Dieser Artikel ist über Omar Maruf. Warum ist dieser eine
Mensch so wichtig, wenn doch täglich Dutzende unschuldige
Menschen sterben, überall auf dieser Welt? Warum ein Artikel
über diesen Einen?
Omar Maruf
wurde von einem Soldaten getötet, der schwer bewaffnet war,
bestens ausgestattet mit allem, was die neuste westliche
Militärindustrie zu bieten hat. Omar selbst trug alte,
schmutzige Kleidung und war mit seinem Esel beim Steine
sammeln. Es handelte sich bei Omar noch nicht einmal um
einen sogenannten "Kollateralschaden", der bei einem
Militärangriff unglücklicherweise von einer fehlgeleiteten
Kugel oder Bombe getroffen wurde. In unseren modernen
Kriegen, in denen angeblich alles präzise kalkulierbar ist,
befindet sich dennoch immer wieder jemand zur falschen Zeit
am falschen Ort. Aber dieses Mal war es nicht so. Nein, ein
junger Soldat, schwer bewaffnet und bestens ausgerüstet, hat
auf Omar gezielt, der mit ärmlicher Kleidung und Steinen in
der Hand dastand, und beschlossen, ihn zu erschießen. Ein
junger Soldat verspürte an einem sonnigen Wintermorgen das
Bedürfnis, einen Menschen seines Alters zu töten, vielleicht
war das Leben Omars in seinen Augen nicht wichtig genug. Er
wusste, dass diese Tat für ihn nie irgendwelche Konsequenzen
haben wird, dass er sich niemals dafür würde rechtfertigen
müssen. Weil Omar ein Palästinenser war, der keine Rechte
hat, dessen Leben nicht zählt.
Dieser Artikel
handelt von Omar Maruf, weil sein Leben doch zählt. Weil
sein Tod Entrüstung und die Forderung nach Gerechtigkeit
verdient. Weil ich in die stummen Gesichter der trauernden
Brüder Omars gesehen habe, weil ich seinen Cousins zugehört
habe, die umso mehr redeten, aus Wut und Hilflosigkeit. Wie
man denn einfach einen jungen Menschen ermorden kann, haben
sie mich gefragt. Wie es sein kann, dass der israelische
Soldat nicht verklagt wird, dass es keine Gerechtigkeit
gibt, dass es niemanden interessiert. Warum man Menschen wie
sie, warum man Palästinenser einfach erschießen kann. Warum
niemand etwas tut. Warum keine Regierung dieser Welt ihnen
zu Hilfe kommt, wenn die israelische Regierung davon
überzeugt ist, dass internationales Recht für sie nicht
gilt.
Hier ist sie
also die Geschichte des Todes von Omar Maruf. Zwanzig Jahre
war er alt, Vater eines zwei Jahre alten Sohnes. "Geh nicht
zunahe zur Grenze, das ist zu gefährlich", hatte sein Cousin
Talal ihn vorher gewarnt. Er hätte keine Wahl war Omars
Antwort. Er hätte einen Sohn, der Essen braucht. Also ging
er zur Grenze, um Steine zu sammeln. Es war 9:30 Uhr am
Morgen des 28. Februar 2011. Talal war ungefähr 700 Meter
von der Grenze entfernt auf seinem eigenen Land. Omar befand
sich in 400 Metern Entfernung von der Grenze, als die
israelischen Soldaten das Feuer eröffneten. Er war außerhalb
der sogenannten Pufferzone, dem 300 Meter breiten Landstrich
entlang der Grenze zu Israel, dessen Betreten das
israelische Militär unter Todesandrohung verboten hat. Man
kann darüber diskutieren, ob es rechtmäßig ist, offiziell zu
erklären, man würde alle Zivilisten des Nachbarstaates
erschießen, die sich auf ihrem eigenen Ackerland nahe
der Grenze
befinden. Aber das braucht man gar nicht. Omar war hundert
Meter von der Pufferzone entfernt.
Talal konnte
Omar von seinem Standpunkt aus nicht sehen, er wusste nicht,
was mit ihm geschehen war, ob die Schüsse der Soldaten ihn
getroffen hatten. Sie schossen mehrere Salven. Mit der
letzten Salve erschossen sie den Esel. Talal konnte sehen,
wie er starb. Warum bloß den Esel, fragt man sich. Eine so
sinnlose zusätzliche Grausamkeit. Doch da wusste Talal noch
nicht, was mit Omar geschehen war. Kurz darauf brachen zwei
Bulldozer und ein Panzer in das Land ein, es war Talal
unmöglich, näher zu kommen. Auch der Krankenwagen des Roten
Kreuzes, den er gerufen hatte, erhielt selbst nach
Rücksprache mit der israelischen Seite keine Erlaubnis, sich
dem Eselskarren zu nähern. Die Bulldozer begannen, rund um
den Karren mit dem toten Esel einen Graben zu schaufeln,
fast einen halben Kilometer entfernt vom Territorium ihres
eigenen Staates. Warum, fragt man sich. Warum bloß
schaufelten sie einen Graben um den Eselskarren? Kurz darauf
beobachtete Talal aus sicherer Entfernung, wie der leblose
Körper Omars in den Panzer gebracht wurde. Wieder fragt man
sich, warum? Warum nur nahmen sie Omar mit sich? Vielleicht
wollen sie ihn behandeln, überlegte Talal. Behandeln? Zwei
Stunden lang versuchten die Sanitäter des Roten Kreuzes
herauszufinden, was mit Omar geschehen war, wo er sich
befand, ob er noch lebte. Vergeblich. Schließlich bekamen
die Sanitäter einen Anruf des Krankenhauses von Gaza Stadt:
Ein Körper war durch den israelischen Grenzübergang Erez
hineingebracht worden, Omar war tot.
„Was dachten
sich denn die Soldaten bloß, als sie auf ihn schossen?",
fragt mich sein Cousin. „Dachten sie er würde irgendeine
Gefahr darstellen? Er hat doch nicht einmal Geld, um Milch
für sein Kind zu kaufen. Dachten sie, er hätte Geld für eine
Waffe? Dachten sie, er hätte einen Panzer?" Als ob ich eine
Antwort hätte. Doch was mich weiter beschäftigt ist die
Frage, warum die Soldaten ihn mitgenommen haben. Die Familie
ist davon überzeugt, dass sie ihm helfen wollten. Ich frage
einen seiner Brüder, ob Spuren von medizinischer Behandlung
an seinem Körper sichtbar waren. Er schüttelt den Kopf.
„Nein", antwortet er, „ich habe seinen Körper gesehen. Da
waren keine Einstichstellen einer Infusion, kein Verband.
Die Kugel war auf der linken Seite seines Körpers
eingetreten und auf der anderen wieder herausgekommen." Eine
Dumdum-Kugel, die größtmöglichen Schaden hinterlässt.
Geschosse, die
im Inneren des Körpers explodieren sind laut Genfer
Konvention 1889, Artikel 3, verboten. Ich erwähne nicht,
dass das Benutzen solcher Geschosse kaum zu der Annahme
passt, die Soldaten hätten helfen wollen. Vielleicht ist der
Gedanke einfach zu beruhigend, dass einer von ihnen den
verletzen Omar tatsächlich als Menschen wahrgenommen hat,
der Hilfe brauchte.
Doch etwas war
an Omar verändert worden. Als sein toter Körper im
Krankenhaus ankam, klebte ein Zettel auf seiner Brust.
„Terrorist" stand darauf.
Omar Maruf ist
der achte Zivilist, der in den letzten beiden Monaten in der
Pufferzone erschossen wurde. Seit Beginn letzten Jahres
wurden weit über 100 Arbeiter und Bauern von israelischen
Scharfschützen in der Pufferzone angeschossen, 18 davon
starben.
Vera Macht
lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza. Sie ist
Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen
Überlebenskampf der Menschen im Gazastreifen. Kontakt: gaza@riseup.net