Freue dich nicht
Uri Avnery, 13.11.04*
„Freue dich nicht
über den Fall deines Feindes, und dein Herz sei nicht froh über sein
Unglück; der Herr könnte es sehen und Missfallen daran haben .“
(Sprüche Salomos, 24,17)
Dieses biblische
Gebot ist eines der tiefsinnigsten jüdischen moralischen Lehrsätze.
In diesem
Zusammenhang wäre Israel weit davon entfernt, ein „jüdischer
Staat“ zu sein, wie er sich selbst gerne definiert. Die widerlichen
unflätigen Ausdrücke, die in den letzten Tagen über Arafat praktisch
in allen israelischen Medien verbreitet wurden, lassen mich als
Israeli vor Scham erröten.
Die Dämonisierung
des palästinensischen Nationalführers, die seit Jahrzehnten ein
Kernstück israelischer Propaganda gewesen ist, geht nun auch noch
über seinen Tod hinaus. Es scheint, dass die 37 Jahre als Besatzer
unsere Gesellschaft entmenschlicht und ihr sogar das allgemeine
Anstandsgefühl genommen haben.
Minister und
Fischverkäufer, TV-Ikonen und Universitätsprofessoren, „Linke“ und
totale Faschisten versuchten mit vulgärsten Ausdrücken einander zu
überbieten.
Niemals war die
tiefe Kluft in der Wahrnehmung beider Völker deutlicher als an
Arafats Beerdigungstag. Während israelische Kommentatoren und
„Experten für arabische Angelegenheiten“ – die meisten Veteranen
verschiedener Geheimdienstagenturen – den verstorbenen Führer als
wahrhaftiges Monster, eine Verkörperung der Grausamkeit,
Verwerflichkeit und Korruption beschrieben - brachen Hundert
Tausende kummervoll Trauernde in Ramallah in Emotionen aus, die das
Begräbnis in ein Chaos verwandelten und fast unterbrochen hätten.
Wenn die israelische Armee an diesem Tag nicht alle Städte umzingelt
und isoliert hätte, wären mehr als eine Million dort gewesen.
Gush Shalom, die
einzige israelische Organisation, die mit dem palästinensischen Volk
trauerte, entschied sich, eine Delegation zur Beerdigung zu
schicken. Alle von uns Aktivisten, Frauen und Männer, trugen auf
ihrer Brust ein großes Abzeichen, das aus der israelischen und
palästinensischen Flagge besteht. Der Druck der Menge trieb uns
auseinander. Während der Stunden des Begräbnisses fühlten wir uns
vollkommen sicher, auch als Tausende von Schüssen in die Luft
geschossen wurden, um den Kummer und die Trauer zum Ausdruck zu
bringen. Uns wurde hundertfach Dankbarkeit und Freundschaft von
Seiten der Palästinenser jeden Alters und jeder Position zum
Ausdruck entgegen gebracht.
Ich war mitten in
der Menge, als der Helikopter, der den Sarg brachte, von Kairo kam.
Als ich neben dem Grab zwischen den palästinensischen
Ministern, religiösen Würdenträgern und Diplomaten stand, empfand
ich, während der Helikopter den Boden berührte, die Emotionen der
großen Menge um uns besonders stark und erinnerte mich an die Szene
von Gamal Abd-al Nassers Begräbnis (1970), als dort die Massen
vorwärts drängten und buchstäblich den Leichnam ihres geliebten
Führers den Soldaten abnahmen. Ich hatte das Gefühl, dass dies hier
auch jeden Moment geschieht. Und es geschah.
Kein arabischer
Führer – und sehr wenige Führer der Welt – weckte solch tiefe Liebe
und Bewunderung seines Volkes wie dieser Mann, den die Israelis
als wahrhaftiges Monster in Menschengestalt betrachten. Die
Palästinenser vertrauten ihm, verließen sich auf ihn, ließen ihn
alle großen, mutigen Entscheidungen fällen, holten sich von ihm die
Kraft, um den unerträglichen Bedingungen einer brutalen Besatzung
stand halten zu können. Jetzt finden sie sich - unvorstellbar - auf
einmal allein wie Verwaiste in einer vom Tode dieses einen Mannes
für sie veränderten Welt. Er hinterlässt eine große Lücke.
Was wird nun
geschehen? Arafat brachte sein Volk vom Rande der Vergessenheit an
die Schwelle der Unabhängigkeit. Doch ist die Schlacht der Befreiung
noch längst nicht vorüber. Die neue Führung muss mit all den
Problemen, denen Arafat gegenüberstand, fertig werden – ohne die
gewaltige Autorität Arafats.
Abu Mazen, Abu-Ala
und ihre Kollegen sind aufrechte und anständige Leute. Ich kenne
sie seit Jahren, meistens von Treffen mit Arafat. Aber sie sind
nicht im Volk verwurzelt. Es mag Jahre dauern, bis wieder eine
starke Führung auftaucht.
Im Augenblick sind
die Palästinenser in ihrem Vorsatz vereinigt, der Welt zu zeigen,
dass sie mit der Krisis in einer zivilisierten und verantwortlichen
Weise fertig werden können. Dies könnte für Israel (und natürlich
auch für die Vereinigten Staaten) eine Chance werden, mit dem
palästinensischen Volk ein neues Kapitel ihrer Beziehungen
aufzuschlagen.
Was könnte getan
werden? Nun, da sollte es neue Zeichen des guten Willens geben
mit solchen Gesten wie einer Massenentlassung palästinensischer
Gefangener, einschließlich des sehr geachteten Marwan Barghouti, der
zu fünffach lebenslänglich verurteilt wurde. Belagerungen sollten
aufgehoben und militärische Operationen wenigstens eingeschränkt
werden. Friedensverhandlungen sollten für die nächste Zukunft
angekündigt werden.
Der erste Test war
natürlich das Begräbnis selbst. Arafat hätte – gemäß seinem Wunsch -
in Jerusalem beerdigt werden sollen. Seine Bestattung in Ramallah
wird die Palästinenser nur in ihrem Kampf anspornen, bis sie in der
Lage sind, ihn dort beizusetzen. Der Justizminister Tommy Lapid, ein
extrem Rechter, der sich liberal gibt, erzielte einen neuen Rekord
in Pöbelhaftigkeit als er erklärte, dass nur „jüdische Könige in
Jerusalem beerdigt werden dürften und keine arabischen Terroristen“.
Menachim Begin, ein Terrorist, der „ein König“ wurde und in
Jerusalem beerdigt ist, könnte als Präzedenzfall dienen.
Das Wichtigste wäre
nun, dass man die Palästinenser in die Lage versetzt, innerhalb der
nächsten 60 Tage Wahlen abzuhalten, wie es ihre Verfassung
vorschreibt. Tatsächlich betraf mein letztes Gespräch mit Arafat vor
nur wenigen Wochen die Wahlen. (Übrigens sah er damals noch ganz
gesund aus.) Wir stimmten darin überein, dass sie undurchführbar
seien, während die israelische Armee routinemäßig mögliche
Kandidaten umbringt und die Bewegung zwischen den Städten und Orten
fast unmöglich macht. Wie wollen Kandidaten – falls sie am Leben
bleiben – für Stimmen werben? Wie sollen sie Material verteilen,
Versammlungen abhalten und über Politik debattieren, wenn im
Hintergrund Panzer stehen und Kampfhubschrauber über ihren Köpfen
kreisen?
Diese Situation
muss sofort verändert werden. Alle militärischen Einheiten müssen
wenigstens aus den Gebieten, die unter der Jurisdiktion der
Palästinensischen Behörde stehen, (nach den Oslo-Abkommen die sog.
Zonen A und B) zurückgezogen werden, die Bewegungsfreiheit wieder
hergestellt, die Kampagne der „gezielten Liquidationen“ gestoppt und
vor allem internationale Beobachter eingeladen werden.
Wird das geschehen?
Wahrscheinlich nicht. Ariel Sharon hat absolut kein Interesse
daran, einer demokratisch gewählten Führung, die international
legitimiert und geachtet wird, gegenüber zu sitzen, die vielleicht
sogar seine Kontrolle über Präsident Bush schwächt und seinen Plan
zerstört, der die Annexion des größten Teils der Westbank vorsieht.
Er wird alles tun, um die Wahlen zu verhindern – und die Schuld
daran, natürlich, den Palästinensern in die Schuhe schieben.
Wie immer ist es
ratsam zu ignorieren, was Sharon sagt - und genau darauf zu achten,
was er tut.
* Genau vor 30 Jahren, am
13.11.1974, stand Yasser Arafat vor der UNO und hielt seine
berühmte Rede
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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