die Fertigstellung verlangsamt. Als Israel 2002 mit dem Bau der Mauer begann, sollte sie 2005 fertig sein. Damals sprach die Regierung von einer 650 bis 700 Kilometer langen Mauer. Die Konstruktion wurde in einigen Gebieten wegen des Widerstandes in den betroffenen Orten unterbrochen. Gerichtsverfahren wurden angestrengt, was sechs bis sieben Monate in Anspruch nahm, in denen die Bauarbeiten eingestellt wurden. So wurde die Frist von 2005 auf 2008 verschoben. 2008 auf 2011. Und dieses Jahr konnten sie [den Mauerbau] auch nicht abschliessen, als wurde 2020 als neues Datum gesetzt. [Die Länge der Mauer soll dann 810 Kilometer sein.] 

IA:Wie haben Sie auf das 2004 formulierte Gutachten des Internationalen Gerichtshofes reagiert?

JJ: Die Entscheidung wurde im Rahmen des Internationalen Rechtes gefällt, und das hatte einen enormen Einfluss weltweit zum Thema des Boykotts gegen Israel. Die Entscheidung gab den Aktivisten gegen die Mauer, Siedlungen und in Jerusalem international eine Basis im Recht, weil die Entscheidung alle diese Themen ansprach. Aktivisten konnten sich bei ihren Boykottaufrufen und Aktionen gegen die Mauer auf diese Entscheidung des Gerichtes berufen.

Man muss auch auf den offiziellen politischen Aspekt hinweisen. Druck wurde auf die PA und die Palästinensische Befreiungsorganisation ausgeübt, das Urteil in der Schublade zu lassen und nicht danach zu handeln. Also wurde die Entscheidung eingefroren und bis heute nicht vor den  Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gebracht.

Heute, mehr als zu jeder anderen Zeit, nach dem die Politik in eine Sackgasse geraten ist, nach dem Kollaps der sogenannten Verhandlungen und angesichts der klaren Position der USA, die Siedlungen bedingungslos zu unterstützen, sagen wir, dass die Zeit für eine Konfrontation gekommen ist. Wir müssen einen weltweiten Kampf in der Arena des Internationalen Rechtes beginnen. Als erstes muss die PA die Implemitierung dieser Empfehlung vor dem Sicherheitsrates und anderen internationalen Foren einleiten.

IA: Wie effektiv war die Kampagne vor Ort bei der Mobilisierung der Menschen? In Ramallah lebt man anscheinend in einer Blase. Es sieht so aus, als müssten Bilin, Budrus und andere Orte im Distrikt von Ramallah alleine gegen die Mauer ankämpfen.

JJ:Wir sind eine Widerstandsbewegung der breiten Bevölkerung, und es ist sehr wichtig, dass wir die Akteure auf der nationalen Ebene dazu bringen können, ihr ganzes Gewicht hinter den zivilen Widerstand zu bringen, ihn zu ihrer obersten Priorität zu machen. Alle sprechen vom zivilen Widerstand, aber in der Praxis denkt keiner an eine Implementierung.

Ein weiterer Grund, weshalb Gemeinden wie Bilin oder Budrus alleine Widerstand leisten: 70 Prozent der Bevölkerung in der Westbank lebt in der Zone A unter der Kontrolle der PA, und sie werden daran gehindert, am zivilen Widerstand teilzunehmen. Mindestens 95 Prozent der Flüchtlingslager befinden sich in der Zone A, ebenfalls die grössten Städte. Die PA vertritt den Standpunkt, dass Menschen, die in der Zone A leben, keinen Widerstand leisten sollten, als ob Zone A befreit sei. Das ist tödlich für den zivilen Widerstand. Wenn man 70 Prozent der Bevölkerung ausschliesst, dann unterstützt man einen breiten Widerstand nicht.

[Herausgeber: Den Oslo Verträgen folgend wurde die Westbank 1993 in die Zonen A, B und C aufgeteilt. Die Palästinensische Autorität hat in Zone A begrenzte Autonomie; Zone B ist unter israelisch/palästinensischer Kontrolle und Zone C, die 60 Prozent der Westbank umfasst, wird von der israelischen Zivilbehörde [Israeli Civil Administration] kontrolliert.

Also können die Dörfer in der Zone C, die im Weg der Mauer stehen, Aktionen gegen die Mauer organisieren. Aber wenn wir in die Zone A gehen wollen, warten die palästinensischen Sicherheitskräfte bereits auf uns. Wir müssen damit Schluss machen. Wenn es einen weitverbreiteten nationalen Aktivismus geben soll, dann muss man sich auf eine nationale Strategie einigen. Wir haben meiner Meinung nach das Recht, auf jedem Zentimeter besetzten Landes Widerstand zu leisten.

IA: Warum gibt es noch so viele israelische Produkte in unseren Geschäften?

JJ‘: Wir haben schon lange zu einem kompletten Boykott israelischer Produkte aufgerufen. Dann kam die PA mit der Idee eines Boykotts von Produkten aus den israelischen Siedlungen. Das würde ein Drittel der israelischen Produkte ausschliessen; wenn man sie ganz eliminieren würde, dann würde man 50 Prozent der israelischen Produkte aus unserem Markt entfernen, weil viele israelische Firmen in den Siedlungen arbeiten. Aber was hat die PA erreicht? Man hat das Gefühl, dass das Thema erledigt ist, als ob sich die PA das Thema aufgeladen hätte und es wieder loswerden möchte.[…]Als sie das Projekt ursprünglich ankündigten, sollten bis zum Ende des Jahres 2010 keine Produkte von israelischen Siedlungen [auf dem Markt] hier sein. Aber in Wirklichkeit gibt es jetzt mehr Produkte, nicht weniger. Ramadan kommt, und die meisten Ramadan Produkte kommen aus den Siedlungen.[…]

IA: Wie haben Sie darauf reagiert?

JJ: Wir haben eine Boykottkampagne von unten begonnen, mit Aktionen in Städten und Dörfern. Gruppen gingen in die Geschäfte, zu Institutionen, in Industriegebiete und sprachen mit den Besitzern darüber, keine israelischen Waren zu bestellen. Wir sprechen das in Sommerlagern an, und wir haben grosse Fortschritte in den Mensen der Universitäten gemacht. Es war sehr mühsam, aber viele verkaufen keinerlei israelische Waren mehr. Wir versuchen das Gleiche in den Schulen, durch die Meldungen am Morgen und auf andere Weise. Das ist kein einfaches Thema; es erfordert grosse Anstrengungen und die Zusammenarbeit von viele Gruppen, von den Gewerkschaften zu Frauengruppen und Studentengewerkschaften.

IA: Die Werbung für den Boykott von israelischen Waren wird erschwert, wenn man Wirtschaftsprojekte wie Rawabi hat, dem Immobilienprojekt unter Leitung des palästinensischen Geschäftsmanns Bashar Masri und unter der Beteiligung von israelischen Firmen.3)

JJ: Die palästinensische Mittelschicht verschwindet. Viele grosse Firmen und einige Individuen haben die Kontrolle der Wirtschaft übernommen. Leider haben diese grossen Firmen politischen Einfluss und Beziehungen zu Politikern, und sie können jegliche Art von nationalen Aktionen verhindern. Wenn man für einen Boykott arbeitet, dann kommt man mit den örtlichen Maffiagruppen ins Gehege, die politischen Einfluss haben. Sie sind durchaus willens, einen kalt zu stellen.

IA: Im Juli empfing Mahmoud Abbas von der PA den griechischen Präsidenten in Ramallah, anscheinend ohne Rücksicht auf die Empörung, die eine solche Geste angesichts des unverhältnismässig massiven Angriffs der griechischen Regierung auf die zweite Freiheitsflotille auslösen musste.

JJ: Das war eine schreckliche Entscheidung.[...]

Letztendlich muss sich die palästinensische Führung fragen, wie lange sie auf die Amerikaner setzten wollen. Wir müssen die Vergangenheit realistisch analysieren und uns auf eine neue Strategie einigen. Ich glaube nicht, dass die gegenwärtige politische Situation, das politische Kräfteverhältnis und die nationalen Akteure das bewerkstellen können. Deshalb brauchen wir nationalen und internationalen Druck, Druck von unseren Freunden, um neue Strategien zu entwickeln, um den zivilen Widerstand in der ganzen Westbank zu aktivieren und unterstützen, nicht nur in der Zone C und den Gebieten nahe der Mauer; wir müssen uns organisieren und brauchen eine vereinte Führung.

Wir müssen die internationale Solidarität und internationales Recht in zwei Bereichen aktivieren: Wir müssen erreichen, dass die palästinensische Führung eine internationale Boykottbewegung voll und bedingungslos unterstützt und wir müssen von der Welt fordern, dass Israel boykottiert und sanktioniert wird. Die Resolution  zur Mauer muss noch einmal vor die UN und den Sicherheitsrat gebracht werden. Die Goldstone-Resolution [zu Israels Kriegsverbrechen in Gaza] muss implementiert werden. Es gibt Dutzende von Resolutionen, einschliesslich der Resolution 181[Teilungsresolution] und der Resolution zum Rückkehrrecht der Flüchtlinge. All diese Resolutionen müssen bei der UN zur Sprache kommen.

IA: Die PA will im September zur UN gehen und die Anerkennung eines palästinensischen Staates beantragen. Stimmen Sie mit dieser Position überein?

JJ: Wir haben mit den nationalen Organisationen, mit linken und demokratischen Gruppen und Institutionen und mit palästinensischen Menschenrechtsorganisationen [und Organisationen der Zivilgesellschaft] gesprochen.[...]Wir kamen zur Schlussfolgerung, dass wir in der Tat zur UN gehen sollten, aber nicht, um einen Staat entlang der Grenzen von 1967 zu bilden. Wir sollten fordern, dass die Mitgliedschaft der PLO zum Status eines Staates angehoben wird. Die Strategie [vor die UN zu gehen] beeinflusst das Rückkehrrecht [der palästinensischen Flüchtline], palästinensische Rechte oder die PLO nicht.

Wir werden weiterhin mit der Bevölkerung in allen Distrikten konsultieren.[...] Die Leute wissen nicht, was die PA will.

IA: Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach die Palästinenser im Westen übernehmen?

JJ: Wir wollen, dass Palästinenser nicht aus Loyalität für Fatah oder Hamas handeln, sondern aus Loyalität für die Sache und was ihr dient. Geschieht das nicht, ist zu allererst das Recht auf Rückkehr bedroht. Palästinenser im Ausland müssen sich dessen bewusst sein und sich organisieren; sonst wird es geopfert.

Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Phase. Wir sind in einer Sackgasse. Es muss ein echtes palästinensisches Erwachen geben. Palästinenser in der Diaspora könnten den Weg entscheidend verändern. Sie umfassen 70 Prozent der Palästinenser und müssen ihren Beitrag leisten. Die [Palästinenser] hier [in der Westbank und Gaza] sind die Gefangenen der Besatzung und der Amerikaner. Die Diaspora kann ihre Forderungen koordinieruen und mit allen Aktivisten zusammenarbeiten. Die ausserordentlichen Anstrengungen der zionistischen Lobby und ihre Erpressung von internationalen Insitutionen machen ein Gegengewicht erforderlich, eine koordinierte Anstrengung. Um den Herausforderungen gerecht zu werden, müssen wir uns organisieren und wissen, was wir wollen.

Ida Audeh ist eine Palästinenserin aus der Westbank; sie lebt in Boulder, Colorado. Ihre Artikel erschienen in The Daily Camera, The Electronic Intifada, Countercurrents and Counterpunch.

1)       http://electronicintifada.net/content/jamal-juma-pa-killing-popular-resistance/10249

2)       http://www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_barrier_update_july_2011_english.pdf

3)       Rawabi, and the American mission to civilize the West Bank; mondoweiss.net/.../rawabi-and-the-american-mission-to-civilize-the-...

 

 

Übersetzt von Martina Lauer

 

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