In
Deutschland soll Kritik an der Politik Israels nicht sein,
dafür sorgt der Vorwurf des Antisemitismus.
Karin Leukefeld
„Jung, männlich,
Muslim und Antisemit“ (Wiener Zeitung, 25.2.09), „Judenhass
unter Migranten verbreitet“ (Financial Times Deutschland,
23.2.09), „Antijüdische Tendenzen bei Migranten“ (AP, 23.2.09)
oder „Antisemitismus in jedem Jugendclub“ (taz, 24.2.09) –
wieder einmal macht „Antisemitismus“ in Deutschland
Schlagzeilen, und die zeigen auf Muslime. Die Meldungen häuften
sich Ende Februar und basierten auf der Studie „Die Juden sind
schuld“, die von der Berliner Amadeo-Antonio-Stiftung
veröffentlicht wurde. „Warum häufen sich in letzter Zeit die
Meldungen über Antisemitismus unter muslimisch sozialisierten
Jugendlichen“, hatte sich die Stiftung gefragt und „Was kann
dagegen getan werden?“ Etwa zeitgleich, seit Anfang des Jahres,
berichteten auch in Frankreich und Großbritannien Medien über
ein ähnliches Phänomen. Auf Demonstrationen gegen den Gazakrieg
sei es zu „judenfeindlichen Ausfällen“ gekommen, berichtete die
Wochenzeitung Die Zeit und warnte vor einer „antisemitischen
Radikalisierung in den Banlieus, den Ghettos“ um Paris. Und in
Großbritannien berichtete der Community Security Trust (CST),
die den Selbstschutz der jüdischen Gemeinschaft in
Großbritannien organisiert, dass Übergriffe auf jüdische Bürger
seit dem 29. Dezember 2008 zugenommen hätten. War da was?
Richtig, die israelische Luftwaffe bombardierte den
Gazastreifen, seit dem 27. Dezember. Könnte also die scheinbar
so plötzliche Häufung „antijüdischer Tendenzen bei Migranten“,
die in Deutschland für Schlagzeilen sorgt, vielleicht etwas mit
dem Krieg gegen Gaza zu tun haben? Die meisten
„judenfeindlichen“ Äußerungen habe man bei Demonstrationen gegen
den Gazakrieg festgestellt, so ein (evangelischer) Pfarrer für
christlich-jüdischen Dialog in Baden-Württemberg. „Neonazis,
Linke und vor allem Islamisten“ seien in ihrem Protest gegen den
Krieg „vereint in nicht gekanntem Judenhass.“ Ein Glaubensbruder
stimmte dem Pfarrer, der seine Beobachtungen auf einer
Internetseite veröffentlicht hatte zu und wetterte: „Zu den
Feinden Israels zählen heute nicht nur die als Antisemiten
erkennbaren Feinde Israels wie die Vereinten Nationen, sondern
auch der Ökumenische Rat der Kirchen! Christen, Nachfolger Jesu,
wacht auf und stellt euch auf Gottes Seite und an die Seite
Israels!“
Die Menschen
verachtende Ideologie von Neonazis, ihr Antisemitismus und
Rassismus gehört nicht nur in Deutschland wieder zum Alltag.
Doch warum sollen junge Muslime und Migranten, Linke, die
Vereinten Nationen oder gar der Ökumenische Rat der Kirchen
„antisemitisch“ sein? Weil sie die Kriegsverbrechen des Staates
Israels an Palästinensern anprangern oder deren Untersuchung
fordern?
Die Wut über Israel
ist groß, nicht nur, aber besonders bei Muslimen und da ganz
besonders bei denen, die arabischer oder palästinensischer
Herkunft sind. Immerhin hält Israel, die „einzige Demokratie im
Mittleren Osten“, nicht nur seit mehr als 40 Jahren illegal
arabisches Land besetzt, diese „Demokratie“ überzog ihre wehr-
und besitzlosen palästinensischen Nachbarn im Gazastreifen mit
einem Krieg, der im zynischen Verhältnis 1 zu mehr als 100 Toten
„zugunsten“ Israels endete. Die militärische Offensive wurde von
einem nicht weniger heftigen medialen Angriff begleitet, der den
Überfall als „Selbstverteidigung“ deklarierte und die
Palästinenser (Hamas) bezichtigte, den „Waffenstillstand
gebrochen“ zu haben. Der UN-Sonderbeauftragte für die
Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten,
Richard Falk wies zwar detailliert nach, dass nicht die Hamas,
sondern Israel den Waffenstillstand brach (4.11.) und Falk
fragte auch, warum Israel für den Schutz seiner Bürger
eigentlich nicht verhandelt, anstatt immer wieder Krieg zu
führen. Doch für den Staat Israel sind solche Fragen unzulässig
und so verwies er den renommierten Professor des Landes. Doch
die Kritik am Vorgehen Israels gegen die Palästinenser will
nicht verstummen, im Gegenteil. Politiker, Wissenschaftler und
Künstler aus aller Welt fordern mittlerweile, Waren und andere
Exporte aus und nach Israel zu boykottieren, um die ewigen
Krieger zum Einlenken zu zwingen. Amnesty International fordert,
weder an Israel noch an die Palästinenser Waffen zu liefern. Bei
BBC, CNN oder Al Dschasira wird laut und unverschlüsselt über
die Rolle Israels gestritten und Nachkommen jüdischer
Holocaustopfer haben – dokumentiert in der französischen
Tageszeitung Le Monde – den israelischen Präsidenten und den
Direktor der Gedenkstätte Yad Vashem aufgefordert, die Namen
ihrer Angehörigen von den Wänden der Gedenkstätte zu entfernen,
weil sie nicht mehr wollen, dass Israel „den Holocaust als
Entschuldigung nutzt, um weitere Holocausts“ (griechisch:
Brandopfer) zu begehen.
In Deutschland aber
soll Kritik an der Politik Israels nicht sein, dafür sorgt der
Vorwurf des Antisemitismus. Hier wird Kritik an der Politik des
Staates Israel gleichgesetzt mit Kritik an den Juden und wird
somit antisemitisch. Es geht nicht um verbale Entgleisungen von
hitzköpfigen Demonstranten, die in ihrer Wut ungehörige Dinge
schreien oder Plakate zeigen, auf denen die israelische Fahne
mit einem Hakenkreuz versehen ist. Wie man sich dagegen
verwahrt, haben Friedensaktivisten und Antifaschisten vielerorts
während der Demonstrationen gegen den Krieg in Gaza gezeigt.
Nein, der Vorwurf des Antisemitismus verhindert hierzulande eine
notwendige politische Diskussion über die Situation im Mittleren
Osten. Schlimmer noch, er rechtfertigt Zensur, Entlassung und
öffentliche Denunziation. Es geht nicht um die Aufklärung über
Judenfeindlichkeit oder gar Rassismus, es geht um die
Konditionierung einer Gesellschaft, in der Leute wie der
Journalist und Autor Ludwig Watzal wegen seiner Israel
kritischen Analysen des „Nahostkonflikts“ ungestraft diffamiert
und beruflich herabgestuft werden darf. In der
Friedensaktivistinnen wie Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des
früheren Vorsitzenden vom Zentralrat der Juden, sich für ihre
Israel kritischen Äußerungen öffentlich beschimpfen und
beleidigen lassen muss und ein Gerichtsentscheid das auch noch
zuläßt. Und wo aufrechte Antifaschisten, wie der Linkspolitiker
Hermann Dierkes in Duisburg, wegen seiner öffentlichen Kritik an
der israelischen Besatzungspolitik und dem Aufruf zum Boykott
israelischer Waren, der übrigens vom Weltsozialforum in Belem
(Brasilien) im Januar 2009 unterstützt wird, mit „Beleidigungen,
Verleumdungen, Hass und Morddrohungen“ zum Rücktritt gezwungen
werden kann. Der Vorwurf des Antisemitismus löst in Deutschland
einen Reflex aus, nicht Reflexion, er mahnt nicht oder klärt
auf, sondern er wird zu Drohung gegen jene, die die Politik
Israels öffentlich kritisieren. Der Vorwurf des Antisemitismus
ist hohl geworden in Deutschland, ein Totschlagsargument, mit
Respekt vor dem Judentum hat das wenig zu tun.
Ein besseres Beispiel
zeigen da die viel geschmähten muslimischen Araber in Palästina
und der Region. Jahrhunderte lang lebten sie mit Juden und
Christen Tür an Tür, trieben Handel, stritten und vertrugen
sich, drückten gemeinsam die Schulbank, ließen sie kostenlos das
Wasser aus ihren Brunnen schöpfen und gewährten ihnen Schutz,
wenn sie verfolgt wurden oder für die Nacht ein Dach über dem
Kopf brauchten. Und selbst heute noch, nach all dem Unrecht,
dass der Staat Israel und seine mächtigen Verbündeten, ihnen
angetan haben, nach dem Diebstahl von Boden und Wasser, der
Zerstörung ihrer Häuser, Felder und Gärten, ihrer Gesundheit und
Freiheit, selbst heute wissen die Palästinenser zu
differenzieren zwischen den Menschen, den Juden und ihrer
Geschichte und einer israelischen Regierung, die diese
Geschichte schamlos ausbeutet. Für den jungen Palästinenser
Hassan Moussa aus Ni’lin in der israelisch besetzten Westbank
ist es selbstverständlich, dem Leid der Juden im Holocaust mit
Respekt zu begegnen. Am 27. Januar, dem UN-Tag zum Gedenken an
den Holocaust, eröffnete Moussa, der sich auch im Volkskomitee
gegen die (israelische) Mauer engagiert, mit anderen
Friedensaktivisten eine Ausstellung zum Holocaust an den Juden
zwischen 1930 und 1945 in Deutschland und Europa. Der
Palästinenser hält uns, sicherlich ganz ohne Absicht, den
Spiegel vor und wir müssen hineinsehen. Denn hier, bei uns,
mitten in Europa wurden Juden (und andere, die man für anders
hielt, als sich selber) Jahrhunderte lang verfolgt, vertrieben
und ermordet.