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Israels größter Verlust: seine moralische
Vorstellungskraft
Wenn ein Volk, das vor noch nicht langer Zeit solch
unaussprechliche Unmenschlichkeiten erfahren hat, die
Ungerechtigkeit und das Leiden nicht verstehen kann, die seine
territorialen Ambitionen verursachen, wie viel Hoffnung bleibt uns
dann noch?
Henry Siegman,
11.6.2010
Nach Israels blutigem Überfall auf die Gaza -Flotilla rief ich einen
Freund in Israel an, mit dem ich schon ein Leben lang befreundet bin
und fragte ihn nach der Stimmung im Lande. Er ist ein
Intellektueller, ein freundlicher und großzügiger Mann, stand aber
trotzdem lange auf Seiten der israelischen Hardliner. Doch auf
seine Antwort war ich völlig unvorbereitet. Er sagte mir – mit vor
Erregung zitternder Stimme – so wie die Welt jetzt Israel
verurteilt, erinnert ihn das an die dunklen Zeiten der Hitler-Ära.
Er
sagte mir, dass fast alle in Israel so denken würden – mit der
Ausnahme von Merez, einer kleinen israelischen Friedenspartei. „
Aber sie sind doch Araber.“
So
wie ich hat auch mein Freund persönlich diese dunklen Hitlerjahre
durchgemacht, lebte unter Nazi-Besatzung wie so viele israelisch
jüdische Bürger. Deshalb war ich über die Analogie fassungslos. Er
sagte weiter, dass die sog. Menschenrechtsaktivisten auf dem
türkischen Schiff tatsächlich Terroristen und bezahlte
Schlägertypen gewesen seien, um die israelischen Behörden mit einem
Vorfall zu provozieren, damit der jüdische Staat diskreditiert
werde. Der Beweis dafür wäre - so sagte er – dass bei vielen dieser
Aktivisten von den israelischen Behörden 10 000 Dollar gefunden
worden wären, „genau dieselbe Summe“.
Als ich mich nach dem Schreck dieses Wortwechsels erholt hatte, kam
mir in den Sinn, dass die Beschwörung der Hitler-Ära tatsächlich
eine erschreckend passende Analogie ist, allerdings nicht im Sinne
meines Freundes. 1.5 Millionen Zivilisten werden seit drei Jahren
gezwungen, in einem Open-air-Gefängnis unter unmenschlichen
Bedingungen zu leben, aber dieses Mal sind es nicht Juden, sondern
Palästinenser. Ihre Gefängniswärter sind – kaum zu glauben - die
Überlebenden des Holocaust oder deren Nachkommen. Den Insassen des
Gazagefängnisses stehen natürlich keine Gaskammern bevor wie den
Juden damals; aber sie sind auf eine minderwertige und hoffnungslose
Existenz reduziert worden.
Ganze 80% von Gazas Bevölkerung lebt am Rande von Unterernährung und
hängt von internationalen Hilfslieferungen für die tägliche
Ernährung ab. Nach der UN und den Weltgesundheitsbehörden (WHO)
leiden Gazas Kinder dramatisch unter zunehmender Morbidität, die
sich auf ihr Leben auswirken und das Leben vieler verkürzen wird.
Diese Obszönität ist eine Folge absichtlicher und sorgfältig
berechneter israelischer Politik zur Rückentwicklung des
Gazastreifens, in dem man nicht nur seine Wirtschaft zerstört,
sondern auch seine physische und soziale Infrastruktur, während man
ihn hermetisch von der Außenwelt absperrt.
Ganz besonders erschreckend ist, dass diese Politik für einige
israelische Führer die Quelle von Belustigung war; nach einigen
Presseberichten wurde beschrieben, wie man die Palästinenser „auf
Diät setzt“. Auch das erinnert an die Hitlerjahre, als das jüdische
Leiden die Nazis amüsierte.
Ein anderer Charakterzug aus dieser dunklen Ära waren absurde
Verschwörungen, die man den Juden zumutete durch ansonsten
intelligente und kultivierte Deutsche. Leider sind auch
intelligente Juden nicht immun gegen solch eine Krankheit. Ist es
wirklich denkbar, dass türkische Aktivisten, denen angeblich
zehntausend Dollar gezahlt wurden, soviel Geld mit an Bord nehmen,
wenn sie wissen, dass sie von den israelischen Behörden gefangen
genommen werden?
Dass intelligente und moralische Leute – ob Deutsche oder Israelis
- einander mit solchen Absurditäten überzeugen können, das ist ein
Rätsel, das bis ins Innerste des Mysteriums geht, wie sogar
zivilisierteste Gesellschaften so schnell ihre höchsten Werte
beiseite lassen und zu den primitivsten Impulsen gegenüber dem
anderen zurückkehren, ohne dass ihnen bewusst wird, dies zu tun. Es
muss etwas mit einer absichtlichen Unterdrückung der moralischen
Vorstellungskraft zu tun haben, die sonst Leute befähigt, sich mit
dem Elend des anderen zu identifizieren. Pirkey Avot, eine Sammlung
ethischer Ermahnungen, die ein Teil des Talmuds ist, drängt:
„Verurteile Deinen Nächsten nicht, bis du dir vorstellen kannst, in
seiner Lage zu sein.“
Natürlich wird selbst die anstößigste israelische Politik nicht mit
Hitlers Politik verglichen. Aber die wesentlichen moralischen Themen
sind dieselben. Wie würden wohl Juden gegenüber ihren Quälern
reagiert haben, wäre ihnen so eine Art Existenz bestimmt gewesen,
wie sie Israel über Gazas Bevölkerung verhängt hat? Würden sie nicht
die Menschenrechtsaktivisten, die ihr Leben riskieren, um die Welt
auf ihr Elend aufmerksam zu machen, als Helden sehen, auch wenn sie
die Soldaten geschlagen hatten, die ihre Bemühungen zu verhindern
versuchen? Haben denn Juden die britischen Kommandos bewundert, die
(damals z.B.) an Bord der Exodus kamen und die Schiffe umleiten
wollten, die nach dem 2. Weltkrieg illegale jüdische Immigranten
nach Palästina brachten, so wie jetzt Israelis die israelische
Marinekommandos bewunderten.
Wer würde geglaubt haben, dass eine israelische Regierung und ihre
jüdischen Bürger versucht haben würden, israelische
Menschenrechtsorganisationen zu dämonisieren und still zu legen,
weil sie zu wenig „Patriotismus“ hätten und jüdische Landsleute
entlassen, die den Angriff auf die Gazaflotille kritisieren und sie
alle als „Araber“ kennzeichnen, verbunden mit allen hasserfüllten
Assoziationen, die das Wort in Israel in sich trägt, nicht viel
anders als die Deutschen, die ihre Landsleute brandmarkten, die sich
für Juden als „Juden“ einsetzten. Die deutschen Aktivisten der
„Weißen Rose“, Studenten der Universität München, die wagten, die
deutsche Verfolgung der Juden zu verurteilen ( lange bevor die
Vernichtung durch die KZs begann) wurden von ihren Landsleuten auch
als „Verräter“ angesehen, die die Todesstrafe dieser Aktivisten
durch die Gestapo nicht betrauerten.
Deshalb gibt es für Israelis und allgemein für Juden einen Grund,
lang und gründlich in dieser besonderen Zeit über die dunkle
Hitlerära nachzudenken. Denn die Bedeutung des Vorfalls mit der
Gaza-Flotille liegt nicht in den Fragen über Verletzungen des
Internationalen Rechts auf hoher See oder darüber „wer hat wen
zuerst“ auf dem türkischen Schiff Mavi Marmara angegriffen, sondern
in der größeren Frage über unseren allgemeinen menschlichen Zustand
durch Israels Besatzungspolitik und seiner Zerstörung der zivilen
Bevölkerung des Gazastreifens.
Wenn ein Volk, das am eigenen Leib vor noch nicht langer Zeit
unbeschreibbare Unmenschlichkeiten erfahren hat, nicht die
moralische Vorstellungskraft aufbringen kann, um die Ungerechtigkeit
und das Leiden zu verstehen, das seine territorialen Ambitionen und
selbst seine legitimen Sicherheitsbelange bei einem anderen Volk
verursacht , was für Hoffnung bleibt da für den Rest von uns?
Henry Siegman, Direktor des US/Nahostprojektes ist ein
Gastprofessor des Sir-Joseph-Hotung-Nahost-Programmes, Schule für
Orientalische und Afrikanische Studien, Universität London. Er ist
ein früherer Seniormitarbeiter über den Nahen Osten am Council on
Foreign Relations. Vorher war er nationaler Direktor des
US-jüdischen Kongresses von 1978 bis 1994.
(dt. Ellen Rohlfs)
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