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Das Rückkehrrecht meines Großvaters

 

Von Ramzy Baroud*

 

„Ramzy, ich muss Dir gestehen, es ist hart, in diesen Tagen Palästinenser zu sein …“. Mit diesen Worten schloss meine Freundin – es ist ein paar Monate her – die seit Jahr und Tag für die Rechte der Palästinenser eintritt, ihre verzweifelte Nachricht. Ich entsinne mich oft an ihre Worte, und genau so oft erinnere ich mich an meinen Großvater, der in einem Flücht­lingslager in seiner trüben Behau­sung – entfernt von seinem Dorf und seinem Land – starb.

 

Mein Großvater glaubte daran, dass es ein Segen sei, Palästinenser zu sein. „Du kannst mit keiner Sache betraut werden, die zu verteidigen rechtschaffener wäre als die Verteidigung der palästinensischen Sache, sofern Allah dich außerordentlich gesegnet hat“, sagte er einmal zu mir. Ich fragte mich oft, was diesen alten Mann vorwärts trieb. Er verlor seine Wohnung und den Stolz seines Lebens – sein Land. Er wurde mit Waffengewalt dazu gezwungen, seine Familie wegzubringen und das Dorf Beit Daras zu verlassen, wo sie einst glücklich gelebt hatten. Alt und müde geworden ver­brachte er den Rest seines Lebens in einem Flüchtlingslager, viele Jahre lang im Zelt, dann in einem feuchten Haus, das von den Vereinten Nationen subventioniert wurde.

 

Er starb dort neben seinem Transistorradio.

 

Großvaters Radio war einmal grün gewesen, jetzt war seine Farbe irgendwie zu einem verblichenen Weiß geworden. Es sah arg mitgenommen und zusammengeschustert aus und hielt gerade noch zusammen. Der alte Mann scherte sich wenig um das Aussehen seines Radios. Was lediglich zählte, war, dass das Radio es schaffte, die Nachrichten zu bringen. Die „Voice of London“ in Arabisch, das „Middle East Radio“ oder die „Voice of the Arabs“ waren ständig eingeschaltet. Abends stellte er sein Radio neben sich, wenn er ins Bett ging, damit er den nächsten Morgen mit den neuesten Nachrichten starten konnte. An irgendeinem Tag würde das Radio melden – daran glaubte er – dass die palästinensischen Flüchtlinge heimkehren dürfen. Er trug diesen Glauben mit sich herum, bis er im Alter von 95 Jahren starb – Jahrzehnte, nachdem er aus Palästina vertrieben worden war.

 

Wir möchten Großvater noch gerne sehen, wie er hurtig aus der Küche kommt und zum Radio läuft, oder wie er von einem nachmittäglichen Nickerchen hochfährt und inbrünstig mit dem Finger auf das Radio deutend fragt: „Haben sie etwas über Flüchtlinge gebracht?“ „Nein, Opa“, möchte ihm gerne einer von uns mit einem Lächeln antworten. Er würde zurückkehren zu seinen täglichen Routine­pflichten und die Last vieler Jahre und seine nicht endende Hoffnung dabei auf den Schultern tragen.

 

Aber Großvater starb ein paar Jahre vor dem palästinensischen Aufstand im Jahre 1987.

 

Er war zu alt geworden, um zu gehen, zu alt, um mit Großmutter herumzustreiten, dass die Hühner nicht rechtzeitig gefüttert würden, oder um sich mit einem gleichfalls kränkelnden Nachbarn zu unter­halten. Aber niemals zu alt, um sein kleines Radio liebevoll zu halten mit einer letzten verzweifelten Hoffnung, dass die sehnlichst erwartete Nachricht über die Rückkehr in sein Dorf gebracht würde. Als Großvater seinen letzten Atemzug tat, standen all seine Freunde und seine Familie um ihn herum und murmelten Koranverse. Viele Tränen wurden an diesem Tag vergossen. Ich stand auch in seiner Nähe und hatte vor meiner ersten Begegnung mit dem Tode Angst. Er machte es mir leicht, denn er hatte ein Lächeln auf seinem Gesicht, und bei ihm stand das Radio – ganz auf leise gestellt aber niemals stumm.

 

In seinem Todesjahr gingen viele der älteren Flüchtlinge von uns. Sie wurden auf einem Friedhof, umgeben von den Gräbern jüngerer Flüchtlinge – die meisten von ihnen Märtyrer, die über die Jahre hinweg gefallen waren – begraben. Ich wünschte, ich hätte Großvaters altes Radio behalten können. Aber als ich das Flüchtlingslager verließ, konnte ich viele Erinnerungen hinausschmuggeln: Seine unsterbliche Hoffnung und seinen Stolz, Palästinenser zu sein. Sehr oft und jetzt noch mehr als jemals zuvor erinnere ich mich der Worte meiner Freundin, wie schwierig es doch sei, in diesen Tagen Palästinenser zu sein. Ich besinne mich bei jedem getöteten palästinensischen Kind oder jedem zerstörten Haus darauf, bei jeder Rede, in der Präsident Bush seine visionslose Vision des Nahen Ostens skizziert. Ich erinnere mich daran, wenn ein Gerichtshof in Brüssel den Palästinensern das Recht abspricht, Ariel Sharon für seine Massaker im Libanon aburteilen zu lassen. Ich denke daran, wenn ein holländischer Beamter mich lange festhält, um mich zu durchsuchen, was den ganzen Abflug verzögert – nur, weil ich Gaza geboren bin. Ich rufe sie mir in Erinnerung, wenn mein Vater mit mir telefoniert, nur um mir zu erzählen, dass die Israelis seine Nachbarschaft bombardieren. Ich denke nicht jeden Tag daran sondern jede Stunde.

 

Aber ich erinnere mich auch an die Worte meines Großvaters: „Du kannst mit keiner Sache betraut werden, die zu verteidigen rechtschaffener wäre als die Verteidigung der palästinensischen Sache, sofern Allah dich außerordentlich gesegnet hat“. Oft frage ich mich, warum mein alter, enteigneter und kränklicher Opa in seinem feuchten Haus mit einem Lächeln auf dem Gesicht starb. Wir werden eines Tages alle sterben, Reich und Arm, Staatsbürger und Staatenlose, Palästinenser und Israelis, Präsidenten und Flüchtlinge. Es ist der letzte und ausschlaggebende Moment … als Opa seinen letzten Atemzug tat ... der zählt. Er lebte ein entbehrungsreiches Leben, ein Flüchtling mit seinem liebsten Besitz, nämlich einem schäbigen Transistorradio. Aber er starb als Palästinenser, der niemals seine Rechte auf’s Spiel setzte. Er starb stolz und mit einem Lächeln, hinterließ uns nichts als ein Transistorradio und einen Überfluss an Hoffnung. Großvater kehrte nie zu seinem Dorf Beit Daras zurück, aber ich weiß, dass meine Kinder es eines Tages tun werden.

 

* Ramzy Baroud ist altgedienter arabisch-amerikanischer Journalist und Autor eines demnächst erscheinenden Buches mit dem Titel „A Force to be Reckoned With: Writings on the Second Palestinian Uprising“ („Gewalt, mit der man rechnen muss: Berichte über die palästinensische Zweite Intifada“)

 

07.06.2005, Übers. v. Gabriele Al Dahouk

 

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