DIE PIRATEN DES
MITTELMEERES
VERA MACHT
Staatliche
Maßnahmen stellen, selbst wenn sie unrechtmäßig sind, keine
Piraterie dar, so heißt es im internationalen Recht. Es ist
fraglich, ob bei der Implementierung dieses Gesetzes Israels
Verhalten in den Gewässern vor Gaza ausreichend bedacht
wurde.
Die
Cousins Mustafa, 42, Mahmoud, 30, and Hjazi ElLaham, 27,
waren am Morgen des 19. Februars 2011, wie jeden Morgen, mit
ihrem Boot auf dem Meer zum Fischen. Sie waren in dem
Gebiet, in dem sie immer sind, 2,5 Seemeilen von der Küste
entfernt, also inmitten der erlaubten Zone. Das Osloer
Abkommen hatte den Fischern Gazas bilateral 20 Kilometer zum
Fischen zugesichert. Israel verringerte diese Distanz später
unilateral auf 6 Seemeilen, und seit der Blockade stehen den
Fischern nur noch 3 Seemeilen zur Verfügung.
Es war jedoch
ein stürmischer Tag, die Cousins waren fast alleine auf dem
Meer. Während andere Fischer bei diesem Wetter lieber zu
Hause geblieben waren, konnten die drei sich den
Arbeitsausfall nicht leisten. Sie zogen gerade ihr Netz ein,
als sich ein israelisches Kriegsschiff näherte. Die Soldaten
des Schiffes begannen auf das Netz zu schießen. Die drei
Fischer arbeiteten schneller, sie konnten es nicht riskieren
ihr Netz zu verlieren, und starteten den Motor.
Bis dahin war
noch alles wie an einem gewöhnlichen Tag. „Wir werden fast
täglich von israelischen Kriegsschiffen beschossen", meint
Mustafa, der Älteste. „Das sind wir gewohnt."
Doch dann wurde
ihnen über Lautsprecher befohlen, den Motor wieder
auszumachen, da die Soldaten ansonsten dem Kapitän in die
Hand schießen würden. Die drei hielten das Boot an und zogen
den Motor aus dem Wasser. Das israelische Kriegsschiff
begann, das kleine Boot zu umkreisen, so schnell, dass die
dadurch erzeugten Wellen das Fischerboot fast zum Kentern
brachten. Als nächstes wurde ihnen befohlen, sich bis auf
die Unterwäsche auszuziehen und ins Wasser zu springen. „Wir
können nicht schwimmen!" riefen sie den Soldaten zu. „Könnt
ihr wirklich nicht schwimmen?" Hjazi lacht verschmitzt.
„Natürlich können wir schwimmen. Wir sind Fischer. Aber was
hätten wir denn sagen sollen?" Ihnen wurde erwidert, sie
sollten entweder ins Wasser springen und zum israelischen
Schiff schwimmen, oder man würde auf sie schießen. Also
sprangen sie, alle nacheinander. Bei den Soldaten angekommen
wurden sie gefesselt, ihre Augen wurden verbunden, und sie
mussten auf den Metallboden des Kriegsschiffes knien. Sie
sagten den Soldaten, sie würden frieren, die Plastikschnüre
ihrer Fesseln würden ihnen das Blut abschneiden, aber sie
wurden nur angewiesen, still zu sein. Ihr eigenes Boot wurde
vom Israelischen abgeschleppt.
Als sie den
Hafen Ashdod erreichten und vom Schiff gebracht wurden,
bekamen sie endlich neue Kleidung, und die Augenbinden
wurden ihnen abgenommen. Ein Arzt sah nach ihnen. Danach kam
ein Soldat, der sie fragte, ob sie ein Selbstmordattentat
geplant hätten. Ein Selbstmordattentat? Die drei sahen sich
verblüfft an. Man hatte sie im Süden des Gazastreifens
verhaftet, in der Nähe der Grenze zu Ägypten, genau entgegen
gesetzt zu der
meilenweit entfernten Grenze zu Israel. „Wir wurden fast
nackt hierher gebracht, und ihr habt doch unser Boot", sagte
Mahmoud schließlich. „Untersucht es doch einfach, ihr werdet
nichts als Fische und ein Netz finden."
Daraufhin
wurden sie einzeln vom Shin Bet, dem Geheimdienst verhört.
Nach einem Anschlagsversuch wurden sie nicht mehr gefragt,
das erschien wohl selbst diesen zu abstrus. Stattdessen
wurden ihnen Fotos gezeigt von ihrem Haus, ihrer Familie und
ihren Freunden, detaillgenau aufgenommen von einer Drohne.
Wir wissen alles über euch, sollten diese wohl sagen.
Anschließend sollten sie den Hafen beschreiben und den Ort,
an dem sich die Hafenpolizei normalerweise aufhält. Mustafa,
dem Ältesten, wurde Geld gezeigt. Viel Geld. Ob er sich
nicht vorstellen könne, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Mustafa schüttelte nur den Kopf.
Nachdem sie für
den Rest des Tages in einer Zelle gefangen gehalten wurden,
brachte man sie gegen neun Uhr abends zum Grenzübergang Erez.
Ohne Schuhe kamen sie schließlich zu Hause an. Ihre Familie
war außer sich vor Sorge. Wegen des stürmischen Meeres
hatten alle befürchtet, den Dreien wäre etwas zugestoßen.
Einer der Väter der Cousins hatte sich ein Boot geliehen, um
nach ihnen zu suchen. Er war bis zur ägyptischen Grenze
gelangt, als ein ägyptisches Kriegsschiff ihn nach Hause
schickte. Die ägyptischen Soldaten fragten ihn nach seiner
Handynummer. Sie würden ihn anrufen, wenn sie das Boot
fänden.
Die
israelischen Soldaten waren weniger hilfreich. Bevor sie
weggeschickt wurden, hatten die drei Cousins gefragt, was
mit ihrem Boot passieren würde, und wann sie es
zurückbekommenen würden. „Du wirst es in Ägypten
wiederfinden", antwortete einer der Soldaten. „Was bedeutet
das?", fragte Mustafa. „Das war nur ein Witz", bekam er als
Antwort. Auch ein anderer Soldat war gut gelaunt. „Wir haben
gerade die Saison, in der wir die Sachen bekommen, und ihr
sie nie wiederseht", war seine merkwürdige Aussage.
Für Mustafa,
Mahmoud und Hjazi ist dieses Thema weniger lustig. Durch die
Beschränkung auf drei Seemeilen verdienen sie ohnehin zu
wenig, um von ihrem Boot leben zu können. Aber das Boot und
diese drei Meilen sind alles was sie haben. „Jeder Meter
weiter draußen auf dem Meer bringt uns mehr Fische",
erzählen sie. Und damit stehen sie bei weitem nicht alleine
da.
Laut einem
Bericht des Roten Kreuzes werden fast 90% von Gazas Fischern
als arm (mit einem monatlichen Einkommen zwischen 100 und
190 US Dollar) oder sehr arm (weniger als 100 Dollar im
Monat) angesehen, im Jahre 2008 waren es noch 50%. Dazu
kommt, dass Gazas Fischer in ständiger
Gefahr leben, selbst
wenn sie sich in diesem begrenzten Gebiet aufhalten. Das Al Mazen Zentrum für Menschenrechte gibt an, dass das
israelische Militär zwischen dem 1. Mai 2009 und dem 30.
November 2010 in 53 Fällen Fischer angegriffen hat: zwei
Männer wurden getötet, sieben verletzt, 42 verhaftet, 17
Fischerboote wurden konfisziert und eines zerstört. Allein
im letzten Monat gab es drei weitere Fälle, in denen Fischer
in genau dem gleichen Muster gekidnappt und anschließend
ohne ihr Boot wieder freigelassen wurden.
Es sind
insgesamt sechs Familien, für deren Lebensunterhalt Mustafa,
Mahmoud und Hjazi mit diesem Boot aufkommen. Sechs Familien,
die nun nicht wissen, wovon sie leben sollen. Was haben sie
jetzt vor? Wie soll es weitergehen?
„Wir hoffen
immer noch, dass wir das Boot vielleicht irgendwann
wiederbekommen. Wir können uns kein neues leisten.", sagt
Hjazi. Dann lacht er leise. „Es sind doch auch noch meine
Frühstückseier auf dem Boot."
Vera Macht
lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza. Sie ist
Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen
Überlebenskampf der Menschen im Gazastreifen. Kontakt: gaza@riseup.net