Das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge
–
Stolperstein auf dem Weg zu einem nahöstlichen Frieden
Von Mohammed Khallouk
Erbe aus zwei Nahostkriegen
Das künftige Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge gehört zu den
Kernfragen des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern, zu denen es in
den seit Madrid (1991) begonnen Friedensverhandlungen noch keine von beiden
Seiten als gerecht empfundene Einigung gegeben hat. Das Flüchtlingsproblem
entstand bereits mit dem ersten Palästinakrieg 1948, welchen Israel mit dem Ziel
der staatlichen Unabhängigkeit führte. Ob es sich dabei mehrheitlich um eine
echte Flucht oder eine von israelischer Seite gesteuerte Vertreibung handelte,
wird je nach politischer Anschauung unterschiedlich beantwortet. Die Mehrheit
der Historiker geht davon aus, dass es drei Ursachen gegeben habe, die mit
verschiedenen Fluchtphasen einhergegangen seien:
1. Die arabischen Führer sollen mit Rückeroberungsversprechen einen Teil der
Bevölkerung, insbesondere in der ersten Hälfte 1948, zwischen der israelischen
Unabhängigkeitserklärung und der Anerkennung Israels durch die UNO, zur
Auswanderung motiviert haben.
2. Ein weiterer Teil soll vor allem seit der
Unabhängigkeitserklärung vom 14.5.1948 aus Panik vor den israelischen Angriffen
und Einschüchterungsversuchen zionistischer Verbände wie Hagana, Etzel und Lechi,
denen man sich nicht glaubte, erwehren zu können, geflohen sein.
3. Ein dritter Teil soll im Sommer 1948 direkt von
israelischen Einheiten bei der Einnahme bisheriger palästinensischer Städte aus
späterem israelischem Territorium vertrieben worden sein.
Die Gesamtzahl aller palästinensischen Flüchtlinge im Zusammenhang mit diesem
Krieg belief sich nach offiziellen UNO-Angaben auf 750.000, wobei israelische
Angaben gewöhnlich erheblich niedrigere und arabische Angaben deutlich darüber
liegende Zahlen ausweisen. Die Hauptfluchtzielgebiete waren das Westjordanland,
der Gazastreifen, aber auch Jordanien und der Libanon, so dass nur rund ein
Fünftel im Gebiet des neuen Staates Israel blieben. Als Reaktion auf diese
Fluchtwelle verfasste die UNO eine Resolution, die den Flüchtlingen das Recht
auf freie Rückkehr in ihre Heimat oder eine finanzielle Entschädigung für ihr
verlorenes Eigentum ermöglichen sollte. Israel bot der UN- Versöhnungskommission
für Palästina an, 100.000 Flüchtlingen im Rahmen einer Gesamtregelung die
Rückkehr zu gestatten, was arabische Staaten wie Palästinenser, welche die
vollständige Rückkehr verlangten, jedoch ablehnten. Die arabischen
Aufnahmestaaten behandelten die Flüchtlinge unterschiedlich. Während Jordanien
ihnen Staatsbürgerrechte und politische Mitsprache gewährte, versagten Ägypten,
Syrien und Libanon ihnen diese und behandelten sie teilweise wie Menschen
zweiter Klasse, benutzten sie aber gleichzeitig als Propagandainstrumente gegen
Israel. Dies war nur möglich, weil man bei der einheimischen Bevölkerung den
Glauben an einen weiteren Krieg mit arabischem Sieg aufrechterhielt, mit welchem
das Flüchtlingsproblem von selbst gelöst wäre, wie dies der damalige
libanesische Ministerpräsident Abdallah Al-Jafi zum Ausdruck brachte, wenn er
das offiziell angestrebte Kriegsziel, die Liquidierung Israels, mit der Rückkehr
der Flüchtlinge nach Palästina gleichsetzte.
Diese Äußerungen arabischer Führer wurden zur Legitimation für weitere
Aufrüstung Seitens Israels benutzt, welche schließlich in den israelischen
Angriff auf die Nachbarstaaten im Juni 1967 mündeten. Im folgenden
Sechs-Tage-Krieg kam es zu einer weiteren Eroberung arabischen Gebietes durch
die israelische Armee, die in die Westbank, den Gazastreifen, die Golanhöhen,
den Sinai und Ostjerusalem vordrang und die zweite große Flüchtlingswelle
auslöste, wobei unter den rund 200.000 Flüchtlingen, vor allem aus dem
Westjordanland und dem Gazastreifen, fast die Hälfte 1948 schon einmal geflohen
waren. Insgesamt verlies rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung diese Gebiete,
die meisten ins nahe Ausland, vor allem nach Jordanien. Auch dieser Krieg und
das daraus entstandene Flüchtlingsproblem ließen die internationale
Staatengemeinschaft nicht kalt, so dass der UN-Sicherheitsrat sich entschloss,
erneut eine Resolution zu verfassen, in der die Notwendigkeit einer gerechten
Lösung des Flüchtlingsproblems gefordert wurde, welche die Konfliktparteien
allerdings wie bereits 1948 auf ihre Weise interpretierten.
Freiwillige Emigration oder aktive Vertreibung?
Um eine gerechte Regelung der Flüchtlingsfrage zu finden, sollte man sich die
unterschiedlichen Standpunkte der israelischen und palästinensischen Seite
vergegenwärtigen. Diese hängen nicht zuletzt mit der unterschiedlichen
Sichtweise der Fluchtursache zusammen. Die Mehrheit der israelischen Historiker
geht bis heute davon aus, dass es Vertreibung seitens Israels überhaupt nicht
gegeben habe, sondern dass die arabischen Führer die palästinensische
Bevölkerung zur Räumung ihrer Heimatgebiete in der Hoffnung auf einen späteren
Sieg im Krieg genötigt hätten. Man wirft den arabischen Staaten vor, sie hätten
das Flüchtlingsproblem nicht wirklich lösen wollen, zum einen aus Furcht vor
einer Erschütterung ihrer Ordnung und dem Eindringen revolutionärer Ideen und
zum anderen um aus der Verewigung des Flüchtlingsproblems einen Vorteil im Kampf
gegen Israel zu ziehen. Die arabischen Historiker gehen hingegen von einer
aktiven Vertreibung aus. Sie appellieren an Israel, die Verantwortung für das
Flüchtlingsproblem zu übernehmen, weil es vor und während der Eroberung
systematisch die Palästinenser vertrieben habe. In den Friedensverhandlungen mit
Israel forderten die Palästinenser immer wieder das Rückkehrrecht der
„Vertriebenen“ in ihre Ursprungsgebiete. Dabei bezogen sie sich auf die
UNO-Resolution 194 von 1948. Daneben beriefen sie sich auf die UN-
Menschenrechtscharta, in der jedem das Recht zugesprochen wird, jedes Land
einschließlich seines eigenen zu verlassen und dorthin zurückzukehren. Außerdem
führten sie die zahlreichen weiteren diesen Konflikt betreffenden UNO-
Resolutionen an, die alle mit etwas abgeänderter Wortwahl Israel zur
Wiederaufnahme der palästinensischen Flüchtlinge auffordern.
Israel lehnte diese Forderung ab, sah darin eine Gefahr für seine Sicherheit und
verwies auf den „jüdischen Charakter seines Staates“, der beim mit der Rückkehr
der Flüchtlinge verbundenen befürchteten Verlust der jüdischen Mehrheit bedroht
sei. Peres zufolge werde diese Forderung wegen des „nationalen Charakters
Israels“ von seinem Land als „Maximalforderung“ niemals akzeptiert. Der jüdische
Schriftsteller Dan Diner interpretiert sogar den gesamten Nahostkonflikt als
zuvorderst einen demographischen und erst nachgeordnet territorialen Konflikt.
Peres präsentiert immerhin eine konkrete Lösungsvorstellung der Flüchtlingsfrage
in einem aus drei Phasen, der Verhandlungsphase, der Phase der Interimsregierung
und der Phase der permanenten Regelung bestehenden Projekt. Als weitere
Lösungsmöglichkeit wird eine finanzielle Wiedergutmachung von Seiten Israels an
die Flüchtlinge in ihren jeweiligen Aufnahmeländern vorgeschlagen, wozu Israel
sich allerdings bisher nur unter bestimmten Voraussetzungen bereiterklärte. In
den Jahren 1949/50 lehnte es Zahlungen an Einzelpersonen ab und bestand darauf,
lediglich einer internationalen Organisation eine gewisse Summe zur Ansiedlung
in den Aufnahmeländern zu zahlen. Mitte der 50er Jahre wollte Israel zudem
Zahlungen an die Flüchtlinge von weiteren Bedingungen abhängig machen wie einem
Ende des arabischen Wirtschaftsboykotts gegen sich, einem umfassenden Frieden
mit den arabischen Staaten und Ausgleichzahlungen an Juden, die aus der
arabischen Welt nach Israel geflohen seien.
Vollständige Rückkehr oder Heimatrecht ohne Daueraufenthalt?
Realistisch betrachtet kann dieses Rückkehrrecht nicht allen hunderttausenden
Flüchtlingen gleichzeitig gewährt werden. Daher sollte man darauf drängen, dass
derjenige Teil, der zur sofortigen Rückkehr bereit ist, nach Israel einreisen
können muss, derjenige Teil aber, der sich mit einem Leben in seiner neuen
Heimat bereits abgefunden hat, eine Entschädigung bekommt. Außerdem sollte ihnen
die Rückkehr zu einem späteren Zeitpunkt nicht verwehrt werden, da man auch
nicht alle Juden, die dies wünschten, gleichzeitig hat einreisen lassen, sondern
in Intervallen. Das Verhältnis der palästinensischen Flüchtlinge zu ihrem neu zu
gründenden Palästinenserstaat lässt sich mit dem Verhältnis der Juden zu Israel
vergleichen, die in Israel ihren Staat sehen, obwohl viele von ihnen nicht dort
leben. Dies hindert sie jedoch nicht, ohne Genehmigung von überall auf der Welt
dorthin zu reisen. Für Palästinenser kann ihre Ursprungsheimat ebenfalls zu
einem solchen Land werden, welches sie als das Ihre betrachten, auch wenn sie
ihr Leben woanders verbringen. Es gilt auf die vielen Palästinenser hinzuweisen,
die es im Ausland bereits zu beträchtlichem Wohlstand gebracht haben und daher
nur ein geringes Interesse an einer Rückkehr in ihre Ursprungsgebiete haben
dürften. Sie werden es sich jedoch nicht nehmen lassen, ihre daheim gebliebenen
Verwandten dort zu besuchen und zu den Heiligen Stätten zu pilgern. Zum nächst
besten Zeitpunkt darf es eine vollständige Rückkehr nicht geben, da dies weder
das israelische noch das palästinensische Gemeinwesen verkraften würde, sie
würde aber auch nicht im befürchteten Ausmaß erfolgen, da wohl kaum einer der
mittlerweile Jahrzehnte im Ausland lebenden und arbeitenden Palästinenser auf
die Idee käme, nach Palästina zurückzukehren. Sinnvoll erscheint dieses
Rückkehrrecht symbolisch auszusprechen und anzuerkennen, dass es neben der
einfachen Flucht echte Vertreibung gegeben hat und denjenigen, die heute noch
Nachteile aus ihrer damaligen Flüchtlingssituation erleben, so bald wie möglich
Entschädigungen in Form von festgesetzten Geldbeträgen zu zahlen, mit welchen
sie unter gegebenen Umständen an ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort ein
menschenwürdiges Leben führen können.