Verlobt mit einem
palästinensischen Gefangenen -
Ghada
Naser
Die
Autorin, Ghada Naser, (Tochter von
Sumaya Farhat-Naser)
lebt in
Birzeit, Westbank. Sie hat u.a. an der Universität Bradford / England eine
Ausbildung für Friedensarbeit und Konfliktmanagement absolviert und führt
zurzeit Bildungsveranstaltungen zum Thema „Gewaltlose Konfliktbewältigung“
im palästinensischen Raum durch.
.... Nach
langen Jahren des Wartens auf den richtigen Moment verlobte ich mich im
August 2002 mit meinem Schul- und Universitätsfreund aus Ramallah. Sein
Name, Marshoud, ist ein sehr alter und seltener Name, den der Bruder
seines Großvaters vorher getragen hatte. Während der neuerlichen Besetzung
der autonomen palästinensischen Städte in der Westbank durch Israel im
April 2002 wurde Marshoud wie hunderte andere palästinensische Männer
gefangen genommen und ohne Anklage zu drei Monaten „Administrativhaft“ in
dem schlimmsten israelischen Gefängnis im Süden, dem Gefängnis Kitzeot in
der Wüste Negev verurteilt. Ich durfte mir die täglichen Lebensumstände
dort nicht einmal vorstellen: Hitze, gefährliche Insekten, Schlangen,
Ratten und Moskitos überall und bis hinein in die Zelte der Gefangenen, in
die 20 und mehr Menschen auf einem Lebensraum von max. 10 Personen
zusammengepfercht waren. Man kann sich kaum vorstellen, was das bedeutet
bei Temperaturen von 40 bis 45 Grad Celsius im Sommer. Jeder Gefangene
hatte gerade genug Platz für seinen Körper.
Betten gibt
es nicht, höchstens ein Holzbrett, auf dem der Gefangene schläft, sitzt,
isst und mit anderen redet. Viele haben überhaupt keine Lust mehr zu
reden. Es gibt ein paar zerlesene Bücher, und für jeden Gefangenen –
vielleicht – eine dünne Decke, um ihn vor der Kälte der Wüstennacht zu
schützen. Zu essen gibt es nur Reis, Gemüsesuppe oder weiße Bohnen zu
Mittag, Eier morgens und abends. Manchmal ist die Gefängnisleitung
großzügig und bietet zur Abwechslung eingefrorene Schnitzelstückchen oder
Sesamöl an. Wenn jemand Pech hat – und das ist häufig – wird er krank.
Aspirin gibt es für alle Arten von Krankheiten: Grippe, Zahn- und
Muskelschmerzen, Verletzungen, für Herz- und Lungenprobleme. Das hat mir
Marshoud mit viel Überwindung nach seiner dreimonatigen Haft erzählt.
Wir waren
alle sehr glücklich über seine Entlassung im Juli 2002 und doch bange,
dass das Urteil erneuert werden würde, denn „Administrativhaft“ ist eine
Form von Arrest, durch die die israelische Behörde sich das Recht nimmt,
ein Urteil nach Belieben ohne Anklage zu verlängern. Ich persönlich war
umso glücklicher, denn nun konnte die lang erwartete und verschobene
Verlobung geplant werden. Nachdem er die Folgen der Haft einigermaßen
überwunden und sich ins normale Leben eingeklinkt hatte, begannen wir mit
den Vorbereitungen. Unter den schrecklichen politischen Umständen –
Ramallah war fast die ganze Zeit unter Ausgangsperre – war das so
schwierig. Man durfte nur alle 7 bis 10 Tage einmal für 2 bis 3 Stunden
das Haus verlassen, um das lebensnotwendige Essen zu kaufen. War es wieder
unmöglich, das Fest zu planen? Es war, als wäre er immer noch im
Gefängnis, und tatsächlich war es auch so, nur war sein Haus sein
Gefängnis. Wir konnten einander überhaupt nicht sehen. Wenn Ramallah schon
einmal für einige Stunden offen war, musste ich zu meinem Arbeitsplatz, um
Liegengebliebenes aufzuarbeiten, aber mit meinen Sinnen war ich wo anders.
Ich habe mich nie so auseinandergerissen gefühlt: Wie sollte ich die kurze
Zeit nutzen, würden sie mich erschießen, wenn ich länger als zwei Stunden
in Ramallah blieb? Und meine Sehnsucht, endlich Marshoud zu treffen, war
groß ....
Wir konnten
nur über das Telefon planen. Über Telefon hielt Marshoud bei meinem Vater
um meine Hand an; normalerweise würden der Bräutigam und seine Familie
einen offiziellen Besuch im Haus der Braut abstatten. Jedoch, durch die
Ausgangsperren und Abriegelungen der palästinensischen Orte und Städte
sind viele Traditionen und Bräuche zunichte geworden. Oft ist es passiert,
dass die Braut von ihrer Familie zur nächsten israelischen Straßenblockade
gefahren und dort dem Gatten auf der anderen Seite der Blockade übergeben
wurde; beide Familien entfernten sich langsam in entgegengesetzte
Richtungen, ein „Fest“ konnte nicht gefeiert werden. Man fühlte sich
tatsächlich wie bei einer Beerdigung, wo die Menschen je nach den Launen
oder der Barmherzigkeit der israelischen Soldaten agieren müssen.
Zurück zu
meiner Verlobung: Anfangs August 2002 wurde die Ausgangsperre in der Stadt
Ramallah für mehrere Stunden aufgehoben, so dass wir mehr Zeit für unsere
Vorbereitungen hatten. Wir setzten die Verlobung für den 18. August fest,
ohne auch nur einen Augenblick sicher zu sein, dass sie wirklich
stattfinden konnte und stellten uns tausend Fragen: Würde der Bräutigam zu
seiner Verlobung kommen können? Würde es der Familie gelingen, in meine
Stadt Birzeit zu gelangen? Würde alles rechtzeitig fertig sein? Würden wir
die Gäste nochmals für einen anderen Termin einladen müssen? Wir hatten
schlaflose Nächte und grübelten, ob unser Fest wie viele andere
Verlobungen und Hochzeiten ins Wasser fallen würde. Wir hatten Glück: Die
Ausgangssperre wurde an diesem Tag von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags
aufgehoben. Das wurde allerdings erst am Tag selbst bekannt, und da ging
das Planen richtig los. Da die Verlobung normalerweise im Haus der Braut
gefeiert wird, waren die meisten Gäste aus meiner Familie, weil ja auf
Grund der politischen Situation viele Gäste und Familienmitglieder des
Bräutigams verhindert waren. Alles in allem war die Verlobung einfach,
nett und fröhlich, trotz dem Stress, den Ängsten, Zweifeln, die wir alle
hatten. So waren wir offiziell ein Paar. Nicht viel später jedoch wurden
die täglichen Ausgangsperren und Absperrungen neuerlich verschärft, und
hielten uns wieder in in unseren Häusern gefangen.
Zu unserem
Erschrecken holte man Marshoud Ende Oktober 2002 wieder und lieferte ihn
für die Verhörzeit von 25 Tagen in das Al-Maskubiyeh-Gefängnis in
Jerusalem ein. Ich habe ihn zwischen unserer Verlobung und der neuerlichen
Gefangennahme nur dreimal gesehen. Das Al-Maskubiyeh-Gefängnis ist bekannt
als das schlimmste Foltergefängnis in Israel. 25 Tage lang haben wir nur
gewusst, dass er in Haft war und einmal von einem Anwalt besucht wurde.
Ich war unter großem Druck und Ängsten: Was wird er erleiden müssen, wird
er gefoltert werden, wird er Wasser und Nahrung erhalten? In vielen
schlaflosen Nächten drehte sich mein Denken endlos um diese Fragen. Nach
25 Tagen wurde er in das israelische Militärlager Ofar westlich von
Ramallah gebracht, und dort zu fünf Monaten Administrativhaft verurteilt,
wieder ohne Anklage und ohne Abzug der 25 Tage Verhör. Nach einem Monat
kam er ins Gefängnis Al-Naqab und traf dort die gleichen alten
Gefängniskameraden und immer noch die gleichen untragbaren Zustände. Ich
habe mich eine Zeitlang geweigert, dies zu glauben und verstand nicht,
warum sie ihn zuerst entlassen hatten, wenn sie ihn doch wieder einsperren
wollten.
Aber von
Tag zu Tag begann ich mich mehr mit der Realität abzufinden, und fing an,
mich auf den 18. April 2003 zu freuen, den vorgesehenen Entlasstag. Die
Situation der Administrativgefangenen und ihre Chance, entlassen zu werden
oder Strafverlängerung zu erhalten, hängt sehr von den lokalen und
regionalen politischen Umständen ab. So lächerlich es klingen mag,
Administrativgefangene, die ja auch Menschen sind, werden wie Spielkarten
bei Verhandlungen benutzt. Zum Nachteil der Administrativgefangenen, deren
Entlassung für Februar und April 2003 zu erwarten war, kam der Irakkrieg
zu seinem Höhepunkt, und daher wurden die Urteile für 99 Prozent der
Administrativgefangenen automatisch erneuert; Marshoud war einer von
ihnen.
Sein Urteil
wurde um weitere fünf Monate verlängert, nämlich bis 17. September. Einen
Monat nach der letzten Verlängerung wurde er vor Gericht gestellt, vor das
sog. „Urteils-Bestätigungs-Gericht“. Dort kann der Richter die
Verlängerungsperiode von fünf Monaten bestätigen, er kann diese auch
reduzieren oder (selten) annullieren. Im Fall von Marshoud wurde die Länge
der Haft auf drei Monate reduziert, was eine Entlassung am 18. Juli 2003
bedeutet hätte. Wir waren alle hochgestimmt und vertrauten auf seine
Entlassung, wenn auch mit Bedenken. Würde das Urteil noch einmal revidiert
werden? Unsere Fröhlichkeit sollte nicht zu lange dauern: Wieder wurde
Marshoud vor Gericht gerufen, wo der Oberstaatsanwalt Berufung einlegte
gegen diese Reduktion von zwei Monaten. Der Richter wies die Berufung
zurück, gab aber dem Oberstaatsanwalt das Recht, Marshouds Urteil, das
schon abgegessen war, zu erneuern. Zehn Tage vor seinem vorgesehenen
Entlasstermin , am 8. Juli, erhielt Marshoud um 11 Uhr abends ein
formloses Papier in hebräisch: Sie hatten ihn zu weiteren vier Monaten
Haft verurteilt; das bedeutet den potentiellen Entlasstermin 18. November
2003. Wir warten nun wieder auf das Urteils-Bestätigungs-Gericht.
Kann jemand
sich vorstellen, wie psychisch zerstörend dieser Prozess von Verlängern,
Berufen, Verteidigen, Warten auf einen Urteilsspruch ist? Der Befehl zur
Verlängerung kann dem Inhaftierten 10 Tage vor der vorgesehenen Entlassung
bis direkt zum Augenblick der Entlassung zugestellt werden! Viele
Inhaftierte waren tatsächlich entlassen worden und nach dem ersten Schritt
außerhalb der Drähte und Mauern des Gefängnisses wurden sie wieder
verhaftet mit dem Vorwand, die Erneuerung ihres Urteils sei gerade
angekommen. Das ist sowohl für den Inhaftierten selbst wie auch für die
wartenden Familienmitglieder zu Hause psychologisch tödlich. „Die letzten
10 Tage einer Administrativhaft sind die schwierigsten Tage“, erzählte mir
Marshoud mehrmals: „Unter der Decke auf dem harten Holzbrett mit einer
Träne oder zwei im Geheimen, im Schlafen und beim Aufwachen in diesem
scheußlichen unerträglichen Gefängnisleben rundherum, das immer noch das
gleiche ist und es auch in Zukunft bleiben wird, fürchtet man sich vor dem
Urteilstag, ärgert sich über die verlorene Zukunft, und sorgt sich, wie
man kommende Monate einer erneuten Haft überstehen soll.“
Marshoud
ist zum vierten Mal innerhalb von sieben Jahren ohne jegliche Begründung
inhaftiert (insgesamt hat er 2 ½ Jahre im Gefängnis verbracht.) Es ist ihm
gelungen, sein „undergraduate“ Studium in Buchhaltung an der Universität
von Birzeit trotz der erzwungenen Unterbrechungen zu beenden. Marshoud hat
mir in den vergangenen Jahren gesagt: „Ich hatte nie das Gefühl, die Zeit
war für mich. Ich habe nie das Leben eines normalen Universitätsstudenten
leben können. Nach drei Jahren Universität wurde ich für 11 Monate in
Administrativhaft gesteckt. Ich verlor ein ganzes Jahr und nach meiner
Entlassung fiel es mir schwer, mich wieder in das universitäre Leben
einzupassen, weil alle Kollegen von der Universität inzwischen graduiert
waren und ihre Arbeitstellen hatten. Ich habe mich immer hinter meiner
Generation zurückgelassen empfunden.“ Auch nach der Graduierung hatte er
es extrem schwer, einen Job zu finden. Er fügt hinzu: „Nach der
Graduierung ist es mir gelungen, für kurze Zeit schlechtere Arbeit in zwei
Instituten zu finden. Als ich zuletzt die Institution fand, die zu mir
passte, wurde ich als Ergebnis der politischen Krise abgeschossen. So fing
die Arbeitssuche zwischen zwei Perioden im Gefängnis wieder an, das
Schnallendrücken an den Türen von Organisationen, und die Chance,
anzukommen, wurde mit dem Zunehmen der Arbeitslosigkeit und dem Faktum,
dass ich eingesperrt war, immer schlechter.“ Auch vor seiner Verhaftung
hatte er glücklos nach Arbeit gesucht. Sein Leben ist auf einem toten
Punkt, wer weiß, wie lange. Er sagt mir immer, wie schuldig er sich fühlt,
weil er mich warten lässt und weil seine Zukunft so unsicher ist, ohne Job
oder einem Stückchen Ahnung, wann das alles enden würde. Er lebt in einem
verworrenen Kreis: Er möchte alles für uns als Paar tun, für seine Familie
und zuerst natürlich für sich selbst, und hat doch keine Chance, irgendwo
wirklich anzufangen.
Seit 9
Monaten und 5 Tagen habe ich Marshoud nicht mehr gesehen. Seit kurzem sind
Besuche bei Gefangenen aus Ramallah und Jerusalem wieder erlaubt, nachdem
ihnen dieses Grundrecht 2,5 Jahre lang verweigert worden war. Aber nicht
jeder darf einen Gefangenen besuchen, und auch regelmäßige Besuche sind
nicht gemeint.
Zum ersten:
Nur Vater, Mutter, Ehefrau und die jüngsten Kinder dürfen den Gefangenen
besuchen, und nur zwei Personen bei einem Besuchstermin. Marshoud darf nur
von seiner Mutter besucht werden. Der Vater ist gestorben und ich bin noch
nicht seine Ehefrau. Auch viele andere Gefangene sind nicht verheiratet,
und wenn beide Eltern tot sind, besucht sie niemand über Monate,
vielleicht Jahre hinaus. Dazu kommt, dass die meisten Gefangenen nicht aus
den Bezirken Ramallah und Jerusalem kommen, sondern von überall her auf
der Westbank und dem Gazastreifen; hunderten Familien wird das
Besuchsrecht damit vorenthalten, und sie können ihre Lieben weder sehen
noch ihnen Kleidung zukommen lassen. Zum zweiten: Die Perioden zwischen
den Besuchen sind mindestens ein Monat. Das Rote Kreuz verständigt sich
mit den israelischen Behörden, die ihrerseits für die ansuchenden Familien
Besuchserlaubnisse ausstellen und bestimmen, ob ein Besuch durchgeführt
werden darf oder ob die ansuchende Person für einen Besuch wählbar ist.
Marshouds Mutter gelang es seit seiner Arretierung nur dreimal, ihn zu
besuchen. Einmal im Mai 2003 war schon ein Besuch vorgesehen, aber im
letzten Augenblick wurde die Erlaubnis von den israelischen Behörden ohne
besonderen Grund zurückgezogen, im dem erklärt wurde, „bis auf weiteres“
wären für den Bezirk Ramallah keine Besuche erlaubt. Der lang erwartete
Tag wurde einfach gestrichen. So lange hatte die Mutter auf das Treffen
mit ihrem Sohn gewartet, sich nach dem Klang seiner Stimme und dem Anblick
seines Gesichts gesehnt und sich von seinem körperlichen und seelischen
Zustand überzeugen wollen; so lange hatte der Sohn auf die Chance, von
Angesicht zu Angesicht mit einem Familienmitglied reden zu können gehofft,
um von den Entwicklungen draußen zu erfahren und gleichzeitig so viele
Fragen als möglich stellen und Informationen in der kurzen Gesprächszeit
aufsaugen zu können.
Die Reise
zum Gefängnis Al-Naqab im Süden von Israel in der heiß-kalten Negev ist
eine lange, ermüdende, demütigende, Zwölf-Stunden-Tour zum Ersticken, und
die Besucherin braucht mindestens eine Woche, um sich davon zu erholen.
Der einzige Trost sowohl für den Gefangenen wie auch für die Besucherin
ist, dass sie sich SEHEN können. Am Ostermontag nach dem orthodoxen
Kalender, 28. April 2003 durfte Marshouds Mutter, Um Dahoud, ihn nach
sieben Monaten zum ersten Mal sehen. Eine kleine Reisetasche stand gepackt
mit wichtigen Kleidungsstücken, Unterwäsche, T-Shirts, Socken, ein wenig
hausgemachte Snacks, zwei Büchern, „Bett“-Tüchern, einer Glühbirne und
einem Radio bereit. Die Familien von vier anderen Gefangenen, die am
gleichen Ort wie Marshoud eingesperrt waren, baten Um Dahoud, etwas für
ihre Lieben mitzunehmen, denn nur so kann man Kleidung senden, wenn man
selber keine Besuchserlaubnis erhält. Der Bus sollte an einer bestimmten
Kreuzung in der Stadt Al-Bireh nahe Ramallah um 5.30 abfahren. Um Dahoud
konnte die ganze Nacht kaum schlafen und wachte viel früher auf als nötig,
machte sich fertig und bat ihren jüngeren Sohn Mazen, sie mit dem Auto zum
Bus zu fahren. Um 4.45 war sie dort, wartete, bis der Bus kam, und war
eine der ersten Reisenden an Bord, glücklich, ihren Sohn sehen zu können,
aber auch immer in Ängsten, dass im letzten Moment noch etwas passieren
könnte. Um ca. 5.30 fuhr der Bus an. Nach rund 30 Minuten hielten sie
plötzlich an einer israelischen Straßenblockade – später erfuhren sie,
dass das 1967 die Grenze zwischen Israel und der Westbank gewesen war –
nahe von dem palästinensischen Dorf Beit Seera. Identitätsausweise,
Erlaubnisscheine und Gepäck wurden kontrolliert. Sie wurden aufgefordert,
den Bus zu verlassen und einen anderen zu besteigen; dieser hatte ein
israelisches Kennzeichen, und ein israelischer Militärjeep begleitete sie
während der ganzen, heißen Fahrt, bis sie nach drei Stunden das Gefängnis
erreichten.
„Es ist
eine gelbe Welt dort drüben in der Negev, sehr heiß, trocken und gelb. Von
Zeit zu Zeit kann man ausgedehnte grüne Felder sehen mit bestimmten Bäumen
und Blumen“, beschrieb Um Dahoud später. Dort wird unser Wasser
verbraucht. Wir Palästinenser in der Westbank und in Gaza haben sehr wenig
Wasser, und das wird tage- und manchmal wochenlang abgesperrt, während
Israel die Wüste jeden Tag zum Blühen bringt.
Um 9 Uhr
war der Bus angekommen und die Passagiere hofften, dies sei die letzte
Station. Aber Minute um Minute verging ohne der Aufforderung,
auszusteigen. Es verging eine Stunde, ehe Armeeoffiziere kamen und zum
Aussteigen aufforderten – ohne weitere Angaben. Annähernd 50 Passagiere
wurden an Land gesetzt bei 40 Grad Celsius in der Sonne, ohne Schatten,
ohne Stühle, ohne Toiletten oder Trinkwasser. Die Kinder der Gefangenen
quengelten, brannten vor Hitze, bettelten hungrig um ein Stück Brot und
lechzten durstig nach einem Tropfen Wasser. Erst um 13.30 wurde die erste
Schicht der Besucher in einen Bus verfrachtet. Marshouds Mutter war nicht
darunter. Sie musste noch länger warten, bis ihre Auge ihn erblicken
konnte. Die zurückbleibenden Besucher wurden in dreckige Baracken
eskortiert, wo wenigstens einige Bänke waren und keine direkte
Sonnenbestrahlung. Nach eineinhalb Stunden wurde die erste Besuchergruppe
nahe der Barracken wieder ausgeladen, woraus zu entnehmen war, dass die
zweite bald einsteigen durfte. Bald würde Um Dahoud dran sein!
Endlich um
15.30, nach 6 ½ Stunden Wartezeit, wurde Um Dahoud aufgerufen, den Bus zu
besteigen, der sie zu ihrem Sohn bringen sollte. Der Bus fuhr 15 Minuten
innerhalb des Stacheldrahtzaunes. Einige israelische Soldaten fingen an,
die BesucherInnen einer Leibesvisitation zu unterziehen und durchsuchten
die Taschen gründlich. Kleine Kaffeepackchen wurden mit Messern
aufgestochen, wodurch ein Drittel des Inhalts verloren ging, Bücher wurden
durchgeblättert, handgeschriebene Briefe an die Lieben konfisziert und
Glühbirnen, Desodorantstäbe und andere „nicht attraktive“ Sachen in einer
Kiste deponiert, damit die heimkehrenden Besucher sie mitnehmen konnten,
sofern sie sie nach dem Besuch fanden.
Um Dahoud
berichtete: „Wir wurden auf einen Platz geführt, der an allen vier Seiten
von einem Zaun umgeben und mit einem Blechdach gedeckt war.. Dieser Platz
war in der Mitte wieder mit einem doppelten Zaun vom Boden bis oben
geteilt; auf der einen Seite nahmen die besuchenden Familienmitglieder
Platz, die andere Seite war noch leer, bis die gefangenen Männer kommen
sollten. Nach einiger Zeit blieb ein Bus direkt vor mir stehen. Ich sah
Marshoud aussteigen und an die andere Seite des doppelten Zaunes treten.
Ich war so glücklich, ihn zu sehen. Gefühle von Glück und Freude aber
waren vermischt mit Traurigkeit und Bitternis. Meine Tränen flossen, ich
konnte sie nicht stoppen. Auch er war tief gerührt und konnte seine Tränen
nicht verbergen. Was mich am meisten schockierte, war, dass er mit
Handschellen gefesselt war. Es ist so demütigend, einen reifen Mann in
Handschellen zu sehen, der im Gänsemarsch zu den wartenden Verwandten
geleitet wird. Als sie dann aber zu dem Treffpunkt kamen, wurden die
Handschellen abgenommen. Ich wünschte, ich könnte ihn umarmen, küssen und
seine Hände berühren. Das war unmöglich. Ich konnte ihn kaum wahrnehmen
hinter dem doppelten Zaun, der uns trennte. Ich konnte nicht einmal seine
Finger berühren, den zwischen den Zaunreihen waren mindestens 30 cm. Wir
mussten unsere Gefühle und unser Leid durch Worte ausdrücken und pressten
uns an den Zaun, um so nahe als möglich aneinander zu sein. Ich fühlte
mich wie in einem Käfig, so primitiv und demütigend. Die Stimmen der
Besucher waren sehr laut, so dass wir uns kaum verstehen konnten. So
fingen auch wir an, laut zu sprechen und erzählten uns abwechselnd
Neuigkeiten, Geschichten und Entwicklungen, die unser Leben in und
außerhalb des Gefängnisses betrafen, wobei immer wieder Tränen der
Hilflosigkeit über unsere Situation flossen. Ich sah neben mir zwei Paare.
Sie waren jung verheiratet, und man konnte ihren Schmerz und ihre
Sehnsucht nach einander an den Tränen in ihren traurigen Augen erkennen,
mit denen sie sich ansahen, und an den Händen, die am Zaun rüttelten.
Diese Atmosphäre der Erniedrigung . war schlimmer als die Hölle. Der
einzige Lichtblick war das Gesicht meines Sohnes.“
Jetzt, wo
Gespräche über die Entlassung palästinensischer Häftlinge laufen, wird es
noch bestürzender, dass die Zahl der zu entlassenen Häftlinge so niedrig
ist, wenn man die Gesamtzahl der in israelischen Gefängnissen einsitzenden
Palästinenser bedenkt. Mehr als 6000 Palästinenser sind in Gefängnissen
festgehalten, davon sind schätzungsweise 1700 „Administrativ-Häftlinge“,
die monate- und jahrelang ohne Anklage festgehalten werden. Die meisten,
die Israel bereit ist zu entlassen, sind solche, deren Strafen fast
abgesessen sind oder Kriminelle. Wir fordern die Entlassung politischer
Gefangener, die Kriegsgefangene sind, denn es ist ein „Friedensprozess“ im
Gang und man spricht von Versöhnung. Die langen Wochen und Monate, die sie
benötigen, um sich zu entschließen, ein Häuflein von 100 Gefangenen zu
entlassen, hinterlässt bei uns großes Misstrauen und den Verlust von
Hoffnung bezüglich zukünftiger Entlassmöglichkeiten. Vertrauen und
Hoffnung sind Grundbedürfnisse. Wenn man mich fragt, ob ich bezüglich
Marshouds Entlassung irgendeinen Hoffnungsschimmer sehe, sage ich, die
Möglichkeit liegt unter 1 %. Marshoud ist einer von 6000.Die Möglichkeit,
dass er einer von 520 oder so ist, die in dieser Woche entlassen werden,
ist gering. Ich hoffe, er hat eine Chance, aber ich hoffe genauso, dass
jeder Palästinenser und jede Palästinenserin in israelischen Kerkern eine
Chance hat. Sie sind ein Teil unserer Seele und unseres Lebens, und so
lange sie im Kerker sind, liegt die ganze Nation in Schmerzen.
Marshoud
hat hintereinander zwei Osterfeste und ein Weihnachtsfest mit uns
versäumt. Ich hoffe, er wird nächste Weihnachten mit uns und seiner
Familie in Freiheit sein. Wir mussten unsere Hochzeit in diesem Sommer
verschieben, weil der Bräutigam noch fehlt.
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