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Eine
starke Stimme für Aufklärung und Humanität
Anmerkungen zu Abraham Melzers Buch „Israel vor Gericht“
Arn Strohmeyer
Die Frage, was Judentum ist, pflegt der deutsch-jüdische
Publizist Abraham Melzer mit einem Satz des Rabbi Hillel (er
lebte in der Zeit um Christi Geburt)zu beantworten: Tue
Deinem Nächsten nicht an, was Du nicht willst, dass man es
Dir antut!“ Aus dieser moralischen Maxime ergibt sich für
ihn folgerichtig die Grundposition, die er in allen seinen
Veröffentlichungen und auch in seinem neuen Buch „Israel vor
Gericht“ vertritt: radikale Aufklärung, die sich auch auf
Kants kategorischen Imperativ beruft. Woraus er wiederum die
radikale Gegnerschaft zu Israels Politik gegenüber den
Palästinensern und auch zu Israels Staatsideologie, dem
Zionismus, ableitet. Abraham Melzer ist kein Mann des
weltanschaulichen Zauderns. Er legt ein klares Bekenntnis
ab, wo er steht: „Wir sind Juden und bekennen uns dazu. Wir
sind aber keine Zionisten. Zionismus ist eine rassistische,
kolonialistische und militaristische Ideologie aus dem 19.
Jahrhundert, die schon längst auf den Müllhaufen der
Geschichte gehört.“
Worte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
Melzer redet bzw. schreibt nie um die Dinge herum, seine
Sprache ist immer direkt und unmissverständlich, bisweilen
aber auch sarkastisch – etwa wenn er seinen Lieblingsfeind
Henryk Broder als „windigen Populisten“, „jüdischen Clown“
oder „Klamauk-Kasper“ tituliert. Hinter solchen eher
polemischen Äußerungen über den Zionisten Broder, der über
sich selbst zynisch bekennt „es stimmt, die Israelis sind
Täter [Besatzer], aber Täter sein macht Spaß!“ und für den
jede Kritik an der israelischen Politik „Antisemitismus“
ist, steckt aber viel mehr als eine launige
Auseinandersetzung zwischen zwei Streithähnen.
Im Judentum gab es immer, wie schon im Alten Testament
belegt, die beiden spaltenden Tendenzen der Absonderung,
Abschottung und Isolation einerseits und der universellen
Offenheit und Weltzugewandtheit andererseits. Durch die
Entstehung des Staates Israel und die ihn tragende
ethnisch-nationalistische Ideologie des Zionismus hat die
erste Richtung deutlich die Dominanz erlangt, die
Universalisten, die früher die Mehrheit stellten, sind im
Judentum eher in die Minderheit geraten.
Der britisch-jüdische Philosoph Brian Klug hat diesen
Konflikt so beschrieben: „Die binäre Spaltung, an die ich
denke, läuft quer zur Unterscheidung in religiös und
säkular: sie läuft auf ein ‚entweder oder‘ in der
Prioritätensetzung hinaus: Entweder stehen Gruppen- oder
ethnische Interessen an erster Stelle oder die universellen
Menschenrechte. Diese beiden Sichtweisen sind nicht nur
unterschiedlich, sie schließen sich gegenseitig aus. Und
doch beanspruchen beide dieselbe Tradition für sich: das
Judentum oder Jiddischkeit. Aus diesem Grund habe ich
kürzlich von einer Krise im Judentum gesprochen, eine Krise,
bei der der Staat Israel sich als Fels herausstellen könnte,
an dem das Judentum auseinander bricht. Heute wird unter
Juden eine Schlacht ausgetragen, eine Schlacht, die in ihrer
Art die Zukunft ebenso wesentlich beeinflusst wie der
Konflikt in Palästina und Israel.“
Der Dissens über den Staat Israel spaltet das Judentum
heute. Es wird erwartet, dass man bedingungslos auf der
Seite dieses Staates steht. Klug fragt deshalb: „Was
bedeutet es, wenn sich von ihm zu distanzieren, dazu führt,
in jedem Fall Verachtung auf sich zu ziehen? Darauf läuft es
hinaus: Israel ist in den Herzen und Gedanken vieler Juden
kein normaler – gewöhnlicher – Staat. Das bedeutet, der
Staat ist zu einem Standbild gemacht worden. Man könnte es
auch als ein (höheres) Anliegen oder ein Ideal bezeichnen.
Jedenfalls ist es ein Idol oder Götzenbild. Und das ist
keine Kleinigkeit. In der Tat wiegt in den Schriften der
Hebräer nichts schwerer als der Vorwurf des Götzendienstes.
Was in Gottes Namen bedeutet es, jüdisch zu sein, wenn nicht
Götzenbilder von ihren Sockeln zu stoßen? Wenn wir,
unabhängig von unseren politischen Ansichten, nicht in der
Lage sind, uns über den Staat Israel zu erheben und ihm
seinen Platz zuzuweisen; wenn wir seinen Status nicht auf
den eines schlichten Dings unter Dingen reduzieren – dann
sind wir keine Juden oder sind nur dem Namen nach welche.
Dinge aber können angegriffen, bekämpft, zurückgewiesen,
ersetzt werden: es gibt keine Grenze, die zu überschreiten
nicht erlaubt wäre, wenn es um ein Ding geht – jedenfalls
nicht in dem ikonoklastischen Judentum, dem ich mich
verbunden weiß.“
Sätze eines Juden, die für einen gläubigen Zionisten reine
Blasphemie sein müssen. Es ist klar, auf welcher Seite
Abraham Melzer in dieser „Schlacht“ steht: auf der Seite des
Universalismus und damit des Völkerrechts und der
Menschenrechte. Unermüdlich wiederholt er in deshalb in
seinen Texten, dass Israel mit der Okkupation der
palästinensischen Gebiete und der brutalen Unterdrückung
dieses Volkes eine nicht nur völkerrechtswidrige, sondern –
moralisch gesehen – barbarische und verbrecherische Politik
betreibt, von der er sich nicht genug distanzieren kann: „Im
Lauf dieses [zionistischen] ‚Emanzipationsprozesses’ haben
sie [die Israelis] ihr Judentum verloren und sind zu
brutalen rassistisch-zionistischen Besatzern geworden.“
Überflüssig zu betonen, dass er damit als fast einsamer
Rufer gegen den deutschen Mainstream und die offizielle
deutsche Israel-Politik anschreibt, die bedrückt von der
deutschen Schuld Israels verhängnisvolle Politik nicht zu
kritisieren wagen. Mit schlimmen Folgen: Die deutsche
Politik nimmt die Realität dieses Konflikts nicht wahr und
bewegt sich so im irrealen Raum. Nur deshalb kann Kanzlerin
Merkel von „gemeinsamen Werten“ mit Israel sprechen und die
Sicherheit dieses Staates zur deutschen „Staatsräson“
erheben.
Abraham Melzer klagt sie direkt für diese heuchlerische
Politik an: „Angela Merkel steht stramm und selbstbewusst
hinter Israel. Wie lange noch? Wie lange sollen wir noch
diese Heuchelei ertragen? Russlands Vorgehen auf der Krim
ist nicht akzeptabel, sagt Merkel und fügt hinzu, dass
territoriale Integrität ein unverzichtbarer Teil der
europäischen Nachkriegsordnung sei. Was ist aber mit der
territorialen Integrität Palästinas? Warum schweigt sie zum
israelischen Landraub, während sie die Russen kritisiert?“
Er betont immer wieder, dass gerade die Deutschen die größte
Schuld am Schicksal der Palästinenser haben, denn ohne
Deutschlands Politik im 20. Jahrhundert wäre es nicht zur
Errichtung des Staates Israel gekommen und damit auch nicht
zur Katastrophe der Palästinenser. Melzer: „Die
Palästinenser, die dadurch zu den Juden der Juden geworden
sind, sind aber auch zu den Juden der Deutschen geworden.“
Der israelische Soziologe und Historiker Moshe Zuckermann
schreibt im Vorwort zu Melzers Buch über das
deutsch-israelische Verhältnis und dessen Stellung darin
sehr treffend: „Während Melzer mit Bezug auf Israels
Wirklichkeit die reale Repression und ihre ideologische
Verbrämung anprangert, sieht er sich im deutschen Kontext
mit dem Problem konfrontiert, dass die Protagonisten der
politischen Klasse sich aus (aus ‚historischen Gründen‘)
scheuen, eine realitätsadäquate Politik Israel gegenüber zu
verfolgen, was die institutionellen wie publizistischen
Sachwalter des Jüdischen in Deutschland weidlich auszukosten
verstehen. Gemeinsam ist ihnen allen, Juden wie Nichtjuden
im diesbezüglichen deutschen Diskurs, dass sie Judentum,
Zionismus und Israel, mithin (davon abgeleitet)
Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik
schlechterdings nicht auseinanderzuhalten vermögen. Was
dabei herauskommt, ist eine Instrumentalisierung des
Holocaust-Gedenkens zu fremdbestimmten Zwecken, die
entsprechend in eine Politik mündet, die sich
israelsolidarisch wähnt, im Grunde aber genau das leistet,
was Israels objektivem Interesse zuwiderläuft. Das
verwundert auch nicht: Wenn man ‚Solidarität‘ aus dem
Ressentiment schöpft, ist sie verlogen. Das Ressentiment
beherrscht aber den deutschen Diskurs: ‚Auschwitz‘ als
Argument und perfider Antisemitismus-Vorwurf sind das Gift,
mit dem Wahrheit immer wieder vergewaltigt wird, bis sie zur
leeren Worthülse verkommt, die die deutsche Kanzlerin dazu
verleiten konnte, Israels Sicherheit zur deutschen
Staatsräson zu erklären.“
Auf diese Wahrheit, die Zuckermann da anspricht, immer
wieder und unermüdlich hinzuweisen, hat sich Melzer zur
Pflicht gemacht. Dazu gehört vor allem auch die Aufklärung
über den permanenten Antisemitismus-Vorwurf, der inzwischen
zu einer perfiden Ideologie geworden ist. Natürlich gibt es
Antisemitismus und Antisemiten – auch in Deutschland. Das
Perfide an dem bei jeder auch unpassenden Gelegenheit
erhobenen Vorwurf des Judenhasses ist aber, dass er gerade
gegen die Universalisten und Menschenrechtler vorgebracht
wird, die Israels Existenz gar nicht in Frage stellen und
sich für eine friedliche Lösung des Konflikts einsetzen. Was
ja heißt: Wer Israels ethnischen, national-religiösen und
zionistischen Nationalismus bzw. Chauvinismus nicht
bedingungslos unterstützt, ist ein „Antisemit“. Das ist
nicht nur eine perverse Umkehrung jeder politischen Moral,
die mit dem, was eigentlich unter Antisemitismus verstanden
wird, nichts mehr zu tun hat.
Israel und seine Anhänger schützen sich mit diesem infamen
Vorwurf, wobei auch vor einer Instrumentalisierung des
Holocaust nicht zurückgeschreckt wird, vor jeder Kritik an
der brutalen Okkupations- und Besatzungspolitik. Der
Antisemitismus-Vorwurf hat zudem den Vorteil, dass man auf
Kritik mangels eigener Argumente gar nicht eingehen muss.
Melzer schreibt dazu: „Es ist sehr bequem für die Regierung
in Israel und jene Organisationen, die Israel blind und
bedingungslos unterstützen, jede sachliche Berichterstattung
über Zerstörung von Wohngebieten, Plünderungen von Häusern
und Institutionen durch israelische Soldaten, Tötung und
Misshandlung von Zivilisten als Antisemitismus zu
stigmatisieren.“
Die Texte aus den letzten Jahren, die sich in Abraham
Melzers Buch finden, belegen, dass dieser Autor in der
großen universalistischen Tradition des deutschen Judentums
steht. Er schreibt selbst, in welcher Reihe er gesehen
werden möchte: Moses Mendelssohn, Leo Baeck, Albert
Einstein, Martin Buber, Hannah Arendt und Uri Avnery. Man
könnte sicher noch viele andere Namen nennen. Es ist zu
bedauern, dass das offizielle deutsche Judentum heute
mehrheitlich hinter der unseligen Politik des zionistischen
Israel steht. Abraham Melzer vertritt als Aufklärer,
Humanist und Moralist die „andere Seite“, aber es ist die
einzige Seite, die Zukunft hat – und darum sind seine Texte
so wertvoll.
Abraham Melzer: Merkel erwache!
Israel vor Gericht. Essays eines antizionistischen Juden,
Zambon Verlag Frankfurt/ Main, ISBN 978-3-88975-240-6, 15
Euro
13.12.2015 |