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Zerbricht der Zionismus an seinen Widersprüchen?
Petra Wild hat eine brillante
Analyse des israelischen Siedlerkolonialismus vorgelegt
Arn Strohmeyer
Die Islamwissenschaftlerin und Publizistin Petra Wild hat
sich mit ihrem Erstling „Apartheid und ethnische Säuberung
in Palästina“ gleich in die erste Reihe der Nahost-Kenner
geschrieben. Ihr ist es vor allem zu danken, den Begriff des
„Siedlerkolonialismus“ in Deutschland in Umlauf gebracht zu
haben, der erhebliche analytische Qualitäten besitzt, um den
Zionismus und seine Politik zu verstehen. An diesem
zentralen Begriff knüpft Petra Wild auch in ihrem neuen Buch
„Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung. Zur
Zukunft eines demokratischen Palästina“ an. Dieser Ansatz
ist äußerst fruchtbar und aus ihm drängen sich
Schlussfolgerungen für eine Lösung des nun schon über 120
Jahre alten Konflikts geradezu auf.
Die Autorin geht noch einmal ausführlich und im Detail auf
das Faktum Siedlerkolonialismus ein, wobei sie sich auf
umfangreiche wissenschaftliche Arbeiten aus Staaten berufen
kann, die wie Israel auch aus dem Siedlerkolonialismus
hervorgegangen sind – etwa die USA, Kanada, Australien und
Südafrika. Solche Staaten habeb sich nicht irgendwie
entwickelt, sondern ihrem Entstehungsprozess liegt eine
Gesetzmäßigkeit zu Grunde, die sich an den genannten Staaten
exakt konstatieren lässt. Alle Siedlerstaaten gehen durch
den massiven Einsatz von Gewalt gegen die indigene
Bevölkerung hervor und versuchen nach der Eroberung des
Territoriums diese Gewalt vergessen zu machen.
Siedlerkolonialistische Gesellschaften sind ethnokratisch,
das heißt, die eingewanderten Siedler haben einen anderen
ethnischen Ursprung oder eine andere Religion und sie
herrschen mit Repression und Unterdrückung über die
indigenen Bewohner.
Aus dem Überlegenheitsgefühl der Siedler ergibt sich
automatisch ein ausgeprägter Rassismus gegenüber den
Unterworfenen, der die Verdrängung bzw. Vertreibung der
ursprünglichen Bevölkerung zur Folge hat. Dieser Prozess
wird auch durch den Expansionsdrang siedlerkolonialistischer
Gesellschaften forciert, denn es muss ständig zusätzliches
Land für die neu ankommenden Einwanderer geraubt werden. Der
australische Kolonialismus-Forscher Patrick Wolfe führt in
diesem Zusammenhang noch den Begriff der „Eliminierung“ ein.
Er versteht darunter „die Entfernung oder Zerstörung der
einheimischen Bevölkerung, ihrer Identität und
Zusammengehörigkeit, ihrer Kultur und Lebensgrundlagen mit
verschiedenen Methoden.“ Dieser gewaltsame Vorgang findet
erst dann sein Ende, wenn die einheimische Bevölkerung
völlig verdrängt ist oder wenn es ihr gelingt, den Prozess
zu stoppen und die Dynamik umzukehren. Das zionistische
Israel weist alle diese für den Siedlerkolonialismus
typischen Charakteristika auf.
Der Zionismus hat sein wesentliches Ziel bisher nicht
erreicht, die reine „jüdische Ethnokratie“ zu schaffen,
weshalb sich in diesem Projekt die Krisen-Symptome mehren.
So ist es Israel auch nicht gelungen, wie ursprünglich
geplant, alle Juden in diesem Staat zu versammeln und den
dort lebenden Juden ein sicheres Leben zu geben. Israel ist
heute – auch fast 70 Jahre nach seiner Gründung – ein für
Juden gefährliches Land, weil der koloniale Konflikt schwer
auf dem Staat lastet. Der Satz von Karl Marx „Ein Volk, das
ein anderes unterdrückt, ist selbst nicht frei“ bewahrheitet
sich im Fall Israel. Petra Wild bringt es auf die Formel:
„Keine Gesellschaft kann auf Dauer ein Land kolonisieren und
seine einheimische Bevölkerung mit Gewalt unter Kontrolle
halten, ohne dafür einen Preis zahlen zu müssen.“ Sie
verweist auf den Kolonialismus-Forscher Albert Memmi, der
schon vor Jahrzehnten konstatiert hatte, „dass der
Kolonialismus nicht nur die Kolonisierten zerstört, sondern
auch die Kolonialisten.“
Die Israelis machen gerade diese bittere Erfahrung, auch
wenn sie mehrheitlich diese Wahrheit nicht anerkennen
wollen, sondern sie ideologisch verbrämen: dass die
Palästinenser die „neuen Nazis“ sind und sie [die Israelis]
gegen den „Terrorismus“ kämpfen usw. Die israelischen Juden
verweigern sich der Einsicht, dass das gewaltsam
durchgesetzte zionistische Projekt, einen jüdischen
Nationalstaat auf Kosten eines anderen Volkes zu schaffen,
zwangsläufig dazu führen muss, in einem permanenten Konflikt
leben zu müssen. In immer sich wiederholenden grausamen
Kriegen müssen die Israelis ihre überlegene
Abschreckungskraft über die unterworfenen Palästinenser und
andere Nachbarn beweisen, was Israel zu einem martialischen
und aggressiven Militärstaat gemacht hat. Der Preis dafür
ist aber ein Leben voller Hass auf die Beherrschten und ein
Leben in ständiger Angst. Petra Wild schreibt: „In die aus
der Verfolgungsgeschichte resultierende Angst mischt sich
die Angst, die wie ein Schatten über jeder
Kolonialgesellschaft liegt, weil sie weiß, dass ihr Projekt
unrechtmäßig ist und sie irgendwann den Preis dafür bezahlen
muss.“ Ein Preis macht sich jetzt schon bemerkbar: Die
ständige Gewalt bei der Unterdrückung der Palästinenser
bleibt nicht ohne Folgen – sie brutalisiert auch die
israelische Gesellschaft selbst.
Als weitere Symptome für die Krise des Zionismus listet die
Autorin auf: Schwere militärische Schlappen, die man als
Niederlagen bezeichnen muss, gegen die arabische
Widerstandsbewegungen (Libanon 2006 und Gaza-Krieg 2014);
der Verlust der jüdischen Bevölkerungsmehrheit auf dem Boden
des historischen Palästina; der wachsende Druck von außen –
vor allem durch die
Boykott-De-Investment-Sanktionen-Kampagne; Risse und Brüche
im zionistischen Konsens der jüdisch-israelischen
Bevölkerung; die Auswanderung von immer mehr Juden aus
Israel; die Abwendung vieler US-amerikanischer und
europäischer Juden vom Zionismus sowie die Schwächung der
Weltmachtstellung der USA, des größten Verbündeten Israels.
Zudem treten immer mehr Staaten in kritische Distanz zu
Israel und erkennen einen Staat Palästina an.
Die offizielle israelische Politik weigert sich mit allen
Mitteln, diese Krisensymptome anzuerkennen und wehrt sie mit
dem „Antisemitismus“-Vorwurf ab. Die Autorin erkennt auch in
solchen ideologischen Abwehrschlachten ein typisches
Krisensymptom: „Siedlerkolonialistische Gesellschaften sind
geprägt von der Ersetzung der Realität durch die Fiktion. Um
ihre Selbstlegitimierung und ihr positives Selbstbild
aufrechterhalten zu können, sind sie auf eine ständige
Verdrehung und Ausblendung der Realität angewiesen. Niemand
glaubt die Propaganda so sehr wie der Propagandist selbst.
Das erzeugt nicht nur falsches Bewusstsein und falsche,
manipulierte Gefühle, es beschädigt die Art des Denkens
selbst.“ Diesen Sachverhalt bestätig der israelische
Psychologe Daniel Bar-Tal, der festgestellt hat, dass es in
der jüdisch-israelischen Bevölkerung einen Mangel an
kritischem Denken gibt und dass Engstirnigkeit und der
Wunsch, die Realität auszublenden, weit verbreitet sind.
Es steht also nicht gut um den Zionismus, der sich durch
seine Eroberungs- und Landraubpolitik und die Verweigerung
der Zwei-Staaten-Lösung selbst in eine äußerst missliche
Lage manövriert hat, aus der nun kein Ausweg zu erkennen
ist. Durch die Annexion der besetzten Gebiete und durch die
Abwanderung vieler jüdischer Israelis werden die Juden in
naher Zukunft auf dem Boden des historischen Palästina in
der Minderheit sein. Damit wäre der zionistische Traum von
einem rein „jüdisch-ethnischen Staat“ ausgeträumt. Da die
Zionisten die Macht aber nicht freiwillig abgeben werden,
droht die Möglichkeit eines diktatorischen Apartheidstaates,
der aber wie das südafrikanische Beispiel gezeigt hat, auch
keine Zukunft hätte. Ein realer Ausweg wäre die
Ein-Staaten-Lösung – also ein säkularer Staat mit gleichen
Rechten für alle seine Bürger.
Für dieses Modell hat sich Edward Said schon vor fast
zwanzig Jahren stark gemacht. Er schrieb in einem Artikel in
der „New York Times“, dass ein gemeinsamer Staat auf dem
Boden des historischen Palästina der einzig konstruktive
Ausweg aus dem seit über 100 Jahren andauernden blutigen
Konflikt sei. Die Zwei-Staaten-Lösung habe in die Apartheid
geführt, und in dem winzig kleinen Land Palästina lebten
jüdische Israelis und Palästinenser räumlich so eng
beieinander, dass der Versuch, die beiden Bevölkerungen
komplett voneinander zu trennen, kaum realisierbar sei.
Anstatt darüber nachzudenken, wie die Segregation effektiver
erreicht werden könne, sollte über ein Zusammenleben in
einer Demokratie nachgedacht werden: Ein Mann/ eine Frau –
eine Stimme, wie in Südafrika.“
In der Tat ist die Zwei-Staaten-Lösung durch die Fakten, die
Israel mit seinem Siedlungsbau im Westjordanland geschaffen
hat, kaum noch realisierbar. Die Siedlungen mit annähernd
600 000 Bewohnern müssten geräumt werden, ein Vorgang, der
Bürgerkrieg unter Juden bedeuten kann. Außerdem wären die
1,6 Millionen Palästinenser, die israelische Staatsbürger
sind, der Gefahr einer ethnischen Säuberung ausgesetzt. Die
Ein-Staaten-Lösung ist so gesehen eine Reaktion auf das
Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung. Dieses Modell bietet
sich, so die Autorin, auch deshalb an, weil auf dem Boden
des historischen Palästina auf Grund der fortschreitenden
israelischen Kolonisierungspolitik bereits ein einheitlicher
Staat entstanden ist, in dem jetzt schon – wenn auch unter
sehr unterschiedlichen Bedingungen – Palästinenser und
Israelis leben.
Die Autorin, die sich engagiert für dieses Modell einsetzt,
kann sich dabei auf viele palästinensische Stimmen berufen,
die in dieser Lösung den „moralischsten Weg für die
Verwirklichung eines gerechten und dauerhaften Friedens in
der Region sehen, da sie auf gleicher Humanität und gleichen
Rechten basiert“, so Omar Barghouti. Die Ein-Staaten-Lösung
wäre ein Angebot der Palästinenser zu einem historischen
Kompromiss, denn sie wären bereit, das Land mit den
jüdischen Israelis zu teilen – also den Eroberern und
Besatzern. Die Palästinenser wären bereit, den Zionisten die
Verbrechen an ihrem Volk zu verzeihen und mit ihnen in einem
Staat zusammen zu leben.
Das klingt gut, aber dem steht der Zionismus wie ein
Bollwerk aus Beton gegenüber. Der zionistische
Siedlerkolonialismus ist eine ausschließende Ideologie, die
Versöhnung und Friedensbereitschaft nicht kennt. Sie
versteht sich als Antithese zur einheimischen
palästinensischen Bevölkerung, das Verschwinden dieser
Menschen ist ihr vorrangiges Ziel. Das zionistische Israel
würde die sich selbst zugesprochene Legitimität und die sich
selbst verordnete historische (Opfer-)Rolle (also sein
Narrativ) in Frage stellen, wenn es den Palästinensern
nationale und politische Rechte zugestehen würde – ein
Schritt, der zur Zeit völlig undenkbar ist, denn die
Ein-Staat-Lösung setzt die Entkolonisierung und
Entzionisierung Israels voraus. Die Palästinenser haben es
da leichter, denn die Ein-Staaten-Lösung wäre für sie ein
„Befreiungsprojekt“ für sie selbst und auch für die Juden.
Denn „die Befreiung der Palästinenser ist die Bedingung für
die Befreiung der Juden in Palästina, schreibt Petra Wild.
Der Palästinenser Anwar Ben Badis formuliert es so: „Die
Ironie ist, dass das Opfer [die Palästinenser] sich in einer
ungewöhnlichen Position wiederfindet, dem Täter zu helfen,
sich selbst des Mythos zu entledigen, um Befreiung für beide
möglich zu machen; ersterem von der Bitterkeit der
Enteignung und letzterem von der Bitterkeit der Sünde. In
unserem Land kann Befreiung nicht partiell sein.“
Das ist schlüssig und äußerst human gedacht, dagegen aber
steht der zionistische Koloss, der seine Zukunft ganz auf
seine siedlerkolonialistische Ideologie und seine
überlegenen Waffen baut – mit Europa und den USA als
Schutzmächten im Rücken. Humane Ansätze sind da nicht zu
erkennen. Petra Wilds Buch haftet so gesehen ein Hauch von
Vision und Utopie an. Sie vertraut darauf, dass sich das
Kräfteverhältnis zuungunsten Israels verändern wird und sich
die Israelis dann immer weniger gegen den Einbruch der
Realität wehren können. Sie müssten dann begreifen, was ihr
Siedlerprojekt an Unmenschlichkeiten angerichtet hat und die
Schlussfolgerungen. Der Leser von Petra Wilds brillant
geschriebenen Buch möchte sich nach der Lektüre dem Prinzip
Hoffnung anschließen, dass die Geschichte den von ihr
vorgezeichneten Verlauf nimmt und in dem so Leid geprüften
Palästina eines Tages Frieden und Gerechtigkeit herrschen
werden.
Aber die Geschichte kann künftig auch ganz andere Wege gehen
– etwa den, den Ilan Pappe auch für möglich hält: „Wenn uns
in den nächsten 20 Jahren keine alternative Lösung einfällt
und das Kräfteverhältnis zugunsten Israels eine Situation
stabilisieren wird, in der die Hälfte der Westbank
annektiert wird und die Menschen in der anderen Hälfte sich
selbst nicht mehr erhalten können, dann ist es durchaus
möglich, dass wir die Palästinenser aus der Geschichte
tilgen werden. Es ist möglich, dass wir sie aus jedem
Bewusstsein tilgen – aber dann werden uns die arabische und
muslimische Welt tilgen, selbst wenn es 100 oder 200 Jahre
dauert. Wir müssen über eine langfristige Lösung nachdenken,
nicht nur um die Besatzung zu beenden, nicht nur um eine
Lösung für Juden und Araber in diesem Land zu finden,
sondern weil die gesamte Zukunft der Juden in Gefahr sein
wird, wenn es dem zionistischen Projekt gelingt, sich zu
vollenden.“
Aber dies ist kein Einwand gegen Petra Wilds sehr gelungenes
Buch.
Petra Wild
Die Krise des
Zionismus und die Ein-Staat-Lösung.
Zur Zukunft eine demokratischen Palästina
Promedia Verlag Wien
ISBN978-3-85371-386-0, 17,90 Euro
4.12.2015 |