GAZA´S VERGESSENE KINDER
Vera Macht
An einem sonnigen Tag im März 2009 tat Wafaa Jehad
Elnagar, jetzt 17 Jahre alt, etwas was Millionen von
Kindern an diesem Tag taten, und an jedem Tag tun: sie
ging von der Schule nach Hause. Aber anders als für
andere Kinder auf dieser Welt, die das jeden Tag in
Sicherheit tun, ist für Wafaa der Heimweg eine ernste
Gefahr. An diesem Tag, als sie auf ihrem üblichen Weg
nach Hause war, auf einer Straße in Sichtweite von
israelischen Wachtürmen, zielte ein israelischer
Scharfschütze auf ihr Knie und zertrümmerte es für
immer.
Wafaa ist eins der 89000 Kinder, die in der Pufferzone
leben, und deren Eltern nie ganz genau wissen, ob und
wie sie ihre Kinder wiedersehen, wenn sie sie morgens
zur Schule schicken. Ihr Bruder wurde während dem Krieg
auf dem Weg nach Hause von einem Soldaten erschossen.
Auf den Zetteln, die von israelischen Militärflugzeugen
über den Häusern in Grenznähe abgeworfen wurden stand,
dass unter Todesandrohung niemand der Grenze näher als
300 Meter kommen dürfe. Aber da Kugeln normalerweise
kein gutes Gefühl für Entfernungen haben, wird das
Gefahrengebiet von der UN auf 500 Meter geschätzt, in
der Realität werden Kinder in weit größerer Entfernung
von Kugeln getroffen. Und wie soll man ein Gebiet
meiden, in dem die Schule liegt?
Es gibt 13 Schulen in der Pufferzone, davon eine UNRWA
Schule. Diese sind in sieben Schulgebäuden verteilt.
Platz ist rar für Schüler in Gaza, wo nicht einmal die
UN die Einfuhr von ausreichend Baumaterial gestattet
bekommt, um dringend benötigte Schulen zu bauen.
Fast täglich bricht die israelische Armee ins Land des
Gazastreifens ein, um platt zu walzen, was nicht mehr
platt zu walzen ist, immer gefolgt von willkürlichem
Schießen in die Umgebung. Die Shuhada Schule in Khuza’a,
im Süden des Gazastreifens, ist das letzte Gebäude vor
der Grenze. Danach folgen wenige hundert Meter karges,
plattes Land. „Die Soldaten in den Panzern haben klare
Sicht auf die Schule, es ist eindeutig, dass das ein
Schulgebäude ist. Es ist sogar eine UN-Flagge auf dem
Dach”, sagt die Direktorin der Schule, Myasser Mahmoud
Elsalhy. “Wenn sie hier zu schießen anfangen, dann muss
die Schule das Ziel sein.“ Wir lassen die Kinder dann
nicht mehr auf den Pausenhof, und auch nicht mehr in die
oberen Stockwerke der Schule. Oder der Unterricht fällt
ganz aus. Wir können unseren Schülern auch keine
Aktivitäten außerhalb des Stundenplans anbieten, keinen
Sport draußen, keine Feiern. Das wäre alles zu
gefährlich.“ Doch die Schule macht das Beste daraus. So
hat sie kürzlich eine Ausstellung abgehalten – mit all
den Kugeln und Bombenteilen die sie allein im letzten
Jahr auf dem Schulgelände gefunden haben.
Fragt man die Schüler, wie es denn so ist, eine Schule
zu besuchen, die täglich unter Beschuss ist, so trifft
man erst auf ängstliches Schweigen, aber fangen die
Mädchen einmal an zu sprechen, dann dauert es nicht
lange, bis das erste von ihnen weint. „Wir haben
ununterbrochen Angst“, sagt Heba, ihre noch
unverschleierten schwarzen Haare mit einer blauen
Schleife zusammen gebunden, passend zur Farbe ihrer
Schuluniform. „Jedes Mal
wenn wir Bomben oder Artilleriegeschosse hören,
verstecken wir uns an einem Platz, wo wir nichts hören
und nichts sehen, und fragen uns, ob der Krieg wieder
angefangen hat. Eines Nachts haben Soldaten unsere Tür
eingebrochen, sind hinein gestürzt, und haben meinen
Vater für eine Weile mitgenommen, wir wissen bis heute
nicht warum.“ Und die Lehrerin erzählt, wie sie eines
Tages in eine andere Klasse ging, und die Schüler auf
dem Boden liegend vorfand, die Lehrerin schützend auf
ihnen liegend.
Und sie erzählt, wie eines Morgens im Jahre 2009 die
Schüler einer Klasse nicht schnell genug waren, und ein
Junge von dem Splitter einer Artilleriegranate getroffen
wurde, während er an seinem Tisch saß und schrieb. Der
Splitter ging durch seine Nase, ein paar Zentimeter
weiter rechts und er wäre tot gewesen. Der Rettungswagen
vom roten Kreuz kommt nicht bis zur Schule – zu
gefährlich für die Rettungssanitäter, lautet die
Anweisung des UNDP Sicherheitsplanes.
Zu gefährlich ist das Gebiet für Rettungswagen, und für
Mitarbeiter internationaler Organisationen, die sich der
Grenze laut dem UNDP Plan nicht mehr als 1000 m nähern
dürfen, nicht einmal in gepanzerten Fahrzeugen. Für
Schulkinder scheint die Gegend jedoch nicht zu
gefährlich zu sein. Auf der letzten Bildungskonferenz
internationaler NGOs, die in Gaza stattfand, wurden
Schulen in der Pufferzone als „nicht von Priorität“
bezeichnet, erzählt ein Mitarbeiter von Safe the
Children International. Das ist allerdings das einzige,
was er zur Pufferzone sagen darf. „Ich bedauere es
selber sehr, aber zum Thema Schulen und Kinder in der
Pufferzone darf ich mich nicht äußern“, meint er. „Wir
dürfen die Pufferzone nicht betreten, und arbeiten
deshalb auch nicht dort. Mir sind die Hände gebunden.“
Nicht alle Kinder scheinen einen Anspruch auf Rettung zu
haben. Auf Anfrage bei der UN, die immerhin auch eine
Schule dort unterhält, kommt die gleiche Antwort. Es
wird lediglich auf den letzten UN-Bericht zum Thema
verwiesen, bei dem die Probleme von Kindern, die unter
diesen Lebensumständen aufwachsen, allerdings mit keinem
Wort erwähnt werden.
Die Direktorin einer anderen Grenzgebietschule in Bait
Hanoun, im Norden Gazas, erzählt wie Organisationen
Termine mit ihr ausmachen, um die Schule zu besuchen,
nur um dann im letzten Moment abzusagen. Wegen einem
erneuten Panzereinbruch, wegen fehlgeschlagener
Koordination mit der israelischen Seite, vielleicht
wollte sich aber auch einfach keiner der Mitarbeiter in
Gefahr begeben. „Auch UNICEF hat sich angekündigt, aber
noch keiner ist gekommen“, sagt die ältere Frau,
Direktorin einer Schule deren Wände von Kugeln und
Artilleriegeschossen durchsiebt sind. „Wir wollen nur,
dass jemand mit dem israelischen Militär vereinbart,
dass während der Schulzeiten um das Schulgebäude herum
nicht geschossen wird, aber niemand tut etwas.“ Sie
klingt resigniert.
Und so steht Sabah Aburjela und ihre kleine lokale NGO
„Zukunftshaus“ mit ihrer Arbeit als Psychologin für die
Kinder von Kuza’as Pufferzone sehr alleine da. „Die
ständige Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit, in der
die Kinder in der Pufferzone leben, führt zu
schwerwiegenden psychologischen Problemen“, erklärt sie.
„Wenn man dort aufwächst hat mein keine Kindheit. Man
hat keine Normalität, keine Ruhe, und nicht das
elementare Gefühl von Sicherheit, das Kinder unbedingt
brauchen. Kinder dort haben keine Rechte, kein Recht auf
freie Bildung, kein Recht zum Spielen, nicht einmal das
Recht auf Leben. Sie können ihr
Haus nicht verlassen, ohne sich in Lebensgefahr zu
begeben.“ Sie beschreibt Fälle, in denen Kinder beim
Spielen in der Nähe ihres Hauses auf vom israelischen
Militär zurückgelassene Artilleriegranaten stießen. „Sie
heben sie auf, ohne zu wissen was es ist, und von der
Explosion werden ihnen die Hände abgerissen, oder es
endet sogar tödlich“, sagt Sabah. „Und nachts hören die
Kinder den Lärm der Kugeln. Die Folge dieser
Lebensumstände sind Schlafprobleme, Depressionen oder
Bettnässen, um nur ein paar psychische Erkrankungen zu
nennen. Sie neigen selber zu aggressivem Verhalten
untereinander oder wollen ihr Haus überhaupt nicht mehr
verlassen.“
„Wir Kinder hier in der Pufferzone“, sagt Heba, das
schwarzhaarige Mädchen mit der blauen Schleife, „wir
tragen unsere Seele ungeschützt auf unserer Hand“.
Vera Macht lebt und arbeitet seit April 2010 in
Gaza. Sie ist Friedensaktivistin und berichtet über den
täglichen Überlebenskampf der Menschen im Gazastreifen (Vera.Macht@uni-jena.de)