Gaza: wie das
Besatzungs- und Kontrollsystem zu extremer Anwendung von Gewalt
führt
Von: Arabisches Bildungsinstitut, (AEI-Open Windows) Bethlehem,
Fuad Giacaman, 14.1.09
Die Gewalt, der die Bevölkerung des
Gazastreifens im Augenblick ausgesetzt ist, ist der Höhepunkt
eines Systems von in einander greifenden Kontrollpraktiken,
die von Israel während der Besatzungs- und Belagerungsjahre
entwickelt wurden.
Dieses System in Frage zu stellen und gleichzeitig die
palästinensische Standhaftigkeit (Sumud) und die nationalen und
individuellen Rechte zu unterstützen, sind nun wesentlich, um die
menschliche Sicherheit der Palästinenser wahrzunehmen.
Ein Hauptelement des Kontrollsystems, dem die Palästinenser nun in
extremer Weise im Gazastreifen ausgesetzt sind, ist die radikale
Ungleichheit von Macht zwischen der palästinensischen und
israelischen Gesellschaft. Dies wird ganz besonders deutlich bei
der Kapazität, militärische Gewalt zuzufügen, die wie im Falle
Israels etwa 1000 mal größer ist als im Falle der staatenlosen
Palästinenser. Weniger deutlich ist der Unterschied bei der
Kapazität der Gewalt, die durch Mittel der Verwaltung ausgeführt
wird. Bei der Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung in der
Westbank und im Gazastreifen hat die israelische Armee während der
jahrelangen Besatzung sich daran gewöhnt, weitreichende
einschränkende Entscheidungen über das Leben der palästinensischen
Zivilisten zu machen. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass
die Armee eine totalitäre Kontrolle ausübt. Diese Entscheidungen
betreffen nicht nur die physische Integrität, sondern berühren
tatsächlich jeden kleinsten Aspekt im Leben der Palästinenser. Das
gewöhnliche Gespräch im Alltag der Palästinenser dreht sich um die
Folgen der Besatzung und Belagerung, egal ob es sich um familiäre
Beziehungen handelt, um Schule und Studium oder Arbeit. Die
israelische Kontrolle wird im Wesentlichen durch den abgesperrten
Zugang von Straßen ausgeübt und die sehr selektive Gewährung von
Genehmigungen jeder Art von Aktivitäten.
Entscheidungen über
Leben und Tod
Während solche Praktiken nach dem humanitären Völkerrecht bis zu
einem gewissen Grad in Kriegssituationen ausgeführt werden dürfen,
ist das gegenwärtige Kontrollsystem Jahrzehnte alt und wurde zum
Teil des normalen täglichen Lebens in Palästina. Israelische
Soldaten und Verwaltungsangestellte betrachten es als normal, dass
sie – als wären sie Gottes Vertreter – routinemäßig Entscheidungen
über Leben und Tod anderer treffen dürfen. Absolute Macht nehmen
sich nicht nur lokale Kommandeure oder Bürokraten, sondern auch
sehr junge Soldaten und Reservisten . Ein durchschnittlicher Israeli
könnte schon eine Menge persönlicher Beispiele für Begegnungen
geben, bei denen sie mit Palästinensern tun konnten, was immer sie
wollten. Extreme Ungleichheit, was die Macht betrifft, ist zur Norm
geworden – auf der Macro-Ebene: Gesellschaft gegenüber Gesellschaft
und auf der Mikro-Ebene, von Person zu Person. “Ich bin das Gesetz!”
sagen israelische Soldaten zu Palästinensern. Im israelischen
Bewusstsein ist das System zu einem Teil einer vorgegebenen,
stillschweigend überein gekommen Weltansicht geworden, die für
israelisch-palästinensische Beziehungen normal geworden sind. Das
System wird nicht hinterfragt, und um das Wohlbefinden ( der
Palästinenser) kümmert man sich nicht.
Entscheidungen über das Leben der Palästinenser gründen sich
routinemäßig auf noch einem Kontrollmechanismus: in der Praxis
werden zusätzlich zur Distanz und der Entmenschlichung der
Palästinenser verschiedene Gruppen unterschieden: als Palästinenser
aus dem Gazastreifen, aus Hebron, Nablus, Ostjerusalem, Galiläa,
Jordanien oder als Muslim oder Christ – jeder wird mit
verschiedenen Graden von Beschränkungen behandelt, hinsichtlich des
persönlichen Status, Möglichkeiten des Reisens oder öffentlicher
Dienste und Lebenschancen. Die Beschränkungen hängen fast immer mit
der Gruppezugehörigkeit zusammen und mit der Lokalität, in der man
lebt. Wenn man ein Mitglied einer besonderen Familie ist oder in
einem Stadtteil oder in einer Dorfgemeinschaft oder in einem
bestimmten Haus oder mit einer bestimmten Familie – und die Umstände
gegen einen sind, dann kann man den Folgen einer kollektiven Strafe
unterworfen sein, z.B. Ausgangssperre rund um die Uhr oder Akten
willkürlicher Zerstörung wie Hauszerstörung. Einige soziale und
geographische Kategorien sind mit einem größeren Bedrohungslevel
gegenüber Israel verbunden und werden entsprechend behandelt. Wenn
man aus dem Gazastreifen ist, ist man eine größere Bedrohung – dann
gehört man zu einer Kategorie, der es fast in allen Fällen nicht
erlaubt wird, außerhalb des Streifens zu reisen. Sogar Palästinenser
selbst haben sich schon daran gewöhnt, in geographischen und
sozialen Kategorien zu denken. Für die “Westbanker” ist “Gaza” eine
andere Welt geworden, zu der man keinen Zugang hat, obwohl die
Bewohner des Gazastreifens national und politisch mit denen in der
Westbank fast gleich sind.
Die Armee entscheidet üblicherweise über Palästinenser nach der
Mitgliedschaft in künstlichen Gruppen oder nach ihrem Wohnort. Z.B.
darf jemand aus einem bestimmten Gebiet oder als Mitglied einer
gewissen geographisch-sozialen Gruppe an diesem Tag von der Westbank
zu einem Ort oder einer Straße in Jerusalem. … solche
Entscheidungen sind gewöhnlich ganz willkürlich ( keiner weiß, warum
dieses Familienmitglied eine Genehmigung erhält und ein anderes
Familienmitglied nicht) das hat weitreichende Konsequenzen auf der
persönlichen Ebene.
Dieses System funktioniert aus Sicherheitsgründen, sagt Israel, um
Terror zu verhindern oder zu bekämpfen. Doch das Konzept von beidem,
von Sicherheit und Terrorismus geht weit über irgendeine sinnvolle
Definition hinaus. Jeder Palästinenser ist ein potentieller
Terrorist und wird als solcher behandelt und jede Art von
Opposition gegen die Besatzung wird direkt oder indirekt als
Unterstützung des Terror betrachtet. Hamas und islamischer
Fundamentalismus werden automatisch mit dem Terrorismus verbunden
und eine Unterscheidung zwischen Hamasmilitär und Zivilisten gibt
es nicht.
In Schach halten
Um
Israels Sicherheitspolitik durchzusetzen, gibt es noch einen anderen
Kontroll-Mechanismus: das In-Schach-halten. Die Praxis des
Einsperrens großer Gruppen von Zivilisten in modernen Ghettos
durch Mauern, Türme, Sicherheitszonen, Grenzpolizei. Hier ist
Gaza wieder das beste Beispiel. Die Praxis, geschlossene
militärische oder zivile Zonen zu schaffen, war während aller Jahre
der Besatzung sehr gewöhnlich. Und der Bau der Mauer oder andere
Barrieren der letzten Jahre in der Westbank ist nur der Höhepunkt
dieser Praxis.
Das Besatzungs- und Kontrollsystem impliziert einen Routineabstand
zwischen dem Besatzer und seinen Untertanen, physisch und psychisch.
Die administrative Routine vergrößert auch den Abstand. Dasselbe
gilt für die Kontrolle der Grenzen oder die Kontrolle der
Genehmigungen durch uninteressierte Soldaten, die hinter dicken
Glasfenstern sitzen. Isolierung wurde zur Regel. So ist es z.B.
Israelis zur Zeit nicht erlaubt, die Westbank zu besuchen, nicht
einmal in Gebieten, die relativ sicher sind.
Die Praxis von Besatzung und Kontrolle in all ihren Dimensionen hat
eine extrem hierarchische, distanzierte, kontrollierte und
willkürliche Beziehung zwischen Israel und der Bevölkerung in der
Westbank und dem Gazastreifen geschaffen. “Wir” gegen “sie. In der
israelischen Vorstellung und Praxis ist Israel ein Ort der
Zivilisation, wo die Normalität herrscht, während der Gazastreifen
und die Westbank gefährliche und “wilde” Gegenden sind. Besonders
ist der Gazastreifen im Laufe der Jahre ein Ort der Finsternis
geworden, als ob dort keine normalen Leute leben würden, sondern nur
potentielle Terroristen, keine Menschen. Der Status vieler
Gazabewohner ist der von Armut heimgesuchter Flüchtlinge. Man hält
sie nun deshalb für beunruhigender und bedrohlicher.
Ausnahmeregel
Die Folgen dieser dualen Praxis und dualen Denkweise sind zweifache.
Zunächst ist in den Gebieten, in denen die Ausnahmeregel herrscht,
ein ewiger Notstand. Wir sehen die Folgen heute im Gazastreifen.
Zweitens bringen es die Verantwortlichen fertig, hinter einem
Schleier von administrativen, sicherheits-typischen Jargon und
Rechtfertigungen zu verschwinden, wie er aus dem globalen Diskurs
nach dem 11.9. bekannt ist , der aber im israelischen Fall an seine
Grenzen stößt. Es ist ein Jargon, der es den Ausübenden der
Sicherheitspolizei erlaubt, in einer Lüge zu leben, sich von dem zu
distanzieren, was vor Ort geschieht, nicht verantwortlich gegenüber
den Betroffenen zu sein und die totale Kontrolle über eine
Bevölkerung, die nebenan lebt, für selbstverständlich hält.
In
dieses System von extremem Machtunterschied und extremer Distanz,
ist es möglich, dass Leute an Kontrollpunkten wie Vieh behandelt
werden. Die Architektur der Kontrollpunkte lässt die Wartenden mit
dem Gefühl der Erniedrigung zurück. Ja, es ist sogar noch schlimmer:
es wurde im Laufe der Zeit legitim, dass es irgendwie akzeptabel
sei, den Menschen die grundsätzlichen Dinge vorzuenthalten, wie
Nahrungsmittel, Brennstoff, Strom, Wasser und Medikamente. Es ist
als “Anreiz” für jene gedacht, die sich von all jenen distanzieren
sollen, die als Feinde angesehen werden. Als Teil der Behandlung von
Zivilisten in der Westbank und des Gazastreifens bemerkten die
Palästinenser wie mit solch lebensnotwendigen Dingen manipuliert
wurde und wie sie immer mehr zu einer legitimen Sicherheitsoption
wurden. Vor ein paar Jahren hat ein ranghoher Regierungsberater
sogar vorgeschlagen, die Palästinenser auf “Diät” zu setzen. Wir
sind also inzwischen in eine Situation geraten, die an das berühmte
Experiment von 1960 von Milgrom erinnert, bei dem zufällige Personen
gefragt wurden, ob sie Befehlen, die von einer autoritären Person
gegeben würde, gehorchen würden und Leuten, die sie nicht sehen,
aber schreien hören könnten, Elektroschocks mit zunehmender Stärke
geben würden.
Israel sagt, dass israelische Leben gerettet werden könnten, wenn
solch eine kontrollierte und grausame Politik gegenüber
geographisch eingeengten und machtlosen Gemeinden in Palästina
ausgeführt würde. Dies ist der Hintergrund für das, was im
Gazastreifen geschieht, eine Belagerung, die verbunden ist mit
systematischer Bombardierung in dicht bevölkerten Gebieten, die
offensichtlich nie “chirurgisch” sein kann. Wo in aller Welt
ist es heute erlaubt, dicht bevölkerte Gebiete systematisch zu
bombardieren? Die Lähmung der Welt zeigt bis zu welchem
Ausmaß das gegenwärtige System gewaltsamer Kontrolle von der
internationalen Gemeinschaft akzeptiert wird.
Unser Argument ist folgendes: was jetzt im Gazastreifen passiert,
ist nur als Folge eines lang anhaltenden Kontroll- und
Besatzungssystems möglich, bei dem es zur Routine wurde und
irgendwie akzeptabel – auch international – dass ganze
Volksgemeinschaften in Kategorien eingeteilt, in enge Räume,
Open-air-Gefängnisse gesperrt und so extremen Formen von Gewalt und
absichtlicher Beraubung ausgesetzt werden können.
Das nackte Leben
Die äußerste Verwundbarkeit von Zivilisten wird oft “das nackte
Leben” genannt. Die Leute werden in Schach gehalten, isoliert und
schwerster Gewalt ausgesetzt ( einschließlich Phosphorbomben) und
haben keine Möglichkeiten zu fliehen. Weder Gebäude wie die
beschossene UNWRA-Schule noch Krankenhäuser in Gaza, noch
Institutionen sind in der Lage, Schutz zu bieten.
Gesundheitsorganisationen ( z.B. Mental Health Center) haben seit
Jahren vor den Folgen für die Jugend und die Familien gewarnt, wenn
besonders Väter nicht mehr in der Lage seien, ihre Kinder zu
schützen, und dass dann die Jugendlichen nach einem Ersatzmodell
suchen. Das sind dann vor allem jene, die sich bei bewaffneten
Aktionen engagieren, und die dann auch zum Sterben bereit sind.
Wenn Väter, Lehrer und Erzieher nicht mehr in der Lage sind, (Kinder
und Jugendliche) zu schützen, ist es äußerst schwierig, sich in
sinnvoller Bildungs-/Erziehungsarbeit zu engagieren. Jedes
menschliche Leben hat ein Recht auf Sicherheit. Wir haben immer
wieder auf die Fähigkeit der Palästinenser hingewiesen, standhaft zu
bleiben/ SUMUD zu üben und den Mut und die Hoffnung zu behalten, um
zu überleben und die Unterdrückung herauszufordern, für die
Menschen- und die nationalen Rechte zu kämpfen. SUMUD ist auch eine
Art sozialen Schutzes und des Widerstandes. Sogar in einer
Situation, in der es nur noch um das nackte Leben, die extreme
Verletzbarkeit und extremes Leiden geht, finden die Menschen in
unbewussten Ecken ihres Willens Quellen, aus denen sie ihre
Standhaftigkeit und Hoffnung nähren. Sie werden dabei unterstützt
von einem tiefen Glauben und einem Gefühl kollektiver Identität. Es
ist auch bekannt, dass auf sozialer Ebene palästinensische Familien
für ihre Familienmitglieder sich äußerst beschützend verhalten.
Doch Gemeinde, Familie und die Stärke des einzelnen erreicht die
Grenzen ihrer schützenden Kapazitäten, wenn sie mit massiver Gewalt
auf allen Ebenen - der militärischen, wirtschaftlichen und
symbolischen -konfrontiert ist. Jahrzehntelange Besatzung und
Belagerung haben eine monströse und gewalttätige Struktur entstehen
lassen, die beseitigt werden muss. Eine direkte Intervention der
internationalen Gemeinschaft ist dringend nötig, um die Besatzung
und die Belagerung und den Krieg zu beenden und die elementaren
individuellen und nationalen palästinensischen Rechte erfüllt
werden. Nur dies schafft wirklichen und anhaltenden Schutz (für
Israel).
(dt. Ellen Rohlfs)
|