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Beginn des Vortrags von Iris Hefets
("Kritische Juden und Israelis") gehalten auf einer Tagung der
Evangelischen Akademie Bad Boll im Mai 2011
Sami,
ein im Libanon geborener und in den USA aufgewachsener
Palästinenser, kam im Zusammenhang mit seiner Doktorarbeit nach
Berlin. Da er in der linken Szene in New York aktiv war, wurde ihm
von linken Aktivisten in Berlin eine WG vermittelt. Er besichtigte
die WG, die ihm gefiel, und unterhielt sich mit den drei jungen
Frauen, die dort schon wohnten. Es stellte sich heraus, dass eine
von ihnen eine Israelin war. Er dachte, es wäre besser, wenn sie
über mögliche Konflikte sprechen würden, bevor er einzieht. Maayan,
die Israelin, meinte, sie hätte kein Problem damit, da sie sich auch
als Linke verstehe. Sami aber hatte schon Erfahrungen in der
Peace-Industry des Westens gesammelt und schon viele Israelis kennen
gelernt, die auch so etwas von sich behaupteten. Der Löwenanteil der
Israelis, die sich so definierten, hatte eine Vision des neuen Nahen
Osten ähnlich der von Shimon Peres. Darin führt die
Friedenssehnsucht als solche zum Frieden mitsamt unbeschwertem
Zugang zu orientalischer Folklore. In Israel fasst man das unter „In
Damaskus Humus essen“ zusammen, weshalb sie „die kulinarische Linke“
genannt wird. Sami wollte aber klar stellen, was Maayan unter
„Linke“ versteht, bevor er von ihr die Rolle des WG-Mitglieds, das
für das orientalische Essen verantwortlich ist, zugeteilt bekäme. Er
erklärte, dass sich seine politische Aktivität zur Zeit auf BDS,
also Boykott, Deinvestition und Sanktionen gegen israelische
Institutionen konzentriere. Maayan meinte, das sei in Ordnung und er
könne gerne einziehen, sie könne damit gut leben. Die beiden
deutschen Frauen aber meinten, das gehe auf gar keinen Fall, Israel
könne man nicht aus ihrer WG heraus boykottieren.
Sami verstand: first he takes Manhatten,
then he takes Berlin.
Die Geschichte von Sami ist auch für die deutsche Nahost-Politik
exemplarisch. Für viele Deutsche ist Israel ein Symbol des
unvollständigen Völkermords an den Juden, der Ort, an dem die fast
ausgestorbene Juden-Spezies in einem Reservat lebt, weshalb man ihn
mit Seidenhandschuhen behandeln und sein „Existenzrecht“ besonders
hüten muss. Diese Politik stützt sich auf eingeübte Floskeln, die
keine Diskussion ermöglichen. Man wird schnell als Gegner oder
Befürworter des Existenzrechts Israels abgestempelt. Ein einfacher
Menschenrechtler kann man in dieser Sache nicht sein. Wenn es
existenziell wird, denkt man kategorisch und dichotom. In
Deutschland ist das Existenzrecht Israels eben „Staatsraison“ und
damit ist die Sache erledigt. Die Frage, was für eine Existenz das
sein soll und warum nur in Hinblick auf Israel von einem
Existenzrecht die Rede sein soll, gerät in den Hintergrund. Die
Existenz des Begriffs ist unantastbar. Als Rechtfertigung für die
Verhinderung einer offenen Diskussion der israelischen Politik dient
nicht zuletzt die Angst vor Antisemitismus. Wenn man die gebotene
Vorsicht lockerte, könnte man ja von anderen, es sind immer die
anderen, antisemitische Äußerungen zu hören bekommen. Und wohin
solche führen können, wissen wir ja schon, also Hände weg.
Den Israelis in Israel geht es aber in ihrem zugemauerten Käfig
nicht besonders gut. Auf jeden Fall fällt es vielen schwer, es ohne
Suchtmittel zu schaffen. Diejenigen, die nicht zu den regelmäßig
etwa 65,000 jungen Israelis gehören, die sich mit einem
Dreimonatsvisum (längerfristige Visa werden auf Initiative der
israelischen Regierung nicht mehr ausgestellt) in Indien aufhalten,
müssen in Israel mit Hilfe von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln
zurecht kommen. Soldaten mit posttraumatischen Symptomen können in
Israel Marihuana auf Rezept erhalten. Ein Soldat muss seine
Checkpointtätigkeit also nicht in Übersee betäuben. Natürlich geht
es auch ohne Rezept, jedenfalls solange kein Engpass die Konsumenten
in die Krise treibt, wie kürzlich aufgrund von
Nachschubschwierigkeiten aus dem Sinai. Das israelische Parlament
diskutierte jüngst die Ausstrahlung einer Fernsehserie in der
Hauptsendezeit. Sie zeigte jeden Abend vier junge Männer, deren
Haupttätigkeit im Kiffen bestand. Das machten sie unter dem Motto
„Um das Leben rosarot
zu sehen, muss man rote Augen haben“. Die Israelis ähneln also den
Indianern, die sich in den amerikanischen Reservaten zu Tode saufen,
bis auf den entscheidenden Unterschied, dass die Indianer die
Einheimischen sind und die Israelis die Kolonialmacht.
Das zionistische Versprechen, den Juden eine sichere Heimat zu
schaffen, ist offensichtlich gescheitert. Es gibt augenblicklich
keinen Ort auf der Welt, wo es für Juden als solche so gefährlich
ist wie in Israel. 60 % der Juden in der Welt, darunter eine Million
israelische Staatsbürger, verhalten sich auch entsprechend und leben
woanders, in der Hoffnung, vom potentiellen Fluchtort Israel keinen
Gebrauch machen zu müssen.
Die politische Klasse in Deutschland aber verschanzt sich hinter
Worthülsen und blockiert die EU-Politik, während viele Bürger hier
spüren, dass unter der Verantwortung Israels etwas Schlimmes in
Palästina geschieht, das von der deutschen Regierung tatkräftig
unterstützt wird. Sie wissen jedoch, dass man darüber nur vorsichtig
sprechen darf und dass in Sachen Israel andere Regeln gelten. Sie
kämpfen für den Abbau der Kernkraftwerke in Deutschland, finden es
aber verständlich, dass israelische Familien neben einem Atomreaktor
leben, der älter ist als jeder deutsche Reaktor und den kein TÜV je
überprüft hat. Die Wüstenbewohner in seiner Nachbarschaft werden für
den Fall eines GAU von der israelischen Regierung mit (natürlich
wirkungslosen) Medikamenten versorgt, während die deutsche Regierung
atomwaffenfähige U-Boote nach Israel liefert. Deutsche Bürger der
Mittel- und Oberschicht freuen sich, wenn ihre Kinder nicht zur
Armee gehen müssen, unterstützen aber Israelis, die in der Armee
dienen. Nie wieder Krieg ist wahrscheinlich nicht für die
israelisch-jüdischen Mütter gemeint, ganz zu schweigen von
palästinensischen Müttern.
Dabei geraten die Hauptopfer dieser Lage, die Palästinenser, kaum
ins Bewusstsein. Wenn überhaupt, werden sie in den deutschen Medien
überwiegend aktiv dargestellt: Sie schießen oder schießen nicht,
akzeptieren israelische Angebote oder lehnen sie ab. Die Juden in
Israel befinden sich dem entsprechend in einer
Verteidigungsposition. Es gibt sogar von Deutschland unterstützte
Projekte, in denen man den Palästinensern die Geschichte des von
Deutschen verübten Völkermords an den Juden beibringt, sodass die
Palästinenser die Juden in Israel besser verstehen können. Also, das
Opfer des Opfers muss seine Täter verstehen, weil der Täter seines
Täters das für eine Art Staatsraison hält.
Deshalb können Sami und Maayan nicht in einer WG wohnen.
Mittlerweile ist Sami in Harvard und bereitet sich auf ein Jahr in
Oxford vor. Maayan ist in Berlin.
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