Die jüdischen
Siedlungen in den Besetzten Gebieten –
Pulverfass zwischen Israelis und Palästinensern
von Mohammed Khallouk
Heimkehr ins „Gelobte Land“ oder strategisch-religiös legitimierte
Kolonialpolitik?
Seit der Madrider Konferenz von
1991 zeigte sich die Problematik um die Zukunft der jüdischen
Siedlungen in den seit 1967 besetzten Palästinensergebieten als
eines der schwerwiegendsten Hindernisse auf dem Weg zu einem
nahöstlichen Friedensabkommen. Wie sollte mit den Siedlern der
Westbank, des Gazastreifens und nicht zuletzt Ostjerusalems
umgegangen werden? Um hierauf eine fundierte Antwort geben zu
können, sollte man sich zunächst mit der Entstehungsgeschichte der
Siedlungen in den Besetzten Gebieten beschäftigen. Die Ansiedlung
von jüdischer Bevölkerung dort begann bereits 1967 mit der
militärischen Eroberung dieser Gebiete, war aber von zwei
verschiedenen Motivationen geleitet, der strategischen und
ideologischen, von denen phasenweise die eine und phasenweise die
andere Motivation dominierte. Die Ansiedlung erfolgte daher zeitlich
und räumlich nicht linear. Der strategische Siedlungsbau, der
bereits im ersten Jahrzehnt der Besatzungszeit intensiv
vorangetrieben wurde, brachte Wehrsiedlungen zur Absicherung des
Kernlandes gegen arabische
Rückeroberungsversuche
hervor, die vor allem in Grenznähe und abseits des palästinensischen
Siedlungsgebiets errichtet wurden. Der ideologische Siedlungsbau mit
Siedlungsgründungen mitten im palästinensisch bewohnten Gebiet war
geprägt von dem Bewusstsein, mit der Eroberung von 1967 in „seit
alttestamentlicher Zeit Israel zustehendes“ Land vorgedrungen zu
sein. Man wähnte im Westjordanland das biblische Judäa und Samaria,
dessen „Erlösung“ man sich verpflichtet fühlte und mit Hilfe
messianischen Gedankenguts diese Siedlungsgründungen propagierte.
Die Erde von Israel (gemeint war das ersehnte biblische Großisrael)
wurde dafür, wie der Kolumnist Amnon Kapeliuk betonte, ebenso wie
die Armee des (weltlichen) Staates und sein Volk als „heilig“
betrachtet, woraufhin alle Handlungen Israels als „heilige“
Handlungen aufgefasst wurden. Weil die Vertreter dieser Sichtweise
in der Anfangszeit der Besatzung nur geringen Einfluss auf die von
der Labourpartei angeführte Regierung hatten, beschränkten sie ihre
Siedlungstätigkeit auf die ihnen bedeutend erscheinenden Orte in der
Nähe sogenannter „Heiliger Plätze“, wie in Hebron, wo die
mittlerweile 450 jüdisch-fundamentalistischen Siedler auch den
Muslimen Heilige Stätten wie die Machpela-Höhle verehren, wo der
gemeinsame Stammvater Abraham sowie Isaak und Jakob begraben liegen
sollen.
Der gleichzeitig durch die bis 1977 amtierende Labour -Regierung
staatlich organisierte strategische Siedlungsbau ließ bereits zu
dieser Zeit die Zahl der jüdischen Siedler in den Besetzten Gebieten
deutlich ansteigen. Der Allon-Plan in den frühen 70er Jahren,
benannt nach seinem Schöpfer Jigal Allon, hatte die Siedlungen so
konzipiert, dass sie einen 20km breiten Sicherheitskorridor entlang
des Jordans und an der Nord- und Südgrenze des Gazastreifens bilden
sollten. Das dicht besiedelte palästinensische Gebiet sollte dagegen
jordanisch verwaltet werden. Diesem Plan folgend wurden vor allem an
der Grenze der Westbank zu Jordanien, wie auch derjenigen des
Gazastreifens zu Ägypten in breiten Streifen abseits der Städte
Wehrsiedlungen errichtet, in welche vor allem Neueinwanderer aus der
jüdischen Diaspora einzogen, denen die Grundstückspreise im
israelischen Kernland zu hoch waren. Nach dem politischen Wechsel in
Israel von der Arbeiterpartei zum den fundamentalistischen
Siedlerorganisationen näher stehenden Likudblock ließ auch die
Regierung von sich aus in der Nähe palästinensischer Wohngebiete
jüdische Siedlungen errichten, wobei sich der Staat die Sichtweise
der Siedler, es handele sich um die Wiederbesiedlung des biblischen
Landes „Erez Yisrael“, verbunden mit dem politischen Anspruch eines
„jüdischen Mehrheitsrechts“ zu eigen machte. Diesem Grundsatz
folgend kippte man den Allon-Plan und beschlagnahmte bis Mitte der
Achtziger Jahre mehr als die Hälfte der Westbank, um in 20 % davon
Siedlungen anzulegen. Der Siedlungsbau schwellte so stark an, dass
nur 4 Jahre nach Amtsantritt dieser Regierung die Zahl der dort
ansässigen Juden sich mit fast 30.000 versiebenfacht hatte und die
Zahl der Siedlungen die 100 überstieg. Die Siedlungen wurden
ringförmig um die palästinensischen Städte mit militärischer
Umzäunung angelegt, um die Palästinenser beim Verlassen ihrer Städte
kontrollieren zu können, eine Politik, die nicht nur bei diesen,
sondern auch in Israel selbst zunehmend auf Kritik stieß und von
liberalen jüdischen Gelehrten wie Dan Diner und Maxime Rodinson als
„Kolonialpolitik“ gewertet wurde.
Vollzieher biblischer Prophezeiungen oder Nutznießer
sozialrechtlicher Privilegien?
Für
Juden und Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten wurden
unterschiedliche Rechtsverhältnisse geschaffen. Fielen die einen
unter israelisches Recht, so mussten die anderen sich an eine
Mischung aus türkisch- osmanischem und jordanischem Recht halten.
Auf eine Annektierung der Gebiete, welche man ideologisch als zu
Israel gehörig betrachtete, wurde mit Ausnahme der Golanhöhen und
Ostjerusalems verzichtet, da erstens die Zahl der dorthin siedelnden
Juden trotz massiver Propaganda der Siedlerorganisationen und
zeitweise auch der Regierung immer unter deren Vorstellungen blieb
und man zweitens den Verlust der jüdischen Mehrheit des Staates
Israel durch die vielen bei Annektion hinzukommenden Nichtjuden
fürchtete. Angesichts erkennbar höherer Geburtenraten unter
Palästinensern als Israelis hätte sich der Zeitpunkt der Umkehrung
der ethnischen Mehrheitsverhältnisse in diesem „Großisrael“ in der
Tat leicht ausrechnen lassen. Diese Erkenntnis hinderte die
ideologisch geprägten Machthaber jener Zeit nicht, den Siedlungsbau
in den Besetzten Gebieten beschleunigt voranzutreiben, um die
„dauerhafte jüdische Präsenz irreversibel“ werden zu lassen. Da das
Interesse der bereits in Israel lebenden Juden an einem Umzug in die
Besetzten Gebiete eher gering war, versuchte man jüdische
Neueinwanderer aus der damaligen UDSSR zu bewegen, dort hinzuziehen,
indem ihnen die benötigten Subventionen für den sozialen Wohnungsbau
nur bei gleichzeitiger Ansiedlung in den Besetzten Gebiete gewährt
wurden, wodurch die Zahl der Siedler auf mittlerweile 170.000 in 160
Siedlungen erhöht werden konnte und eine bislang dieser Ideologie
eher ablehnend gegenüberstehende Gruppe politisch für die
Großisraelziele gewonnen wurde. Mögen diese Zahlen im Verhältnis zur
israelischen und palästinensischen Gesamtbevölkerung klein
erscheinen, so sehr stellen jüdische Siedler in Ostjerusalem die
Hälfte der dortigen Gesamtbevölkerung und halten im übrigen
Palästinensergebiet zumindest einen ständigen israelischen Anspruch
aufrecht, eines der Haupthindernisse auf dem Weg zu einem Frieden in
Nahost. Brisanz gewinnt die Siedlungsproblematik außerdem durch die
Tatsache, dass ein großer Teil dieser Siedler fundamentalistische
und den Palästinensern gegenüber feindliche Ansichten hegt, sowie
bewaffnet und jederzeit gewaltbereit ist. Ihre Gewalt richtete sich
bisher nicht nur gegen Palästinenser, sondern ebenso gegen am
Ausgleich mit diesen interessierte Juden, wie den ersten
Labourpremier nach 1977 und Friedensnobelpreisträger Yitzhak Rabin,
der von einem diesem Siedlermilieu nahe stehenden Mann erschossen
wurde. Hieraus folgend befürchten liberale Juden wie Robert I.
Friedman und Michael Wolffsohn, dass es zu einem „innerjüdischen
Bürgerkrieg“ kommen könnte, wenn die israelische Regierung sich
tatsächlich bereit erklärte, die jüdischen Siedler zur Abgabe ihrer
Waffen und Aufgabe ihrer Siedlungen zu zwingen.
Siedlungsbau trotz Friedensverhandlungen
Ungeachtet
internationaler Kritik, wurde die politische Siedlungsförderung in
den Besetzten Gebieten auch nach Beginn der Friedensverhandlungen
von Madrid 1991 fortgesetzt. Erst die Regierung Rabin/Peres
unternahm mit der Beschränkung der Bau- und
Entschließungssubventionen erste Schritte zu einer Beendigung der
Siedlungspolitik. Hierbei wurde zwar der Bau weiterer Siedlungen
vorerst gestoppt, nicht aber der Ausbau bestehender, so dass die
Zahl der Siedler auch während der Osloverhandlungen zunahm. Es
sollen in dieser Zeit Pläne kursiert sein, mittels 10 Mia. $
Kompensationen, diesen Siedlern die Rückkehr ins israelische
Kernland attraktiv erscheinen zu lassen. Solchen Angeboten zum Trotz
bewilligte die Regierung Rabin 1994, entgegen einer offiziellen
Bestimmung der Prinzipienerklärung den Bau weiterer Wohneinheiten
mit zugehöriger Infrastruktur in bestehenden Siedlungen im
Westjordanland, so dass in dieser Zeit insgesamt 25.000 neue Siedler
in die Besetzten Gebiete zogen. Im Oslo-II-Abkommen wurde die
Westbank in Gebiete verschiedener Zuständigkeiten eingeteilt, wobei
die jüdischen Siedlungen weiterhin ebenso wie die zugehörige
Infrastruktur der israelischen Kontrolle unterstellt, die
palästinensische Landnutzung in der Umgebung der Siedlungen
eingeschränkt blieben und die Siedlungen, die sich innerhalb und in
der Umgebung Ostjerusalems befinden, überhaupt nicht erwähnt wurden.
Moshe Zimmermann sah gerade in dieser Ausklammerung der
Siedlungsproblematik ein „größtes Hemmnis des Friedensprozesses“, da
die teilweise Autonomie der Palästinenser durch den Bau neuer
Verbindungsstraßen für die Siedlungen wieder eingeschränkt werde. Er
warf daher auch der Linksregierung unter Rabin mangelnden
Friedenswillen vor. Immerhin war die Rhetorik Rabins eine andere als
die früherer Regierungen. Die Staatsführung hatte offiziell
anerkannt, dass die Siedler eine Gefahr für den Frieden darstellten
und dies mit Einstufung der radikalsten Siedlerorganisationen als
„friedensfeindliche Gruppierungen“ demonstriert. Zu eindeutigen
gegen diese Siedler gerichteten Entscheidungen fehlte allerdings der
politische Mut. Die Palästinensische Führung hatte zu dieser
Situation mit beigetragen, da sie der Siedlungsproblematik lange
Zeit ebenfalls nicht die notwendige Aufmerksamkeit schenkte und in
keinem der bisher geschlossenen Abkommen auf der Räumung einer
bestimmten Anzahl an Siedlungen als Grundvoraussetzung bestand. Sie
ermöglichte der israelischen Seite damit immer wieder, zu Lasten
ihres Volkes Fakten zu schaffen und hatte wenig in der Hand, womit
sie auf der internationalen Bühne hätte Druck ausüben können. Die
Brisanz der Siedlungsproblematik und realpolitische Gründe hatten
Israel veranlasst, bei den Verhandlungen mit der PLO darauf zu
drängen, dass die Siedlungen darin keine Rolle spielen dürften und
erst zwei Jahre nach dem Kairo-Abkommen vom 4.5.1994 darüber
verhandelt werden sollte. Da Arafat darauf einging, hat er Edward W.
Said zufolge die palästinensischen Anliegen in den Verhandlungen
verraten. Mochte die Ausklammerung der Siedlungsfrage einerseits
eine vorzeitige Beendigung des Friedensprozesses verhindern, so
schuf sie andererseits einem weniger friedlich gesinnten Nachfolger
Rabins die Legitimation für eine Wiederaufnahme des Neubaus von
Siedlungen. In der Tat waren die Zielsetzungen der konservativen
Regierung Netanjahu in den späten Neunziger Jahren wieder klar
pro-Siedler orientiert. In diesem Geist wurden im direkten Anschluss
an die Koalitionsverhandlungen im Sommer 1996, Genehmigungen für den
Bau von über 5.000 Wohnungen im Westjordanland erteilt. Auch die
gegenwärtig regierende Kadima- Partei stellt die Siedlungen in der
Westbank besonders aber in Ostjerusalem nach wie vor nicht zur
Disposition.
Minorität mit Sonderrechten oder jüdische Bürger Palästinas?
Wie
ist mit der Siedlungsproblematik auf vernünftige Weise umzugehen,
die nicht nur die Siedlungspolitik als solche, sondern aufgrund
ihrer Gewalttätigkeit sowie fundamentalistischen Einstellungen auch
die Siedler selbst beinhaltet? Nicht nur der Siedlungsbau muss
beendet werden, sondern es erfordert zudem die bereits dort lebenden
Siedler zu entwaffnen und gegebenenfalls zur Aufgabe ihrer
Siedlungen zu drängen, um, wie Bassam Tibi betont, die Sicherheit
und physische Existenz der palästinensischen Zivilbevölkerung zu
garantieren, eine Forderung, der sich auch liberale Juden wie
Michael Lerner anschließen. Ein anderer Lösungsweg, der in der
israelischen Politik offenbar leichter durchsetzbar wäre, ist jener,
nicht alle Siedler zum Abzug zu zwingen, sondern diejenigen, die
unbedingt bleiben wollen, ausgestattet mit Minderheitenrechten als
Staatsbürger Palästinas der palästinensischen Jurisdiktion zu
unterstellen. Dass eine solche Lösung möglich ist, zeigen die Araber
im Staat Israel, die eine Minderheit darstellen, in ihren
kulturellen Eigenheiten von der jüdischen Mehrheit aber nicht
eingeschränkt werden.
Letztlich wird es keine Lösung geben, mit der alle Seiten absolut
zufrieden sind. Eine Seite wird immer gewisse Unannehmlichkeiten in
Kauf nehmen müssen. Darum stellt sich die Frage, wem die größeren
„Unannehmlichkeiten“ zuzumuten sind. Hier denke ich, gibt es so
etwas wie ein aus der Geschichte oder Gewohnheit erwachsenes
Rechtsverhältnis. Die Palästinenser haben sich nicht aussuchen
können, wo sie leben wollten. Vielmehr wurden einige aus dem
Territorium des heutigen Staates Israel in diese Gebiete vertrieben
und der andere Teil hat zumindest seit Generationen ungestört dort
gelebt. Die jüdischen Siedler hingegen wurden zwar mit finanziellen
Anreizen dorthin gelockt, es hat sie aber niemand gezwungen, sich
hier nieder zu lassen. Hierausfolgend sind sie diejenigen, von denen
am ehesten Zugeständnisse
wie
die Annahme einer palästinensischen Staatsangehörigkeit oder der
Fortzug verlangt werden können. Sollten sie sich für ersteres
entscheiden, so können sie auch hier nicht erwarten, Sonderrechte
gegenüber ihren neuen Mitbürgern zu bekommen. Statt dessen sollten
sie sich die jüdischen Minderheiten in anderen Staaten wie Marokko
zum Vorbild nehmen, die dort ihr Leben führen, ohne gegen die Normen
eines von islamischer Kultur geprägten Landes zu verstoßen. Wenn die
Palästinenser um die Siedlungen herum ihre Menschenrechte
vollständig zugestanden bekommen, werden sie akzeptieren, dass in
ihrer direkten Umgebung Angehörige einer anderen Kultur leben und
bereit sein, diese als gleichwertig zu achten. Da die absolute Zahl
der jüdischen Siedler im Verhältnis zur sie umgebenden
palästinensischen Bevölkerung immer noch sehr gering ist, dürfte
ihre Integration eigentlich kein so großes Problem darstellen, wie
es auf den ersten Blick erscheint.
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