Newsletter 1/09 der Pax
Christi
Friedensbewegung - AG Israel/Palästina.
Liebe LeserInnen!
Aus der Fülle der hereinkommenden Nachrichten und Artikel das
wichtigste auszuwählen, ist sehr schwierig. Ich habe es versucht –
ich bin sicher, dass Du/Sie eine Menge Mängel erkennen und bei
manchen Darstellungen ganz anderer Meinung sind. Die Arbeitsgruppe
Israel/Palästina von Pax Christi will weder einseitig sein noch
Schauermärchen verbreiten, aber Frieden ist nicht billiger zu haben,
als wenn Wahrheiten, auch unglaubliche, auf den Tisch gelegt werden.
Daher nehme ich die erst heute in meine Hände gekommene Beschreibung
des Buches von Bettina Marx auf. Dass man mit den politischen
Gegebenheiten anderswo anders umgehen kann, schildert Lydia
Aysenberg von der Green Line im Norden der Westbank.
Es ist uns ein Anliegen, dass man die
„Weltwoche für Frieden in Palästina und Israel“ im Juni an möglichst
vielen Stellen wahrnimmt. Daher – für manche „schon wieder“ – der
Aufruf. In diesem Zusammenhang steht auch die Beschreibung von EAPPI
(Ecumenical Accompaniment-Program for Palestine and Israel); wir
suchen Wege, wie wir uns einklinken können.
Shalom - Salaam
Gerhilde Merz, Vorsitzende
Linz am 23. April 2009
INHALT
1) Weltwoche 2009 für Frieden in Palästina und
Israel
2) Das ökumenische
Friedensbegleitprogramm (EAPPI)
3) „Gaza.
Land ohne Hoffnung.“ Das neue Buch von
Bettina Marx
Sensibel und
furchterregend zum Zerbersten – Buchbeschreibung (Rupert Neudeck)
4) Warum der Waffenstillstand scheitern
musste (Clemens Ronnefeld)
5) Religiöse Gruppen vereinnahmen die
israelische Armee (Jonathan Cook)
6)
Ein kleines rotes Licht (Uri Avnery)
7) Sprechende Hände (Lydia Aysenberg)
Weltwoche
2009 für Frieden in Palästina und Israel, 4.-10.Juni 2009
Gemeinsame
Aktion für einen gerechten Frieden, initiiert durch den
Weltkirchenrat
***
Der
Weltkirchenrat lädt Mitgliedskirchen und verwandte Organisationen
ein, eine Woche der Anwaltschaft und Aktion für einen gerechten
Frieden in Palästina und Israel mit zu tragen. Diejenigen, die die
Hoffnung teilen, mögen sich an friedvollen Aktionen beteiligen, um
ein gemeinsames internationales öffentliches Zeugnis abzulegen.
Wie man damit
umgeht
Während der
Weltwoche für Frieden in Palästina und Israel (4.-10.Juni 2009)
senden Kirchen in verschiedenen Ländern ein klares Signal an die
Politik, an die interessierte Öffentlichkeit und ihre eigenen
Pfarrgemeinden über den dringenden Bedarf nach einem
Friedensabkommen, das die legitimen Rechte und die Zukunft beider
Völker sicherstellt. TeilnehmerInnen mögen ihre Aktivitäten um die
folgenden Themen platzieren:
1.
Mit
den Kirchen im besetzten Land beten; dazu gibt es das „Jerusalemer
Gebet“. Die Meditation „It’s Time for Palestine“, Elemente für den
Gottesdienst deutsch. Diese Dinge können von der Homepage von Pax
Christi (www.paxchristi.at)
herunter geladen werden. Eine ganze Liturgie (englisch) findet sich
im Internet:
www.worldweekforpeace.com. Die darin
behandelten Bibelstellen sind: Jesaia 9; 1-4 … Psalm 5 …. 1.
Petrusbrief 1; 3-7 …
Evangelium Lukas 4; 16-21. Nach
dieser Liturgie wird am 7. Juni in Jerusalem gefeiert.
2. Information über Aktionen, die
den Frieden fördern bez. behindern, wie z.B. die Sied-
lungen in besetzten Gebieten;
Pax Christi Ö wirbt besonders um Interesse für EAPPI
3.
Anwaltschaft: Briefe,
Stellungnahmen, Unterschriftenaktionen etc. mit dem Zielpunkt
„Friede mit Gerechtigkeit“
Warum
Wir rufen
besonders zu mehr Gerechtigkeit für Palästina auf, damit beide
Völker nach mehr als 60 Jahren in Frieden leben können. Seit mehr
als 60 Jahren wird die Teilung des Territoriums zunehmend zum
Albtraum. Die Vision von einem Land für zwei Völker ist seit der
Besetzung von Ostjerusalem, dem Gazastreifen und der Westbank vor 40
Jahren zunichte gemacht worden.
Aber der
Traum einer Nation darf nicht auf Kosten der anderen erfüllt
werden!
Die Botschaft dieser Woche lautet:
Es ist Zeit,
dass Palästinenser und Israeli einen gerechten Frieden teilen.
Es ist Zeit
für die Befreiung aus der Besatzung.
Es ist Zeit
für gleiche Rechte.
Es ist Zeit,
verwundete Seelen zu heilen.
Es ist Zeit
für ...
Das ökumenische
Friedensbegleitprogramm in
Palästina und Israel (ÖFPI)
„EAPPI“ (Ecumenical
Accompaniment Program for Palestine and Israel) ist geläufiger als
die deutsche Übersetzung.
Weitere
Informationen: Web:www.paxchristi.de; www.eappi.org/eappiweb.nsf/index-g.htm
– Broschüre EMW : Weltmission heute Nr.61/2005 „Taube, Kreuz und
Stacheldraht“
Das
Programm nimmt langjährige Erfahrungen des Ökum. Rates der Kirchen
in der Arbeit mit Menschenrechten auf. Die Freiwilligen, die sich
auf diesen ökumenischen Friedensdienst einlassen, müssen mindestens
25 Jahre alt sein und englisch sprechen können – und sie müssen
vertraut sein mit der Konfliktgeschichte zwischen Israel und
Palästina. Vor allem aber müssen sie sich auch in angespannter
Situation ihrer begrenzten Rolle als Begleitende bewusst sein und
stets gewaltfrei agieren.
Die
bis zu zwölf Freiwilligen (die gleichzeitig Dienst tun) verteilen
sich nach der Orientierungsphase auf Jerusalem, wo vor allem Kontakt
zu israelischen NGO’s gesucht wird, auf Bethlehem und die
umliegenden Gemeinden, auf Ramallah, Hebron, Jayyous mit Tulkarem
und Janun. Einsätze in Gaza und Nablus wurden aus Sicherheitsgründen
aufgegeben. Die Einsätze können sehr unterschiedlich sein und 3 bis
6 Monate dauern.
Der
ÖRK hat mit Begleitprogrammen schon von der Arbeit in Südafrika
Erfahrungen. Menschen beider Seiten der Krise waren und sind zu
begleiten. Erschreckend für Beobachter aus der Ferne ist, dass die
Situationen sich stark ähneln: Da wie dort eine Minderheit (als
Besetzer), die einer Mehrheit ihre rechtmäßigen alltäglichen
Lebensgrundlagen raubt, da wie dort Leiden auf beiden Seiten. Als
das EAPPI-Programm entworfen wurde, war man sich klar, dass die
Krise nicht nur die palästinensische, sondern auch die israelische
Gesellschaft beeinträchtigen würde. Die Nachhaltigkeit der Einsätze
sollte aber auch Vorurteile in den Herkunftsländern gegenüber den
in die Krise Involvierten durch Vorträge und Erzählungen abbauen
helfen.
Pax Christi Österreich nimmt diese Arbeit als ihr besonderes
Anliegen auf. Um zur Durchführung zu gelangen, braucht es
verschiedene Schritte: Information und entsprechende Zustimmung
durch die Kirchen; diesbezüglich wurde von der Genfer Stelle ein
Brief an die Kirchenleitungen verfasst und vielerorts diskutiert.
Die Suche nach InteressentInnen und daher entsprechende Publikation
in interessierten Kreisen – und die Suche nach den Mitteln, die für
den Einsatz notwendig sind (für Reisekosten, Lebenshaltungskosten
und Schulung ca. 5000 €). Bitte, geben Sie diese Information weiter
bzw. greifen Sie auf das untenstehende
Angebot zurück.
EAPPI: Power
Point Präsentation auf CD (deutsch) kann zum Selbstkostenpreis im
Büro von Pax Christi OÖ (pax.christi@dioezese-linz.at)
und Pax Christi Ö (office@paxchristi.at)
erworben werden.
„Gaza.
Land ohne Hoffnung.“ Das neue Buch von
Bettina Marx -
Sensibel und Furcht-erregend
zum Zerbersten
Zu einem Buch von Bettina Marx, das alle unsere deutschen
Gemein-Vorstellung von Israel-Palästina vom Kopf auf die Füße der
Tatsachen stellt
Von Rupert Neudeck
19.04.09
Das ist ein gewaltiges Buch, das nur beschreibt, das aus der Fülle
eines engagierten Reporterlebens nur erzählt, was den Personen
geschehen ist, die sie im Gaza Streifen erlebt hat. Sie hat einen
Partner, den auch viele andere Journalisten hatten, den Taxifahrer
Raed. Als die israelische Armee im November 2007 einmarschiert und
Beit Hanoun fast dem Erdboden gleichmacht, ist auch Raed am Ende. Er
sagt der Autorin: „Das, was ich gesehen habe, hat mich wirklich
verändert. Vorher war ich dagegen, dass Zivilisten getötet werden.
Egal, ob Juden oder Muslime, ich war dagegen“. Inzwischen sähe er
das anders: „Wenn ich sehe, dass ein vierjähriges Kind getötet
wird, dass Frauen getötet werden, dann hasse ich sie und dann
wünsche ich mir, dass auch Zivilisten leiden.“ Voller Entsetzen fügt
er der Reporterin der ARD hinzu: „Mein zehnjähriger Sohn will ein
Shahid werden, ein Märtyrer.“ Die beiden Söhne akzeptieren seine
Autorität nicht mehr. Sie wollen auch keine harmlosen Spiele mehr,
für sie gelte nur noch die Gewalt. In ihren Spielen ahmen sie die
Selbstmordattentäter nach.
Wenn die Israel Armee kommt, nimmt sie die Männer alle fest, verhört
sie unter Benutzung all dessen, was an Folter heranreicht. Und sie
bieten dann immer an: Ihr könnt für uns arbeiten und gutes Geld
verdienen, das heißt auf Deutsch: Kollaborateure sein.
Abu Usama wurde verhört, er wurde gefragt, wer die Kassam Raketen
und von wo schießt. Und er wurde aufgefordert, für Israel als Agent
oder Spitzel zu arbeiten. „Sie haben gesagt, denkt darüber nach, mit
uns zu arbeiten. Eure Situation ist sehr schlecht in Gaza, aber wir
können euch Geld anbieten.“
Diese Hamas Leute sind völlig verantwortungslos auch gegenüber der
eigenen Bevölkerung. Die Zivilisten haben denen, die da mit mobilen
Rampen immer wieder kamen, gesagt: Sie sollten das sein lassen.
Die Autorin beschreibt die Reaktionen auf die Entführung des jungen
Soldaten Gilad Shalit. Der Vater von G. Shalit ist ein vernünftiger
Mensch, der gesehen hat, dass es keinen Sinn macht, den ganzen Gaza
Streifen in Schutt und Asche zu legen: „Der Staat Israel kann nicht
seine ganze Abschreckungsmacht auf dem Rücken des Bürgers und
Soldaten Gilad Shalit aufbauen, denn sein Rücken ist nicht so
breit.“
Liest man sich in diesem immer gut geordneten, aber wahnsinnig
materialreichen Buch fest, erkennt man die Vorzüge dieser Autorin
gegenüber den bisherigen, die man zu diesem Konflikt gelesen hat.
Sie ist Judaistin, sie kennt sich aus in allen Fragen der Geschichte
des jüdischen Volkes und der jüdischen Kultur. Weshalb sie dann auch
heftiger und ungeschminkter urteilen kann als andere. Sie ist nie
zögerlich und ängstlich, sie hält keine langen salvatorischen
Vorreden, sie beschreibt die Skandale, wie sie sind und wo sie sind.
Ob das auf palästinensischer Seite die grässliche und unverstehbare
Korruption und Reichtumsgier der Tunis Mannschaft von Jassir Arafat
ist oder die verfehlte israelische Politik, die seit Ben Gurion bis
heute niemals auch nur versucht hat, die Gesellschaft der
Palästinenser als das zu akzeptieren, als was Martin Buber immer
gefordert hat, sie zu behandeln: Als die Nachbarn auf Ewigkeit oder,
wem das theologisch zu weit geht, in der Menschheitsgeschichte.
Sie zitiert die jüdisch-israelischen Zeugen, die einfach die
Vergleiche anstellen mit den Schrecken der Nazi-Vergangenheit. Die
völlig unzulässige Zerstörung von Wohnhäusern z.B., gegen die es in
Israel eine vorzüglich kleine Organisation unter Leitung von Jeff
Halper gibt, dem am 9. Mai der Immanuel Kant Preis in Freiburg
zuerkannt wird. Diese „demolition of houses“ wurde in den Jahren
unter Sharon unentwegt betrieben: Sogar das Oberste Gericht in
Israel untersagte in einer einstweiligen Verfügung den Abriss der
Häuser. Die Entscheidung wurde am nächsten Tag aufgehoben und die
Häuser von Bulldozern zerstört: Der Chef der liberalen Shinui Partei
wird zitiert, der sagte, als er im Fernsehen Bilder einer alten
Palästinenserin sah, die in den Trümmern ihre Hauses nach ihren
Medikamenten suchte, diese Bilder erinnerten ihn an seine eigene
Großmutter, die in Auschwitz ums Leben gekommen sei.
B.
Marx beschreibt sehr gut, wie es jemanden gehen kann, der sich
freiwillig aufmacht, um ein wenig hilfreich zu sein wie die berühmt
gewordene Amerikanerin Rachel Corrie. Die kam nach Gaza im Auftrag
einer 2001 gegründeten jungen US-Solidaritätsmission: International
Solidarity Movement. Im Januar 2003 kam sie nach Israel wollte
leidenden Palästinensern helfen. Bettina Marx zitiert aus dem Email-
Wechsel mit der Mutter. „Nichts hätte mich auf die Realität hier
vorbereiten können, weder Bücher noch Konferenzen noch
Dokumentarfilme. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man es
nicht selbst gesehen hat“. Das ist es, was wir ja auch unseren
Bundestagabgeordneten empfehlen sollten, auch wenn sie immer noch
nicht sich trauen, diesem Rat zu folgen. Diesen Konflikt kann man
eigentlich gar nicht einschätzen, wenn man die Realität vor Ort
nicht selbst gesehen hat. Rachel Corrie, deren Bild ich noch auf dem
Schreibtisch des dann gestorbenen Palästinenserchefs Arafat gesehen
habe, wollte eigentlich Gandhi folgen in Palästina. Ihrer Mutter
schrieb sie: 60.000 Arbeiter aus Rafah haben vor zwei Jahren in
Israel gearbeitet. Jetzt können nur 600 nach Israel gehen. Viele von
ihnen sind hier weggezogen wegen der drei Checkpoints zwischen Rafah
und Ashkelon, der nächstgelegenen israelischen Stadt. Und dann
schreibt sie ihrer Mutter, die ihr gesagt hat, die Gewalt der
Palästinenser sei auch nicht hilfreich: „Wenn einer von uns zusehen
müsste, wie man sein Leben und seinen Wohlstand zerstört, wenn wir
mit unseren Kindern auf einem immer kleiner werdenden Raum leben
müssten und wüssten, dass jeden Moment Soldaten mit Panzern und
Bulldozern kommen und unsere Gewächshäuser zerstören können, wenn
sie uns schlagen und mit 150 Leuten für mehrere Stunden einpferchen
würden, glaubst Du nicht, dass wir dann zu gewalttätigen Mitteln
greifen würden, um das zu schützen, was noch übrig ist?“.
Sie begann arabisch zu lernen. Am 16. März 2003 wollte sie zwei
Bulldozer aufhalten, die in Rafah Häuser zerstörten. Als einer der
Bulldozer auf das Haus eines Apothekers zufuhr, kniete sich Corrie -
mit ihrer leuchtend orangefarbenen Jacke weithin sichtbar - vor ihn
auf den Boden, der Bulldozer hörte nicht auf weiterzufahren. Sie
stieg auf den Erdwall, der begann zu wanken, sie rutschte herunter,
doch der Bulldozer hielt nicht an. Sie starb gleich danach an
Schädel- und Wirbelsäule-brüchen.
Man kann das Buch nur so beschreiben: Es ist eine Orgie von
hintereinander gesetzten ausführlichen Reportagen. Die Autorin muss
nicht urteilen, sie muss so gut wie nie kommentieren: Alles ergibt
sich für den Leser aus dem, was sie an Realität bei den Besuchen von
Palästinenserfamilien (z.B. im Gaza) in Mawassi, einem Ort, der nach
Ausbruch der zweiten Intifada fast ganz abgeschlossen war, gehört
hat.
Sie beschreibt alles von den Bedürfnissen der Menschen her. Dieses
Gebiet im südlichen Gaza-Streifen war berühmt für seine Guaven.
1990 wurden von dort noch 1350 Tonnen nach Jordanien, 525 Tonnen auf
die Westbank und 235 Tonnen nach Israel gewinnbringend exportiert.
2002 waren es nur noch 8 (!) Tonnen, die ins Westjordanland gingen,
während der Handel in andere Gebiete zu Ende war. 2005 sank die
landwirtschaftliche Produktion in Mawassi um 90 Prozent.
Kann man sich vorstellen, wie das Leben aussieht für uns, wenn uns
die Produktion nicht mehr wächst, sondern um 90 Prozent geraubt
wurde?
Das Stigma dieser Politik ist: Demütigung. Die Autorin spricht das
Wort kaum aus, alles, was der Leser erfährt, ist für ihn daraufhin
durchsichtig. Sie beschreibt den berüchtigten Checkpoint Tuffach: Da
die Palästinenser nicht mehr den Kontrollpunkt mit Autos oder LKWs
passieren durften, mussten sie die Waren auf der einen Seite der
Sperre ablegen, zu Fuß in ihrem eigenen Land über die Linie tragen
und auf der anderen Seite auf andere Fahrzeuge aufladen. Sie sagt
nicht das entscheidende Wort, das der Leser aber schon im Kopf hat:
Demütigung, „humiliation“. Sie sagt: Das Verfahren war für
empfindliche Güter wie Gemüse, Obst, Fische belastend. „Und es
erhöhte die Transportkosten und schmälerte damit den Profit“. Am
Checkpoint Tuffach wurden Schwangere gezwungen zu gebären, der
Gipfel der Demütigungsmaschinerie. Das ist der Unterschied zu dem
Weltblatt in Hamburg, die fragen jemanden, der überhaupt nicht mit
diesen Menschen Kontakt haben kann und darf, einen
Philosophie-Professor (Moshe Halberthal), der sich nicht schämt,
Berater in Sachen Ethik (!) für die Israelische Armee zu sein. Der
Professor darf nicht wie Bettina Marx dorthin. Das ist Israelis
verboten. Auf die Frage, ob es stimmt, dass ein Militärrabbiner in
einem Flugblatt die Soldaten aufgefordert habe, keine Gnade mit dem
Feind zu haben, muss er das zugeben und sagt: Die Religion spiele
ein destruktive Rolle. Aber das alles geschieht. Wir sollen nur in
Deutschland das immer gefiltert erfahren, indem ein
Philosophie-Ethik-Professor uns sagt: „Ach wissen Sie, das ist alles
passiert, aber wir bemühen uns um eine Ethikberatung. Und so etwas
haben die dreckigen Palästinenser ja nicht: Ethikberatung!“
Bettina Marx berichtet von den Übergriffen jüdischer Siedler, etwas,
das kaum jemand in Deutschland wissen darf, denn es macht das
prästabilisierte Bild der Opfer und der Aggressoren/Terroristen
kaputt. Der elfjährige Yussef in Mawassi will einfach mal zum Meer
gehen: „Die Juden erlauben es nicht. Sie schicken uns zurück und
werfen Steine nach uns. Sie sagen: verschwindet von hier. Das ist
unser Meer“. Im Oslo II Abkommen war den Palästinensern ein fünf
Kilometer langer Strand für Sport und Freizeit am Gaza Strand
zugestanden worden, doch auch das wurde immer stärker eingeschränkt.
Aus Furcht vor den Übergriffen der Siedler zogen es die Bewohner
vor, dorthin nicht zu geben. Die sog. ägyptischen Offiziershäuschen
wurden von den Siedlern zu Ställen umfunktioniert. Vor dem Rückzug
der Israelis wurden sie von den israelischen Behörden abgerissen,
angeblich um zu verhindern, dass sie Palästinenser sich darin
verbarrikadieren.
Bettina Marx spricht den Rabbi Yosef Elnekaveh an, sie kann
hebräisch, braucht keinen Übersetzer. Der Rabbi weiß ganz genau:
„Abraham hatte zwei Söhne, Isaak und Ismael. Isaak hat er das Land
gegeben und Ismael hat er es nicht gegeben. Er hat ihn gesegnet und
dieser Segen ist eingetreten. Die Araber haben Gold, sie haben
Erdöl, das sind die Segen unseres Erzvaters Abraham. Aber das Land
Israel hat er ihnen nicht gegeben. Wollen Sie, dass wir ihnen das
Erdöl nehmen? Der Heilige, gelobt sei er, hat sie mit Erdöl gesegnet
und uns hat er das Land Israel gegeben!“
Das Buch muss man an einem Wochenende anfangen zu lesen, weil man
nicht stoppen kann, die 400 Seiten hintereinander zu verschlingen.
Wie gesagt: Das ist die große Leistung einer unbeirrbar tüchtigen
Reporterin, die alles besucht hat, alle gesprochen hat und das alles
immer nur aufschreibt. Sie hat bis zum Schluss diesen Stil
beibehalten. Das Buch ist eine einzige Anklage, obwohl sie kein Wort
der Anklage verwendet.
Bettina Marx: Gaza - Tausendundeins Verlag 2009
Warum der Waffenstillstand scheitern
musste
Auszüge aus dem
gleichnamigen Text von Ivesa Lübben (freie Journalistin und
Poltikwissenschaftlerin in Bremen/Kairo), der auf
http://awis-islamforschung eu/meinungen/warum-der-waffenstillstand-scheitern-musste
zu finden ist.
Ihre Analyse schildert
u.a. sehr detailliert die Zeit zwischen dem Waffenstillstand am
18.6.2008 und dem Beginn des Krieges am 27.12.2008 und bietet eine
Menge bisher wenig veröffentlichter Fakten. Einige mir besonders
wichtig erscheinende Auszüge der äußerst lesenswerten Studie habe
ich nachfolgend zusammengestellt. Die mehrfach genannte "Ma`an" ist
die größte palästinensische Nachrichtenagentur.
(...)
"Hamas hat nichts zu tun
mit terroristischen Organisationen wie al-Qaida oder der ägyptischen
Jama`at al-Islamiya, wie die verbreitete Kategorisierung `radikal-islamistisch´
evoziert. Im Gegenteil wurde die HAMAS immer wieder von der al-Qaida
auf deren Websites angegriffen, weil sie angeblich durch ihre
Kompromissbereitschaft, ihren Pragmatismus und vor allem die
Beteiligung an der Wahl zum palästinensischen Legislativrat die
Prinzipien des Islam hintergangen hätte. Die
de-facto-HAMAS-Regierung im Gazastreifen soll den ägyptischen
Behörden sogar Qaida-Mitglieder, die von Ägypten nach Gaza geflohen
waren, ausgeliefert haben - einer der Gründe, warum die Ägypter in
der Tunnelfrage immer wieder die Augen zudrückten." (S. 3)
"Die Annahme, dass die
bewaffneten Fatah-Einheiten im Sommer 2007 durch HAMAS ausgeschaltet
wurden, ist unrichtig." (S. 6)
"Am 24. Juni werden zwei
junge Funktionäre des Jihad in ihrer Wohnung in Nablus durch
Einheiten der IDF (Israeli Defence Forces) ermordet. Noch am selben
Tag schießen die Quds-Brigaden als Vergeltung drei Raketen auf
Sederot." (S. 13)
"Am 24. Juni verurteilt
der HAMAS-Ministerpräsident Ismail Haniya zwar die Morde in Nablus,
richtet aber gleichzeitig einen dramatischen Appell an die anderen
Fraktionen, den Waffenstillstand zu respektieren. (...) In den
folgenden Wochen werden immer wieder Mitglieder der Aqsa-Brigaden
durch HAMAS verhaftet, was ihr wiederum den Vorwurf seitens der
Aqsa-Brigaden einbringt, sie wolle den berechtigten Widerstand des
palästinensischen Volkes unterbinden." (S. 13).
"Trotz der Einhaltung der
Waffenruhe durch HAMAS droht der israelische Verteidigungsminister
Ehud Barak am 4. August auf einer Sitzung der israelischen
Arbeiterpartei mit einem Truppeneinmarsch im Gazastreifen." (S. 14)
"Die IDF-Führung (schätzt)
den Waffenstillstand zwei Monate nach dessen Beginn positiv ein,
weil er zu einer Beruhigung der Situation in den an den
Gaza-Streifen angrenzenden Gebieten geführt habe. Anders der innere
Geheimdienst Shin Bet, dessen Direktor Yuval Diskin der Ansicht ist,
ein Waffenstillstand würde den Druck auf die HAMAS, Shalit (Anm. C.R.:
Gilat Shalit, israelischer Soldat in palästinensischer
Gefangenschaft) freizulassen, verringern. Er ruft die Armee auf,
sich auf einen größeren Militärschlag vorzubereiten. (Ma`an
8.8.2008). Diese Äußerungen verstärken unter den Palästinensern den
Eindruck, dass der Waffenstillstand seitens der israelischen Führung
nur dem Zeitgewinn zur Vorbereitung einer Offensive dient." ( S. 15)
"Die Tatsache, dass es
keine Beobachtung gab, hatte eine asymmetrische Berichterstattung
zur Folge. Die unzähligen israelischen Verletzungen des Abkommens
auch schon vor den Ereignissen des 4. November (Anm. C.R.: Invasion
einer israelischen Kommandoeinheit in den Gazastreifen zur
angeblichen Zerstörung eines Tunnels mit sechs palästinensischen
Toten als Folge) blieben von der Weltöffentlichkeit und der
internationalen Politik unbeachtet, während andererseits jede
palästinensische Rakete ohne jeden Kontextbezug und ohne die
Urheberschaft zu verifizieren medial überproportional als Angriff
der `radikal-islamistischen´ HAMAS ausgeschlachtet wurde." (S. 15)
"Die empirischen Daten
ergeben ein anderes Bild: Bereits am 19. Juni, also am ersten Tag
des Waffenstillstandes schießen israelische Kriegsschiffe vier
Raketen auf palästinensische Fischer in den palästinensischen
Hoheitsgewässern. Am selben Tag lassen Kampfflugzeuge, die über
Gaza-Stadt kreisen, Schall-Bomben explodieren und lösen eine Panik
unter der Bevölkerung aus. In der Gegend von Khan Yunis schießen
israelische Patrouillen über den Grenzzaun hinweg auf Bauern, die
jenseits der Grenzbefestigungen auf ihren Äckern arbeiten. (Ma`an
26.6.2008). Dieses Szenario ... wiederholt sich fast täglich." (S.
15f)
"Im November schlagen
israelische Bulldozer auf dem Gebiet des Gazastreifens eine 150 m
breite Schneise für Militärpatrouillen und zerstören dabei etwa 750
ha Agrarland. (Ma`an 12.11.2008)". (S. 16)
"Ende September wird der
Tunnelbauer Abu Dawabah in Israel verhaftet. Abu Dawabah ist eine
dubiose Figur. Er war früher im Rauschgiftschmuggel tätig, bevor er
im Tunnelgeschäft ein Vermögen machte. Dawabah behauptet beim
Verhör, dass ihm sowohl von der HAMAS als auch von den Aqsa-Brigaden
Geld für die Entführung eines israelischen Soldaten geboten worden
sei. (Ma`an 3.11.2008). Einen Tag später erfolgt ein Dementi aus dem
HAMAS-Innenministerium". (S. 17)
"Statt zu versuchen, den
Fall über die Vermittlung ägyptischer Sicherheitsdienste (...)
aufzuklären, dringen am Abend des 4. November israelische Truppen
nach Khan Yunis ein. Gezielt eingesetzte Projektile töten sechs
HAMAS-Mitglieder und verwunden mehrere Menschen, darunter eine Frau.
In Deir al-Balah werden mehrere Raketen auf Wohngebiete
abgeschossen. In der Nähe von Wadi Salqa werden zwei Häuser der
Hawaidi-Familie zerstört und sieben Familienmitglieder - darunter
drei Frauen - nach Israel verschleppt. Am gleichen Tag verbieten
israelische Grenzposten französischen Konsulatsbeamten, die sich ein
Bild von der Lage machen wollen, den Gazastreifen zu betreten. Am
folgenden Tag werden Wohngebiete im Norden des Gazastreifens und in
Khan Yunis beschossen. Israelische Truppen töten einen Führer des
Jihad. Daraufhin schießen die HAMAS, die Aqsa-Brigaden und der Jihad
Raketen auf Israel. Der Jihad und die Aqsa-Brigaden erklären, der
Waffenstillstand werde sie nicht davon abhalten, auf israelische
Verletzungen des Abkommens zu reagieren. Die Volkskomitees erklären,
Israel habe das Abkommen zerbombt". (S. 17)
"Trotzdem will die HAMAS
am Waffenstillstand festhalten und bittet Ägypten um Vermittlung.
Die HAMAS warnt vor einer neuen Runde der Gewalt, sollte die
Blockade nicht aufgehoben werden. Am 8. November dringen an mehreren
Stellen israelische Bulldozer in den Gazastreifen ein. Es kommt zu
bewaffneten Zusammenstößen mit Einheiten der DFLP (Anm. C.R.:
Demokratische Front für die Befreiung Palästinas). Am 12. November
werden vier weitere HAMAS-Mitglieder getötet. Israelische Flugzeuge
schießen Raketen auf Wohngebiete". (S. 17f)
"Die Situation eskaliert:
In den nächsten Tagen schießen die PFLP (Anm. C.R.: Volksfront zur
Befreiung Palästinas), die DFLP, die Volkskomitees und die Hamas
Projektile auf israelische Orte, während israelische Flugzeuge den
Norden des Gazastreifens bombardieren. Am 16. November ruft der
israelische Transportminister dazu auf, die gesamte HAMAS-Führung
umzubringen. Bei neuen Angriffen werden vier Mitglieder der
Volkskomitees getötet. Inzwischen sind 15 Menschen bei den
Luftangriffen der letzten Tage ums Leben gekommen. Die Volkskomitees
erklären den Waffenstillstand für beendet. Ihr Sprecher gibt Israel
die Verantwortung. Am 17. November schießen die DFLP und der Jihad
Raketen nach Israel. Am 18. November dringen israelische Panzer in
den Streifen ein, es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen mit der
PFLP und Mujahedin, einer weiteren Widerstandsgruppe der Fatah". (S.
18)
"Die Lebensmittelkrise
spitzt sich weiter zu. 50% der Bäckereien können wegen Mangels an
Mehl nicht mehr arbeiten. Andere verwenden Tierfutter zum
Brotbacken. Am 20. November wird erneut ein HAMAS-Mitglied durch
gezielten Raketenbeschuss ermordet". (S. 18)
"Am 23. November heißt es
aus diplomatischen Quellen, die Ägypter hätten sich eingeschaltet
und zwischen HAMAS und der israelischen Regierung die Rückkehr zum
Waffenstillstand zu den ursprünglich ausgehandelten Bedingungen
vereinbart. Dies wird von der HAMAS bestätigt. HAMAS-Sprecher Ayman
Taha erklärt außerdem, dass sich auch die anderen Widerstandsgruppen
zur Fortsetzung des Waffenstillstandes bereit erklären - unter der
Bedingung , dass die Blockade aufgehoben wird. Die israelische Seite
äußert sich nicht dazu. Im Gegenteil - der israelische
Verteidigungsminister Barak nimmt den Befehl, die Grenze für
dringend benötigte Lebensmittellieferungen zu öffnen, wieder zurück,
nachdem laut israelischer Angaben Raketen abgeschossen wurden, für
die jedoch kein Bekennerschreiben vorliegt". (S. 18)
"Am 2. Dezember dringen
wieder israelische Panzer in den Gazastreifen ein. Bei Luftangriffen
werden zwei Teenager getötet". (S. 20)
"Zu einer weiteren
Eskalation im Gazastreifen kommt es nach den massiven Übergriffen
von Siedlern auf Palästinenser in Hebron am 5. Dezember. Die
palästinensischen Organisationen sprechen von einem Versuch der
`ethnischen Säuberung´ (Ma`an 5.12.2008). Während die Aqsa-Brigaden,
die DFLP und die Quds-Brigaden des Jihad als Reaktion auf die
Vorfälle in der Westbank Raketen auf israelische Orte schießen,
organisiert die HAMAS Solidaritätsdemonstrationen mit den
Palästinensern in Hebron, um das, was von dem
Waffenstillstandabkommen übrig geblieben ist, nicht auch noch zu
gefährden. Die Situation in der Westbank eskaliert weiter: Es kommt
zu der größten Verhaftungswelle seit der zweiten Intifada: 390
Verhaftete, darunter 65 Minderjährige. Tzipi Livni heizt die
Spannung weiter an, als sie am 13. Dezember erklärt, dass im Falle
der Gründung eines palästinensischen Staates die in Israel lebenden
Palästinenser aus Israel ausgebürgert würden". (S. 20f)
"Mehrfach muss die UNRWA,
von deren Lebensmittelunterstützung die Hälfte der Menschen im Gaza
abhängig ist, die Verteilung von Lebensmitteln einstellen. Das World
Food Program, die zweite internationale Organisation, die
Lebensmittelhilfe leistet, berichtet, dass die israelischen
Grenzbehörden im November nur noch 6% der von ihm benötigten
Warenlieferungen in den Gazastreifen gelassen hätten. Nicht nur das:
Die Israelis verlangen auch noch Lagergebühren für die Lieferungen,
die an den Grenzübergängen festgehalten werden. Das World Food
Program muss allein im November 215 000 $ zahlen. 30 der 47
Bäckereien müssen schließen, weil sie kein Heizöl mehr haben. (...)
Auch die Krankenhäuser können eine durchgehende Stromversorgung
nicht mehr garantieren. Dadurch fallen lebensrettende Inkubatoren
oder Beatmungsgeräte teilweise oder ganz aus. Auch die Abwasser- und
Trinkwasserversorgung ist von den Stromausfällen betroffen". (S. 21)
"Inzwischen sieht keine
Organisation mehr einen Sinn in der Verlängerung des
Waffenstillstandes. Regelmäßig beschießen Brigaden der DFLP, der
Aqsa-Brigaden, der Volkskomitees und des Jihad israelische Orte. Die
politische Führung der HAMAS in Gaza, vor allem der
de-facto-Präsident Haniya, hat keine Mittel, das zu unterbinden, da
auch der eigene bewaffnete Flügel, die Qassam-Brigaden, keinen Sinn
mehr im Waffenstillstand sieht. Am 14. Dezember erklärt auch die
HAMAS-Auslandsführung durch Khaled Mashaal, die HAMAS lehne eine
Verlängerung ab, während Haniya immer noch hofft, dass es mit
ägyptischer Vermittlung zu einer Verlängerung kommt. Am 19.
Dezember, am Tag an dem das sechsmonatige Waffenstillstandsabkommen
ausläuft, erklären alle Fraktionen auf getrennten
Massenveranstaltungen, dass sie den Waffenstillstand für beendet
halten - auch die Fatah, obwohl aus Ramallah verlautet, der Sprecher
des Gazastreifens, Abu Harun, sei nicht autorisiert im Namen der
Fatah zu sprechen. Die Fatah-Organisation in Gaza ignoriert dies.
Die Führung in Ramallah hat kaum nach Einfluss auf die Organisation
im Gaza". (S. 22)
"Am 23. Dezember erklärt
der ehemalige Außenminister der HAMAS-Regierung, Mahmud al-Zahhar,
noch einmal, dass die HAMAS zur Fortsetzung des
Waffenstillstandsabkommens bereit sei, wenn sich Israel an die im
Juni vereinbarten Bedingungen - also vor allem die Aufhebung der
Blockade - hält. Allerdings ist der Diskurs der Qassam-Brigaden
gedämpfter. Abu Ubaida, Sprecher der Qassam-Brigaden, spricht
lediglich von der Möglichkeit der Aussetzung der Kampfhandlungen,
nicht mehr von einem Waffenstillstand und will auch Aktionen in
Israel nicht ausschließen, falls dieses mit seiner Aggression in
Gaza nicht aufhört (Ma`an, 23.12.2008). Aber da ist es schon zu
spät. Die Kriegsvorbereitung ist längst angelaufen".
(S. 22f)
(...)
------------------
Clemens Ronnefeldt
Referent für Friedensfragen beim Internationalen Versöhnungsbund -
Deutscher Zweig; A.-v.-Humboldt-Weg 8a 85354 Freising; Tel.: 08161
54 70 15 Fax: 08161 54 70 16
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Arbeit des Versöhnungsbund-Friedensreferates: Sparkasse
Minden-Lübbecke, Konto-Nr. 400 906 72, BLZ 490 501 01 Stichwort:
"Friedensreferat³.
Religiöse
Gruppen vereinnahmen die israelische
Armee
Von
Jonathan Cook, Auslandskorrespondent - 4.
Februar 2009
NAZARETH // Kritischen Stimmen zufolge
übernehmen extremistische Rabbiner und ihr Geheimen die israelische
Armee. Sie sind entschlossen, einen Heiligen Krieg gegen die
Palästinenser zu führen.
Im Zusammenhang mit einer Entwicklung,
die ein Militärhistoriker als rapide "Theologisierung" der
israelischen Armee bezeichnet hat, existieren bereits ganze
religiöse Kampfverbände, von denen viele in den Siedlungen der
Westbank stationiert sind. Sie folgen dem Aufruf von
Hardline-Rabbinern, die die Errichtung eines Groß-Israel
propagieren, das auch die besetzten palästinensischen Gebiete
einschließt.
Beobachtern zufolge ist ihr Einfluss
auf die Gestaltung der Ziele und Methoden der Armee bereits zu
bemerken, da sich immer mehr Absolventen von Offizierslehrgängen
auch aus den extremistischen Bevölkerungsgruppen Israels
rekrutieren.
"Wir haben den Punkt erreicht, an dem
eine kritische Masse religiöser Soldaten versucht, mit der Armee
darüber zu verhandeln, auf welche Weise und zu welchem Zweck
militärische Gewalt auf dem Schlachtfeld eingesetzt wird", erklärte
Jigal Levy, ein Politiksoziologe an der Offenen Universität, der
eine Reihe von Büchern über die israelische Armee verfasst hat.
Die neue Atmosphäre zeigte sich
deutlich an der "übermäßigen Gewalt", die während der jüngsten
Gaza-Offensive zum Einsatz kam", meinte Dr. Levy. Über 1.300
Palästinenser wurden getötet, in der Mehrheit Zivilisten, und
Tausende wurden verwundet, als in Gaza ganze Nachbarschaften dem
Erdboden gleichgemacht wurden.
"Wenn Soldaten, eingeschlossen die
weltlich orientierten, von religiösen Ideen erfüllt sind, macht sie
das weniger empfindsam für die Menschenrechte oder das Leiden der
anderen Seite."
Die größere Rolle extremistischer
Gruppen in der Armee kam in der letzten Woche ans Licht, als sich
herausstellte, dass das Armeerabbinat eine Broschüre an die Soldaten
zur Vorbereitung auf die jüngste 22-Tage-Offensive in Gaza verteilt
hatte.[1]
Yesch Din [2], eine israelische
Menschenrechtsgruppe, berichtete, dass das Material Botschaften
enthält, die "an eine Anstiftung zum Rassenhass gegen das
palästinensische Volk grenzen" und Soldaten möglicherweise dazu
veranlasst haben, internationales Recht zu missachten.
Die Broschüre zitiert ausgiebig Schlomo
Aviner, einen Rabbiner der äußersten Rechten, der ein religiöses
Seminar im muslimischen Viertel von Ost-Jerusalem leitet. Er
vergleicht die Palästinenser mit den Philistern, dem biblischen
Feind der Juden.
Er gibt den Rat: "Wenn du einem
grausamen Feind gegenüber Erbarmen zeigst, dann bist du grausam zu
unschuldigen und ehrlichen Soldaten ... Dies ist ein Krieg gegen
Mörder."
Die Broschüre wurde von dem obersten
Armeerabbiner, Brigadegeneral Avichai Ronski befürwortet, der dem
Vernehmen nach entschlossen ist, die "Kampfkraft" der Armee zu
verbessern, seit diese 2006 daran scheiterte, die Hisbollah im
Libanon vernichtend zu schlagen.
Israelischen Medien zufolge wurde
General Ronski vor drei Jahren mit dem Ansinnen eingesetzt,
religiöse Hardliner in der Armee und der Siedlergemeinschaft
versöhnlich zu stimmen.
General Ronski, selbst Siedler der
Gemeinschaft Itamar in der Nähe von Nablus, steht Gruppierungen der
äußersten Rechten nahe. Berichten zufolge besucht er regelmäßig
Mitglieder jüdischer Terrorgruppen im Gefängnis. Er hat sein Domizil
einem Siedler zur Verfügung gestellt, der unter Hausarrest steht,
weil er Palästinenser verletzt hat, und er hat höhere Offiziere in
eine kleine Gruppe von extremistischen Siedlern eingeführt, die
unter mehr als 150.000 Palästinensern in Hebron lebt.
Darüber hinaus hat er das Rabbinat
gründlich umgestaltet, das ursprünglich zu dem Zweck gegründet
worden war, religiöse Dienste anzubieten und sicherzustellen, dass
gläubige Soldaten die Möglichkeit erhalten, den Sabbath einzuhalten
und in der Armeekantine koschere Mahlzeiten einzunehmen.
Während des letzten Jahres ist es dem
Rabbinat gelungen, über seine Abteilung für Jüdisches Bewusstsein
[3] die Rolle des Ausbildungskorps der Armee zu übernehmen. Diese
Abteilung koordiniert ihre Aktivitäten mit Elad, einer
Siedler-Organisation, die in Ost-Jerusalem aktiv ist. Im Oktober
zitierte die Zeitung Ha'aretz [4] einen nicht weiter genannten
leitenden Offizier, der das Rabbinat beschuldigte, eine religiöse
und politische Gehirnwäsche der Truppen zu betreiben.Dr. Levy merkte
an, dass die Macht des Armeerabbinats mit der wachsenden Zahl
gläubiger Soldaten im Heer zunehme.Laut dem Projekt "Das Schweigen
brechen" [5], das von Soldaten ins Leben gerufen wurde, die das
Verhalten der Armee gegenüber Palästinensern an die Öffentlichkeit
bringen wollen, stammt die Broschüre, die an die Truppen in Gaza
verteilt wurde, ursprünglich von Siedlern in Hebron.
"Das Dokument gibt es mindestens schon
seit 2003", meinte Mikhael Manekin, 29, der selbst die religiösen
Regeln befolgt und einer der Direktoren der Gruppe ist. "Aber das
Neue daran ist, dass die Armee erfolgreich dafür herangezogen wird,
den Soldaten die Ansichten der extremistischen Siedler nahe zu
bringen."
Die Macht der religiösen Rechten in der
Armee spiegelt einen umfassenderen Trend in Israel wider, meinte Dr.
Levy. Er wies darauf hin, dass die ländlichen Kooperativen, bekannt
als Kibbuzim, die einst die säkulare Mittelklasse Israels beheimatet
und den Großteil des Offizierskorps hervorgebracht haben, seit den
frühen 1980er Jahren im Schwinden sind."Das durch ihren allmählichen
Rückzug aus der Armee entstandene Vakuum wurde von gläubigen
Jugendlichen und den Kindern der Siedlerbewegung gefüllt. Sie
dominieren jetzt in vielen Bereichen der Armee."
Laut Zahlen, die in den israelischen
Medien zitiert wurden, ist über ein Drittel der Soldaten in den
Kampfeinheiten gläubig. Das gleiche gilt für über 40 Prozent der
Absolventen von Offizierslehrgängen.
Die Armee hat diesen Trend unterstützt,
indem sie ungefähr zwei Dutzend Hesder Jeschiwot [6] gegründet hat,
Seminare, in denen junge Menschen in separaten religiösen Einheiten
biblische Studien mit dem Armeedienst kombinieren können. Viele
dieser Jeschiwot befinden sich in der Westbank, und die Studenten
werden von extremistischen Rabbinern aus den Siedlungen
unterrichtet.
Ehud Barak, der Verteidigungsminister,
hat das Programm zügig ausgeweitet und im letzten Sommer vier
Jeschiwot genehmigt, drei davon befinden sich in Siedlungen. Weitere
zehn warten dem Vernehmen nach auf seine Genehmigung.
Herr Manekin warnt jedoch davor, die
gegen die Zivilisten in Gaza gerichtete Gewalt allein auf den
Einfluss religiöser Extremisten zurückzuführen.
"Die Armee wird nach wie vor von
Israels säkularer Elite geführt, und diese hat schon immer ohne
Rücksicht auf die Sicherheit von Zivilisten gehandelt, wenn sie
Krieg führt. Jüdischer Nationalismus, der den Tod von Palästinensern
rechtfertigt, ist genauso gefährlich wie religiöser Extremismus."
Anmerkungen der Redaktion
Schattenblick:
[1] Titel: "Go Fight My
Fight: A Daily Study Table for the Soldier and Commander in a Time
of War"
[2] Yesh Din -
www.yesh-din.org/site/index.php
[3] Jewish Awareness
Department
[4]
http://www.haaretz.com/hasen/spages/1030558.html Israel military
rabbi under fire for 'brainwashing' soldiers - 23/10/2008,
Zugriff: 12.02.2009
[5] Breaking the Silence
- www.breakingthesilence.org.il
[6] Jeschiwot = Mehrzahl von Jeschiwa
(Talmud(hoch)schule)
Über den Autor:
Jonathan Cook ist der einzige
westliche Journalist, der in Nazareth lebt, der Hauptstadt der
palästinensischen Minderheit in Israel. Er war zuvor Mitarbeiter bei
den Zeitungen The Guardian und Observer und hat über den
israelisch-palästinensischen Konflikt auch für die Times, Le Monde
diplomatique, die International Herald Tribune, Al-Ahram Weekly,
Counterpunch und Aljazeera.net geschrieben. Er ist Autor von „Blood
and Religion“ (2006) und
von “Israel and the
Clash of Civilisations” (2008).
Sein neuestes Buch "Disappearing
Palestine: Israel's Experiments in Human Despair" ist im Oktober
2008 bei Zed Books in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten
erschienen. Weitere Informationen zum Buch unter:
http://www.jkcook.net/DisappearingPalestine.htm
Weitere Texte von Jonathan Cook findet
man auf seiner Website unter: http://www.jkcook.net/
Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick
Englischer Originaltext: http://www.jkcook.net/Articles2/0370.htm#Top
Die Originalfassung dieses Artikels
wurde in der Zeitung "The National", Abu Dhabi, veröffentlicht.
http://thenational.ae
Quelle: © Jonathan Cook,
4. Februar 2009 mit freundlicher
Genehmigung des Autors Internet: www.jkcook.net
veröffentlicht in „Schattenblick“, 13.
Februar 2009
Ein
kleines
rotes Licht
Uri Avnery, 18.4.09
VIELLEICHT ist Avigdor Lieberman nur
eine vorübergehende Episode in der Geschichte des Staates Israel.
Vielleicht wird das Feuer, das er anzuzünden versucht, nur kurz
flackern und von selbst wieder ausgehen. Oder vielleicht werden
auch die schwerwiegenden Korruptionsvorwürfe gegen ihn und die
daraus resultierenden polizeilichen Ermittlungen dazu führen, dass
er von der öffentlichen Bühne entfernt wird.
Aber auch das Gegenteil ist möglich.
Letzte Woche versprach er seinen Gefolgsleuten, dass ihn die
nächsten Wahl an die Macht bringen werde.
Vielleicht wird sich Lieberman als "Israbluff"
entpuppen (ein Ausdruck, den er selbst gerne anwendet) und
enthüllen, dass hinter der furchtbaren Fassade nichts anderes steckt
als ein gewöhnlicher Hochstapler.
Vielleicht wird dieser Lieberman
tatsächlich verschwinden und durch einen anderen, womöglich
Schlimmeren ersetzt werden.
Auf jeden Fall sollten wir uns mit dem
Phänomen, das er repräsentiert, offen aus einander setzen. Wenn
jemand glaubte, seine Äußerungen klingen faschistisch, dann sollte
man sich fragen: besteht die Möglichkeit, dass in Israel ein
faschistisches Regime an die Macht kommt?
DAS ANFÄNGLICHE Bauchgefühl ist ein
überwältigendes >Nein<. In Israel? In einem jüdischen Staat? Nach
dem Holocaust, den der Nazi-Faschismus über uns brachte? Kann sich
jemand vorstellen, dass Israelis so etwas wie Nazis werden?
Als Professor Yeshayahu Leibowitz vor
vielen Jahren den Ausdruck ‚Judäo-Nazis’ prägte, war das ganze Land
empört. Ja, viele seiner Bewunderer dachten, dieses Mal sei der
ungestüme Professor zu weit gegangen.
Aber Liebermans Slogans rechtfertigen
ihn im Nachhinein.
Einige schätzen Liebermans Erfolge bei
der letzten Wahl als vernachlässigenswert ein. Schließlich ist
seine Partei >Israel - unser Heim< nicht die erste Partei, die aus
dem Nichts kam und erstaunliche 15 Sitze gewann. Genau dieselbe
Anzahl wurde in der Vergangenheit von der Dash-Partei des General
Yigael Yadin 1977 und der Shinui-Partei von Tommy Lapid 2003
errungen - und beide verschwanden bald danach, ohne eine Spur zu
hinterlassen.
Aber Liebermans Wähler ähneln nicht den
Wählern von Yadin und Lapid, die ganz gewöhnliche Bürger waren, die
von einigen besonderen Erscheinungen des israelischen Lebens die
Nase voll hatten. Viele seiner Wähler sind Immigranten aus der
früheren Sowjetunion. Sie betrachten ihren ‚Ivett’, einen
Immigranten aus dem ehemals sowjetischen Land Moldawien, als einen
Vertreter ihres „Sektors“. Viele von ihnen brachten aus ihrer
früheren Heimat zwar ein rechtslastiges, antidemokratisches und
sogar rassistisches Weltbild mit sich, aber sie selbst stellen für
die israelische Demokratie keine Gefahr dar.
Aber die zusätzliche Macht, die
Liebermans Partei zur drittgrößten Fraktion in der neuen Knesset
werden ließ, kam von einer anderen Art von Wählern: den in Israel
geborenen jungen Leuten, von denen viele kürzlich am Gazakrieg
teilgenommen hatten. Sie stimmten für ihn, weil sie glaubten, er
würde die arabischen Bürger aus Israel und die Palästinenser aus
dem ganzen Land hinausschmeißen.
Es sind keine randständigen,
fanatischen und unterprivilegierten Leute, sondern normale junge
Leute, die die High-School beendet hatten und in der Armee dienten,
die in den Diskotheken tanzen und Familien gründen wollen. Wenn
solche Leute massenhaft in der Lage sind, für einen erklärten
Rassisten mit scharfem faschistischen Geruch zu stimmen, dann muss
das Phänomen genauer unter die Lupe genommen werden.
VOR FÜNFZIG Jahren schrieb ich ein Buch
‚Das Hakenkreuz’, in dem ich beschrieb, wie die Nazis Deutschland
eroberten. Meine Kindheitserinnerungen halfen mir dabei. Ich war
neun Jahre alt, als die an die Macht kamen. Ich wurde Zeuge der
Agonie der deutschen Demokratie und der ersten Schritte des neuen
Regimes, bevor meine Eltern in unglaublicher Weisheit sich
entschieden, das Land zu verlassen und sich in Palästina
anzusiedeln.
Ich schrieb das Buch am Vorabend des
Adolf-Eichmann-Prozesses, als ich bemerkte, dass die junge
Generation in Israel viel über den Holocaust wusste, aber fast
nichts über die Leute, die ihn verursachten. Was mich mehr als alles
andere beschäftigte, war die Frage: wie konnte solch eine monströse
Partei in demokratischer Weise in einem der zivilisiertesten Länder
der Welt an die Macht kommen?
Das letzte Kapitel in meinem Buch hieß
„Es kann hier geschehen“. Es war eine Paraphrase des Titels eines
Buches des amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis: ‚Es kann
hier nicht geschehen’, in dem er genau beschrieb, wie es in den USA
geschehen könnte.
Ich behauptete in dem Buch, dass
Nazismus nicht eine spezifisch deutsche Krankheit sei, dass unter
bestimmten Umständen jedes Land der Welt mit diesem Virus infiziert
werden könnte – unseren eigenen Staat mit eingeschlossen. Um diese
Gefahr zu verhindern, muss man die zugrunde liegenden Ursachen für
die Entwicklung der Krankheit erkennen.
Zu der Behauptung, dass ich von dieser
Sache ‚besessen’ sei, dass ich diese Gefahr hinter jeder Ecke lauern
sehe, kann ich nur sagen: das stimmt nicht. Jahrelang hab ich es
vermieden, mich mit diesem Thema zu befassen. Aber es stimmt, ich
habe in meinem Kopf so etwas wie ein rotes Lämpchen, das sich
anschaltet, wenn ich das Gefühl habe, dass Gefahr droht.
Jetzt blinkt es rot auf.
WAS BRACHTE diese Krankheit in der
Vergangenheit zum Ausbruch ? Warum brach sie zu einem bestimmten
Zeitpunkt aus und nicht zu einer anderen Zeit? Warum in Deutschland
und nicht in einem anderen Land mit ähnlichen Problemen?
Die Antwort lautet: Faschismus ist ein
spezielles Phänomen und nicht mit anderen zu vergleichen. Es ist
nicht eine ‚extreme Rechte’, eine Erweiterung von
‚nationalistischen’ oder ‚konservativen’ Einstellungen. Faschismus
ist das Gegenteil von Konservatismus, auch wenn er in konservativer
Verkleidung daherkommt. Er ist auch keine Radikalisierung eines
gewöhnlichen, normalen Nationalismus, den es in jeder Nation gibt.
Faschismus ist ein einzigartiges
Phänomen und hat einzigartige Züge: Die Idee, eine ‚Übernation’ zu
sein, anderen Völkern und nationalen Minderheiten die
Menschlichkeit abzusprechen, der Führerkult, ein Kult der Gewalt,
Verachtung der Demokratie, eine besondere Vorliebe für Krieg,
Verachtung für Moral und Ethik. All diese Attribute zusammen
schaffen das Phänomen, das keine anerkannte wissenschaftliche
Definition hat.
Wie geschah das?
Hunderte von Büchern sind schon darüber
geschrieben worden, Dutzende von Theorien sind aufgestellt worden,
und keine ist befriedigend. In aller Bescheidenheit schlag ich
meine eigene Theorie vor, ohne zu beanspruchen, dass sie mehr
Gültigkeit hat als andere.
Meiner Meinung nach bricht eine
faschistische Revolution dann aus, wenn eine ganz besondere
Persönlichkeit auf eine ganz besondere nationale Situation trifft.
AUCH ÜBER die Person Adolf Hitlers
wurden schon unzählige Bücher geschrieben. Jede Phase seines Lebens
ist genauestens untersucht, jede seiner Aktionen ist unerbittlich
debattiert worden. Es gibt keine Geheimnisse mehr über Hitler - doch
Hitler bleibt ein Rätsel.
Einer seiner offensichtlichsten
Charakterzüge war sein pathologischer Antisemitismus, der mit Logik
nicht zu erklären ist. Er hielt bis zu den letzten Stunden seines
Lebens daran fest, als er sein Testament diktierte und Selbstmord
beging. In den verzweifeltsten Augenblicken seines Krieges, als die
Soldaten nach Verstärkung und Nachschub schrieen, wurden wichtige
Eisenbahnzüge umgeleitet, um Juden zu den Todeslagern zu
transportieren. Als die Wehrmacht unter ernstem Mangel an allem
litt, wurden jüdische Arbeiter aus wichtigen Fabriken abgezogen, um
in den Tod geschickt zu werden.
Viele Erklärungen schon sind für diesen
pathologischen Antisemitismus herangezogen worden und alle wurden
widerlegt. Wollte Hitler an einem Juden Rache nehmen, der
verdächtigt wurde, sein wirklicher Großvater zu sein? Hasste er den
jüdischen Arzt, der seine geliebte Mutter behandelte, bevor sie
starb? War es eine Strafe für den jüdischen Direktor der
Kunstschule, der es versäumte, in ihm ein Kunstgenie zu erkennen?
Hasste er die armen Juden, die ihm begegneten, als er in Wien
heimatlos herumirrte? Alles ist geprüft und für fehlerhaft
befunden worden. Das Rätsel bleibt.
Dasselbe gilt auch für seine anderen
persönlichen Ansichten und Eigenschaften. Wie war es ihm möglich,
die Massen zu hypnotisieren? Was hatte er an sich, das so viele
Leute aller Schichten veranlasste, sich mit ihm zu identifizieren?
Woher kam seine ungehemmte Lust zur Macht?
Wir wissen es nicht. Es gibt keine
befriedigende Erklärung. Wir wissen nur, dass unter den Millionen
von Deutschen und Österreichern, die zu jener Zeit lebten, und den
Tausenden, die unter ähnlichen Umständen aufwuchsen, es - so weit
wir wissen - nur einen Hitler gab, eine einzigartige Person. Um
einen Ausdruck aus der Biologie auszuleihen: er war eine einmalige
Mutation.
Aber der einzigartige Hitler wäre nicht
eine historische Gestalt geworden, wenn er nicht in Deutschland auf
einzigartige Umstände gestoßen wäre.
ÜBER DAS Deutschland am Ende der
Weimarer Republik sind auch viele Bücher geschrieben worden. Was
veranlasste das deutsche Volk, den Nationalsozialismus anzunehmen?
Historische Gründe, die in der schrecklichen Katastrophe des
Dreißigjährigen Krieges oder in früheren Ereignissen wurzelten? Das
Gefühl der Erniedrigung nach dem Ersten Weltkrieg? Der Zorn auf die
Sieger, die Deutschland in den Staub zwangen und ihm riesige
Entschädigungszahlungen auferlegten? Die schreckliche Inflation von
1923, die die Ersparnisse ganzer Bevölkerungsschichten vernichtete?
Die große Depression von 1929, die Millionen von ehrbaren und
fleißigen Deutschen auf die Straße warf und arbeitslos machte?
Auch diese Frage hat keine
befriedigende Antwort gefunden. Andere Völker waren auch gedemütigt
worden. Andere Völker haben auch Kriege verloren. Die große
Depression hat Dutzende von Ländern getroffen. In den USA, in
Großbritannien waren auch Millionen entlassen worden. Warum hat der
Faschismus (abgesehen von Italien natürlich) in jenen Ländern
nicht Fuß fassen können?
Meiner Meinung nach hat sich der fatale
Funken in einem schicksalhaften Moment entzündet, als ein Volk für
den Faschismus bereit war und auf den Mann mit den Eigenschaften
eines faschistischen Führers traf.
Was wäre wohl geschehen, wenn Hitler
bei einem Verkehrsunfall im Herbst 1932 ums Leben gekommen wäre?
Vielleicht wäre dann ein anderer Nazi-Führer an die Macht gekommen –
aber der Holocaust wäre nicht geschehen und auch der 2. Weltkrieg
wäre wahrscheinlich nicht ausgebrochen. Seine möglichen Nachfolger
- Gregor Strasser, der die Nummer zwei war oder Hermann Göring, der
morphiumsüchtige Kampfflieger – waren tatsächlich Nazis, aber keiner
von ihnen war ein Hitler. Ihnen fehlte das Dämonische seiner
Person.
Und was wäre geschehen, wenn
Deutschland nicht in die Tiefen der Verzweiflung gefallen wäre?
Wenn die westlichen Mächte die Gefahr rechtzeitig erkannt hätten
und beim Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft geholfen und so die
Arbeitslosigkeit verringert hätten? Sie hätten den berüchtigten
Versailler Vertrag, den die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg
auferlegt hatten, aussetzen können, und so den Deutschen
erlaubt,ihre Selbstachtung wieder zu erlangen. Die deutsche Republik
hätte gerettet werden können, die moralisch integren
Führungspersönlichkeiten, von denen Deutschland viele hatte, hätten
ihre Führungsrolle wieder gewonnen.
Was wäre dann wohl geschehen? Adolf
Hitler, den der allgemein verehrte Reichspräsident und
Feldmarschall von Hindenburg verächtlich ‚den böhmischen
Gefreiten’ nannte, wäre ein kleiner Demagoge einer extremistischen
Randgruppe geblieben. Das 20. Jahrhundert hätte ziemlich anders
ausgesehen. Zig Millionen Kriegsopfer und 6 Millionen Juden wären am
Leben geblieben, ohne jemals zu erfahren, was hätte geschehen
können.
Aber Hitler starb nicht frühzeitig und
die Deutschen wurden nicht vor ihrem Schicksal bewahrt. In einem
entscheidenden Augenblick trafen sie auf einander, ein Funke
entstand, der die Zündschnur anzündete, die zur historischen
Explosion führte.
SOLCH EIN schicksalhaftes
Auf-einander-Treffen ist natürlich nicht auf den Faschismus
begrenzt. Es geschieht im Laufe der Geschichte auch unter anderen
Umständen und mit anderen Personen.
Winston Churchill z.B. Sein Denkmal
findet man immer wieder in der britischen Landschaft. Er wird als
einer der großen britischen Führer aller Zeiten angesehen.
Doch bis in die späten 30er-Jahre war
Churchill ein politischer Versager. Wenige bewunderten ihn und noch
weniger liebten ihn. Viele seiner Kollegen verachteten ihn aus
ganzem Herzen. Er wurde als Egomane, als arroganter Demagoge
angesehen, ein unberechenbarer Säufer. Aber in einem Moment der
existentiellen Gefahr fand Großbritannien in ihm sein Sprachrohr und
den Führer, der ihr Schicksal in seine Hand nahm. Es schien, als
wäre Churchill all die vorhergehenden 65 Jahre seines Lebens auf
diesen Augenblick vorbereitet worden, und als ob Großbritannien
genau auf diesen einen Mann gewartet hätte.
Hätte die Geschichte sich anders
entwickelt, wenn Churchill im Jahr davor an Thrombose, Lungenkrebs
oder Leberzirrhose gestorben und Neville Chamberlain an der Macht
geblieben wäre ? Wir wissen heute, dass er und seine Kollegen,
einschließlich des einflussreichen Außenministers Lord Halifax
ernsthaft erwogen hatten, Hitlers Friedensangebot von 1940
anzunehmen, das auf einer Teilung der Welt zwischen dem deutschen
und britischen Empire gegründet war.
Oder Lenin. Wenn der kaiserliche
deutsche Generalstab nicht den berühmten versiegelten Bahnwaggon
von Zürich nach Schweden für ihn zur Verfügung gestellt hätte und
er von dort nicht nach Sankt Petersburg weiter gereist wäre, wäre
dann die bolschewistische Revolution, die das Gesicht des 20.
Jahrhunderts veränderte, überhaupt ausgebrochen? Trotzki war
allerdings schon vorher in der Stadt und Stalin auch. Aber keiner
von beiden war ein Lenin, und ohne Lenin würde sie wahrscheinlich
nicht stattgefunden haben und sicher nicht in der Weise, wie sie
dann geschah.
Vielleicht sollte man dieser Liste noch
Barack Obama hinzufügen. Eine sehr spezielle Person von
einzigartiger Herkunft und einzigartigem Charakter, der ein
schicksalhaftes Zusammentreffen mit dem amerikanischen Volk in einem
bedeutsamen Moment seiner Geschichte hat, als es gleich zwei
Krisen durchzustehen hat – die wirtschaftliche und die politische –
die ihre Schatten auf die ganze Welt werfen.
ZURÜCK ZU UNS. Nähert sich der Staat
Israel einer existentiellen Krise – moralisch, politisch,
wirtschaftlich – die es in eine gefährdete Nation verwandelt? Kann
Lieberman oder jemand, der seinen Platz einnimmt, zu einer
dämonischen Gestalt wie Hitler werden oder zumindest wie
Mussolini?
In unserer nationalen Situation gibt es
einige gefährliche Hinweise. Der letzte Krieg zeigte eine weitere
Abnahme unserer moralischen Maßstäbe. Der Hass gegen Israels
arabische Minderheit wächst. Und so wächst auch der Hass gegen das
besetzte palästinensische Volk, das unter langsamer Strangulierung
leidet. In einigen Kreisen wächst die Verehrung brutaler Gewalt.
Das demokratische Regime befindet sich in einer nicht endenden
Krise. Die wirtschaftliche Situation könnte ins Chaos führen,
sodass die Massen nach einem ‚starken Mann’ verlangen. Und der
Glaube, dass wir das ‚auserwählte Volk’ sind, ist bereits tief
verwurzelt.
Diese Anzeichen müssen nicht
notwendigerweise zu einer Katastrophe führen. Absolut nicht. Die
Geschichte ist voller Nationen in Krisen, die sich erholt haben und
zur Normalität zurückfanden. Abgesehen von Hitler, der zu
historischen Höhen gelangte, gab es wahrscheinlich Hunderte von
anderen Hitlern, nicht weniger wahnsinnig und nicht weniger
talentiert, die ihr Leben als Bankkassierer oder frustrierte
Schreiberlinge endeten, weil sie nicht die entsprechende
historische Gelegenheit hatten.
Ich habe ein starkes Vertrauen in die
Stabilität der israelischen Gesellschaft und in die israelische
Demokratie. Ich bin davon überzeugt, dass sie verborgene Stärken
hat, die in der Stunde der Not zum Vorschein kommen.
Nichts ‚muss’ geschehen. Aber alles
‚kann’ geschehen. Und das rote Lämpchen wird nicht aufhören zu
blinken.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und
Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
Sprechende Hände
Mahnwache, mitorganisiert von Amna Knanna
Text: Lydia Aysenberg
In
einem stickig grauen Sandsturm stehen hunderte Juden und Araber eine
Stunde lang schweigend und Hand in Hand als Spalier an der Kurve der
Route 65 – Wadi Ara – einer der verkehrsreichsten israelischen
Autostraßen.
Die enge antike Durchgangsstraße, die sich zwischen der Bergkette
Amir Mountain und den Menashe Hills von der Stadt Hadera
landeinwärts windet, hat in der Vergangenheit ihren rechten Anteil
am Körperkontakt der anderen Art zwischen Juden und Arabern gehabt,
besonders im Jahr 2000 als Folge der zweiten Intifada
(palästinensische Volkserhebung).
Im vorwiegend muslimisch arabischen Gebiet von Wadi Ara (auf
arabisch) - Nachal Irron (auf hebräisch), auch das „Kleine Dreieck“
genannt – hat eine Anzahl von Friedensaktivisten, Mitglieder von
sowohl palästinensischen wie auch jüdischen
Nichtregierungsorganisationen zur Verbesserung nachbarschaftlicher
Beziehungen zwischen den lokalen Gemeinden mit Erfolg hunderte
Israelis dazu gebracht, gemeinsam an drei Wochenenden hinter
einander an der Kurve der Route 65 Spalier zu stehen.
Die einzige Spruchtafel, die sie hochhalten, sagt alles: VERBUNDEN
IN SCHMERZ UND HOFFNUNG, in hebräischer und in arabischer Sprache.
Vorüber fahrende Kraftfahrer zeigen ihre Anteilnahme durch lautes
Hupen oder durch Lichtsignale. Wenige, aber wirklich ganz wenige
„deuten mit dem Finger“ während der 60 Minuten dauernden
schweigenden Mahnwache, während der Männer, Frauen, Teenager und
kleine Kinder an beiden Seiten der Durchgangstraße Spalier stehen,
an der wichtigsten Einfallstraße nach Kfar Kara, einem der größten
arabischen Dörfer in der Gegend.
In
Kfar Kara gibt es auch die zweisprachige jüdisch-arabische Schule,
„Bridge Over the Wadi“ der Organisation „Hand in Hand“. Es gibt
neuerdings vier solche Schulen, zwei davon in Jerusalem und eine in
Misgav in Galiläa. „Bridge Over the Wadi“ ist allerdings die
einzige, die sich in einem arabischen Dorf befindet.
Unter diesen Menschen, die für den Frieden standen, war auch Anna
Sekuleg aus Auroville in Indien. Ursprünglich aus Holland, hat Anna
mit ihrem verstorbenen Ehemann, einem Israeli, jahrelang in
Auroville gelebt, einer internationalen Kommune, die 1968 in
Südindien gegründet wurde. Anna begleitete jüdische und
palästinensische Freunde bei deren schweigender Mahnwache für Wadi
Ara, während sie Familienbesuche in Israel absolvierte.
„Für mich ist das eine Möglichkeit, meine Unterstützung für sowohl
meine jüdischen wie auch meine palästinensischen Freunde hier in
diesem Land zum Ausdruck zu bringen“, erklärte Anna, die Workshops
für Konfliktlösung organisiert.
Hand in Hand mit Anna stand Liora Grossman aus der nahen Stadt
Karkur. Die Frauen hatten einander nie vorher getroffen. Die
Kinderbuch-Illustratorin Liora Grossman nahm zum ersten Mal an der
Wadi Ara Mahnwache teil. „Ich fühlte die Notwendigkeit, etwas zu
tun“, erklärte sie ihre Anwesenheit.
„Ich bin links, ja, aber nicht so links“, sagte sie „und ich habe
das Gefühl, wir haben von den Medien hier in Israel auch nicht die
ganze Wahrheit gesagt bekommen. Ich stehe hier für den
gleichberechtigten Lebensraum mit unseren palästinensischen Nachbarn
– Ich möchte ihre Rechte und unsere gleichzeitig verteidigen – Wenn
es nach mir ginge, gäbe es keine Grenzen“.
Anna Knanna ist eine muslimisch arabische Einwohnerin von Kfar Kara,
und eine der ersten OrganisatorInnen der Mahnwache.
„Hier in diesem Gebiet gibt es viele jüdische und palästinensische
Leute, die enge Verbindungen durch die Arbeit und ihr soziales
Umfeld haben; das hat sich über die vielen Jahre so ergeben, und wir
schätzen diese Verbindungen sehr. Wir wollten die anderen einladen,
an diesem Ausdruck der Solidarität mit zu machen, begleitet von dem
Wunsch, weiter an den soliden Beziehungen zu bauen, anstatt im
Gegenteil Flammen des Hasses anzufachen“, erklärte Amna, die
Gründerin der Frauengruppe „Awareness for you“ (Aufmerksamkeit für
dich) in Kfar Kara, mit der sie Kurse über bessere Lebensqualität
für das lokale arabische Frauenvolk durchführt.
Wegen der durch den Sandsturm dicken Luft, die das meiste Land
zudeckt (ein Sturm, von dem der Wetterwart behauptet, er käme von
der Libyschen Wüste) hatten Amna und ihre Mit-kämpferInnen Zweifel
gehabt, ob die Leute wohl zu der Mahnwache kämen. „Schau auf diesen
Auflauf bei diesem Sauwetter“, rief sie und breitete ihre Arme aus,
sodass sie (symbolisch) von einer Straßenseite zur anderen reichten:
Menschen jeden Alters, verschiedener Religionen und Lebenswege
aufgereiht an den Seiten der Landstraße!
Die öffentliche Bushaltestelle neben den Verkehrsampeln von Kfara
Kara hatten Juden und Araber und jugendliche BesucherInnen aus
Übersee, die vor einigen Jahren zu einem gemeinsamen Sommerlager
gekommen waren, „dekoriert“. Das Thema ist noch zu lesen, auch wenn
es etwas verblasst ist. Die Jugend hatte in vier oder fünf
verschiedenen Sprachen ihren Friedensabdruck an der Route 65
hinterlassen.
FRIEDEN
(Übers.: Gerhilde Merz)
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