Die nächsten Kreuzzüge
Uri Avnery,
5.3.05
Vor vielen Jahren las ich das Buch
„Der stille Amerikaner“ von Graham Green. Seine Hauptfigur ist
ein hochgesinnter, naiver, junger amerikanischer
Geheimdienstler in Vietnam. Er hat von der Komplexität dieses
Landes keine Ahnung, will aber seine Missstände beseitigen und
Ordnung schaffen. Die Folgen sind verheerend.
Ich habe das Gefühl, dass genau dies
jetzt im Libanon geschieht. Die Amerikaner sind nicht so
hochgesinnt und nicht so naiv. Weit davon entfernt. Aber sie
sind sehr bereit, in ein fremdes Land einzudringen, ohne seine
Komplexität zu berücksichtigen, und in ihm mit Gewalt Ordnung,
Demokratie und Freiheit herzustellen.
Bürgerkrieg: Libanon. Der
Libanon ist ein Land mit einer besonderen Topographie: es ist
ein kleines Land mit hohen Bergketten und isolierten Tälern.
Deshalb zog es Jahrhunderte lang Gemeinschaften verfolgter
Minderheiten an, die hier ein Refugium fanden. Heute leben dort
neben- und gegeneinander vier ethno-religiöse Gemeinschaften:
Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen. Innerhalb der
christlichen Gemeinschaft gibt es noch verschiedene
Denominationen, wie die Maroniten, Griechisch-Orthodoxen u.a.,
die einander oft feindlich gesinnt sind. Die Geschichte des
Libanon ist voll von gegenseitigen Massakern.
Solch eine Situation lädt Nachbarn
und ausländische Mächte geradezu ein, sich einzumischen. Jeder
wünscht, zum eigenen Vorteil in diesem Topf herumzurühren.
Syrien, Israel, die USA und Frankreich, der frühere Kolonialherr
– alle sind daran beteiligt.
Genau vor 50 Jahren gab es zwischen
den Führern Israels eine geheime, hitzige Debatte. David Ben
Gurion (damals Verteidigungsminister) und Moshe Dayan
(Generalstabschef) hatten eine brillante Idee: den Libanon zu
überfallen, einen „christlichen Major“ als Diktator einzusetzen
und den Libanon in ein israelisches Protektorat zu verwandeln.
Moshe Sharett, der damalige Ministerpräsident, lehnte diese Idee
leidenschaftlich ab. In einem langen, scharf argumentierenden
Brief, der für die Geschichte bewahrt wurde, zieht er angesichts
der unglaublich zerbrechlichen Komplexität der libanesischen
sozialen Struktur die totale Unkenntnis der Befürworter dieser
Idee ins Lächerliche. Jedes Abenteuer würde in einer Katastrophe
enden, warnte er.
Zu jener Zeit siegte Sharett. Aber
27 Jahre später taten Menachim Begin und Ariel Sharon genau das,
was Ben Gurion und Dayan vorgeschlagen hatten. Das Ergebnis war
genau so, wie Sharett es vorausgesehen hatte.
Jeder, der jetzt den
amerikanischen und israelischen Medien folgt – es gibt keinen
Unterschied – gewinnt den Eindruck, dass die gegenwärtige
Situation im Libanon einfach sei: es gibt zwei Lager, „die
Unterstützer Syriens“ auf der einen Seite und die „Opposition“
auf der anderen. Da gibt es einen „Beiruter Frühling“. Die
Opposition ist eine Zwillingsschwester der gestrigen
ukrainischen Opposition, und loyal imitiert sie ihre Methoden:
Demonstrationen gegenüber vom Regierungsgebäude, ein Meer von
geschwungenen Fahnen, farbige Schals und am wichtigsten:
hübsche Mädchen in der ersten Reihe.
Aber zwischen der Ukraine und dem
Libanon gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit. Die Ukraine ist
ein „einfach“ strukturiertes Land: der Osten tendiert zu
Russland, der Westen zu Europa. Mit amerikanischer Hilfe, gewann
der Westen.
Im Libanon sind alle verschiedenen
Gemeinschaften in Aktion. Jede für ihre eigenen Interessen, jede
verschwört sich gegen die andere, trickst sie aus oder greift
sie bei einer günstigen Gelegenheit an. Einige der Führer sind
mit den Syrern verbunden, einige mit Israel, alle versuchen,
die Amerikaner für ihre Zwecke auszunützen. Die hübschen Bilder
der in den Medien auffallenden jungen Demonstranten haben keine
Bedeutung, wenn man nicht weiß, welche Gruppierung hinter ihnen
steht.
Es sind erst 30 Jahre her, dass all
diese Gruppierungen einen schrecklichen Bürgerkrieg begonnen
hatten, und sie sich gegenseitig umbrachten. Die christlichen
Maroniten wollten das Land mit Hilfe Israels übernehmen, wurden
aber von einer Koalition der Sunniten und Drusen besiegt. ( Die
Schiiten spielten damals keine Rolle). Die von der PLO geführten
palästinensischen Flüchtlinge, die eine fünfte Gemeinschaft
bildeten, schlossen sich dem Kampf an. Als die Christen in
Gefahr waren, überrannt zu werden, riefen sie die Syrer zu
Hilfe. Sechs Jahre später fielen die Israelis mit dem Ziel ein,
die Syrer und die Palästinenser gemeinsam zu vertreiben und
einen christlichen starken Mann ( Basheer Jumal) einzusetzen.
Wir brauchten 18 Jahre, um aus dem
Morast wieder herauszukommen. Unsere einzige Errungenschaft war,
die Schiiten in eine dominante Macht zu verwandeln. Als wir in
den Libanon einmarschierten, empfingen uns die Schiiten mit
Reis und Süßigkeiten, da sie hofften, wir würden die sie
beherrschenden Palästinenser hinaustreiben. Ein paar Monate
später, als ihnen klar wurde, dass wir nicht die Absicht hatten,
sie zu verlassen, begannen sie, auf uns zu schießen. Sharon ist
der Geburtshelfer der schiitischen Hisbollah.
Es ist schwer vorauszusehen, was
geschehen wird, wenn die Syrer in das amerikanische Ultimatum
einwilligen und den Libanon verlassen. Es gibt keine Anzeichen,
dass die Amerikaner sich mit der Schaffung neuer
Lebensstrukturen für die libanesischen Gemeinschaften befassen.
Sie geben sich damit zufrieden, über „Freiheit“ und „Demokratie“
zu faseln, als ob ein Mehrheitsvotum ein für alle akzeptables
Regime schaffen könnte. Sie verstehen nicht, dass der „Libanon“
ein abstrakter Begriff ist, da für die meisten Libanesen die
Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft bei weitem wichtiger ist
als Loyalität zum Staat. In solch einer Situation bedeutet auch
eine internationale Militärtruppe keine Hilfe.
Das Wiederaufflammen eines blutigen
Bürgerkrieges ist leicht möglich.
Bürgerkrieg: Irak. Wenn im
Libanon ein Bürgerkrieg ausbricht, wird er nicht der einzige der
Region sein. Im Irak ist solch ein Krieg – wenn auch fast im
Geheimen – bereits in vollem Gange.
Die einzige effektive Militärtruppe
im Irak – abgesehen von der Besatzungsarmee – sind die
kurdischen „Peshmargas“, ( jene, die dem Tode entgegensehen).
Die Amerikaner benutzen sie immer dann, wenn sie gegen die
Sunniten kämpfen. Sie spielten in der Schlacht von Falludja eine
bedeutende Rolle. Die große Stadt wurde total zerstört, die
Bewohner getötet oder vertrieben.
Das kurdische Militär führt jetzt
einen Krieg gegen die Sunniten und Turkmenen im Norden des
Landes, um die ölreichen Gebiete und die Stadt Kirkuk zu
besetzen, und um die Sunniten, die von Saddam Hussein dort
angesiedelt worden waren, zu vertreiben.
Wie kann solch ein Krieg von den
Medien praktisch ignoriert werden? Ganz einfach: alles wird
unter den Teppich „des Krieges gegen den Terrorismus“ gekehrt.
Aber dieser kleine Krieg ist nichts,
verglichen mit dem, der im Irak geschehen kann, wenn die Zeit
kommt, um die Zukunft des Landes zu entscheiden. Die Kurden
fordern völlige Autonomie, praktisch „Unabhängigkeit“ mit einem
anderen Namen. Die Sunniten denken nicht im Traume daran, die
Herrschaft der von ihnen verachtenden schiitischen Mehrheit, zu
akzeptieren – auch dann nicht, wenn es im Namen der „Demokratie“
geschieht. Der Ausbruch eines Bürgerkrieges mag nur eine Frage
der Zeit sein.
Bürgerkrieg: Syrien. Wenn es
den Amerikanern ( mit unserer diskreten Hilfe) gelingt, die
regierende syrische Diktatur zu stürzen, gibt es überhaupt keine
Sicherheit, dass sie durch „Freiheit“ und „Demokratie“ ersetzt
wird.
Syrien ist fast so zersplittert wie
der Libanon. Es gibt eine starke drusische Gemeinschaft im
Süden, eine rebellische kurdische Gemeinschaft im Norden, eine
alawitische ( zu der die Assadfamilie gehört) im Westen. Die
sunnitische Mehrheit ist traditionell zwischen Damaskus im Süden
und Aleppo im Norden geteilt. Das Volk hat sich aus Furcht vor
dem, was nach einem Regimekollaps geschehen könnte, mit der
Assad-Diktatur abgefunden.
Es ist unwahrscheinlich, dass ein
wirklicher Bürgerkrieg hier ausbrechen wird. Aber eine längere
Phase von totalem Chaos ist ziemlich wahrscheinlich. Sharon
würde darüber glücklich sein, obgleich ich mir nicht sicher bin,
ob dies für Israel gut sein wird.
Religiöser Eifer: Iran. Das
Hauptziel der Amerikaner ist natürlich, die Ayatollahs im Iran
zu stürzen. ( Es ist schon etwas paradox, dass zur selben Zeit
die Amerikaner im benachbarten Irak den Schiiten zur Macht
verhelfen, wobei diese darauf bestehen, das islamische Recht
einzuführen).
Der Iran ist eine viel schwerer zu
knackende Nuss. Im Gegensatz zum Irak, Syrien und dem Libanon
ist hier eine homogene Gesellschaft.
Israel droht jetzt offen mit dem
Bombardieren der iranischen Atomeinrichtungen. Alle paar Tage
sieht man auf unsern Fernsehschirmen die digital vertuschten
Gesichter der Piloten, die sich mit ihrer Bereitschaft rühmen,
dies jederzeit zu tun.
Der religiöse Eifer der Ayatollahs
hat in letzter Zeit nachgelassen, wie dies bei jeder siegreichen
Revolution nach einiger Zeit geschieht. Aber ein militärischer
Angriff durch den „Großen Satan“ ( die US) oder den „kleinen
Satan“ (wir) kann den Eifer im schiitischen Halbmond, im Iran,
Südirak und im Südlibanon neu anfachen.
Ja, auch hier. Sogar Israel
wurde kürzlich Zeuge eines winzigen Bürgerkrieges.
Im galiläischen Dorf Marrar, wo eine
drusische und eine arabisch-christliche Gemeinschaft seit
Generationen neben einander lebt, brach plötzlich eine blutige
Auseinandersetzung aus. Es war ein richtiges Pogrom: die Drusen
fielen über die Christen her, griffen sie an, setzten einiges in
Brand und zerstörten. Wie durch ein Wunder wurde niemand
getötet. Die Christen sagten, dass die israelische Polizei -
viel von ihnen sind Drusen - daneben stand. Der Grund für den
Ausbruch: einige fabrizierte Nacktfotos im Internet.
Es ist leicht, einen Bürgerkrieg
entweder aus Fanatismus oder unerträglicher Naivität zu
entfachen. George Bush, der (nicht-so-) stille Amerikaner, rennt
in der Welt herum, um mit seinem patentierten Medikament
„Freiheit“ und „Demokratie“ hausieren zu gehen und das mit
einer totalen Ignoranz über Hunderte von Jahren von Geschichte.
Es ist kaum zu glauben, aber er zieht seine Inspiration aus
einem Buch unseres Nathan Sharansky, einem – gelinde gesagt -
sehr kleinen Geist.
Jedes menschliche Wesen und jedes
Volk hat ein Recht auf Freiheit. Viele von uns haben für dieses
Ziel ihr Blut vergossen. Demokratie ist ein Ideal, das jedes
Volk für sich selbst realisieren muss. Aber wenn die Banner der
„Freiheit“ und „Demokratie“ über dem Kreuzzug einer habgierigen
und unverantwortlichen Supermacht flattern, können die Folgen
katastrophal sein.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |