Der Berg und die Maus
Uri
Avnery, 18.12.04
Ariel Sharons Rede bei der „Herzlia Konferenz“, einer alljährlichen
Versammlung von Israels finanzieller, politischer und akademischer
Aristokratie, bewies wieder seine außerordentliche Fähigkeit, eine
imaginäre Welt zu beschwören und die Aufmerksamkeit von der
wirklichen abzulenken. Wie jeder erfolgreiche Zauberer weiß er, dass
das Publikum verzweifelt gute Nachrichten hören und die schlimme
Realität nicht wahrnehmen will.
Es
war eine optimistische Botschaft, wie die betörten Kommentatoren
verkündeten. Nach ihm sind wir auf dem Weg ins Paradies; 2005 wird
ein Jahr enormer Erfolge in allen Bereichen, und alle unsere
Probleme werden gelöst.
Der
größte Teil der Rede widmete sich den Erfolgen seiner großartigen
Tat , die er vor einem Jahr bei derselben Konferenz startete, dem
„einseitigen Abzugsplan“.
Nach meiner eigenen freien Übersetzung sagte er folgendes: Amerika
ist in unserer Tasche. Präsident Bush unterstützt alle Positionen
Sharons, einschließlich derer, die entgegengesetzt zu Bushs eigener
früherer Position stehen. Europa hat sich ihm ergeben. Die Großen
der Welt stehen Schlange, um uns zu besuchen. Der erste ist Tony
Blair. Ägypten und die anderen arabischen Staaten wollen sich bei
uns einschmeicheln. Unsere internationale Position hat sich derart
verbessert, dass sie nicht wieder zu erkennen ist. Die Wirtschaft
macht mit großer Geschwindigkeit Fortschritte; unsere Gesellschaft
blüht. Außer der extremistischen Randgruppe vom rechten Flügel gibt
es keine Opposition mehr. Die Laborpartei ist im Begriff, sich der
Regierung anzuschließen und wird alle unsere Maßnahmen
unterstützen. (Irgendwie vergaß er zu erwähnen, dass auch Yossi
Beilins Yahad-Partei ihm eine „eherne Brücke“ bauen will.)
Sharon hat dies alles nur durch Reden erreicht. Seine Worte sind bis
jetzt praktisch von keiner einzigen Tat begleitet worden . Es ist
nicht sicher, ob Sharon überhaupt beabsichtigt, den „Abzugsplan“ in
die Tat umzusetzen. Seine Absichten können wie folgt definiert
werden:
-
Falls es möglich
ist, die Ausführung des Planes völlig zu vermeiden, besonders die
Evakuierung der Siedlungen, ohne die Sympathie der Welt und der
israelischen Öffentlichkeit zu verlieren, wäre das gut.
-
Falls es keine
Alternative gibt und die Ausführung beginnen muss – muss alles
getan werden, um besonders die Evakuierung der Siedlungen zeitlich
so weit wie möglich in die Länge zu ziehen. Evakuiere eine
Siedlung, dann ruh dich aus. Evakuiere noch eine Siedlung, und
ruh dich wieder aus. So wird es Jahre dauern.
-
Aber: der
Abzugsplan sollte die Pläne nicht ändern, die die Westbank
betreffen.
In
der Zwischenzeit: im Gazastreifen - aus dem Sharon doch abziehen
will – ist die Armee weiter Tag und Nacht in Aktion, tötet alle 24
Stunden drei bis zehn Palästinenser. Häuser werden en gros zerstört.
Einige Gräueltaten, die die Armee begangen hat, hat die israelische
Öffentlichkeit schockiert. Kein einziger Siedler wurde umgesiedelt.
Im Gegenteil, neue Siedler sind angekommen.
All
dies weist auf keine wirkliche Entscheidung hin, den versprochenen
Abzug zu erfüllen. Sharons Aktionen auf der Westbank dagegen
zeigen einen festen Entschluss, hier seinen Plan zu erfüllen.
In
der Westbank hat sich die Besatzung(spolitik) verschlimmert.. Die
mörderischen Checkpoints behindern weiterhin die Möglichkeit eines
normalen Lebens. Das Foto, das einen palästinensischen Geiger zeigt,
wie er von Soldaten am Checkpoint zum Spielen gezwungen wird, weckt
in vielen Israelis schreckliche Erinnerungen. Der Bau der
Annexionsmauer geht weiter – mit ein paar kleinen Veränderungen der
Route, um den Israelischen Gerichtshof zu beschwichtigen, während
man die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes ignoriert.
Die Siedler zerstören palästinensische Olivenhaine, um an ihrer
Stelle ein neues Viertel zu bauen. Überall in der Westbank werden
die Siedlungen erweitert, ein Netzwerk von Straßen „nur für Juden“
wird ausgebaut, noch mehr „illegale“ Außenposten entstehen unter dem
Schutz der Armee und mit stillschweigender Hilfe aller relevanten
Ministerien. Viel Geld fließt in diese Projekte, während Renten
gekürzt werden und Kranke in Kliniken überall in den Korridoren
liegen.
Würde ein Staatsmann mit einer Friedensvision wirklich derart
handeln? Er benimmt sich eher wie ein Arzt, der die Hand eines
Patienten behandelt und der ihm gleichzeitig ein Messer in den Bauch
stößt.
All
dies geschieht, während die Welt Sharon – allein wegen der Kraft
seiner Rede - begeisterte Unterstützung gibt. Solange, wie er den
„Abzug“ in Aussicht stellt, kann er praktisch ziemlich alles tun,
wozu er Lust hat.
Ben
Gurion sagte einmal:„Es ist ganz unwichtig, was Nichtjuden sagen –
wichtig allein ist, was Juden tun.“ Sharons Version lautet: „Es
ist ganz unwichtig, was wir sagen, wichtig ist, was wir tun.“
Der
wichtigste Teil der Rede war der, der unausgesprochen blieb. Da gab
es kein Friedensangebot für die Palästinenser. Er sprach überhaupt
nicht über Frieden.
Überall in der Welt verbreitet sich die Überzeugung, dass es jetzt
eine günstige Gelegenheit gibt, dass dies der Zeitpunkt für eine
neue befreiende Friedensinitiative sei. Sharon erwähnte tatsächlich
mit großer Befriedigung, dass Arafat nun tot sei und dass es jetzt
eine Chance für das Entstehen einer „moderaten palästinensischen
Führung“ gebe. Was hat er dieser moderaten Führung in seiner Rede
wohl angeboten?
Gar
nichts.
Er
wies vorsichtig auf mögliche „langfristige Vereinbarungen“ hin.
Das heißt: noch mehr Interimsabkommen nach den schon vorhandenen
Interimsabkommen, deren einziges Ziel es ist, den wirklichen
Frieden auf den Sankt Nimmerleinstag hinauszuschieben. Aus seiner
Rede ging hervor, dass Israel nicht nur die „großen
Siedlungsblöcke“, sondern auch „die für unsere Sicherheit
wesentlichen Gebiete“ auf immer behalten wird. Welche Gebiete
könnten das sein? Nun, das ist wohl bekannt: das Jordantal und die
anderen Gebiete, die in den Oslo-Abkommen als C-Gebiet bezeichnet
wurden. Das Endergebnis des „Abzugsplanes“ wird deshalb die Annexion
von 58% der Westbank an Israel sein, so wie es Sharon schon immer
gewollt hat.
Die
Palästinenser werden nach diesem Plan 10-12% des Palästina von vor
1948 zurückerhalten, einschließlich des Gazastreifens ( der nur 1,5%
des Landes ausmacht). Sharons „Palästinensischer Staat“ wird aus
einer Reihe von Enklaven bestehen, die von der Welt abgeschnitten
sind. Das ist es, was er unter „Ende der Besatzung“, unter
„schmerzvollen Konzessionen“ und „unserem Widerwillen, über ein
anderes Volk zu regieren“, versteht – Worte, die weitläufig
Bewunderung hervorgerufen haben.
Um
jeden Zweifel auszuräumen, hat auch Binyamin Netanyahu bei der
Konferenz in seiner Rede die zukünftigen Grenzen zwischen uns und
den Palästinensern in groben Zügen umrissen: „Nicht die Grüne Linie
und auch nicht in der Nähe der Grünen Linie.“
Keiner bot der neuen palästinensischen Führung Friedensverhandlungen
an. Oder höchstens einige Schritte, um den Rückzug aus dem
Gazastreifen zu koordinieren. Sonst noch etwas? Der
Verteidigungsminister Shaul Mofaz versprach in seiner Konferenzrede,
dass die Armee die palästinensischen Städte „72 Stunden lang“ für
die Wahlen verlassen würde. Zwischen Straßensperren und
Kontrollpunkten, zwischen dem einen „gezielten Töten“ und dem
nächsten wird dann die palästinensische Demokratie drei Tage lang
blühen.
Sharon rühmte sich, dass die Armee den Terrorismus praktisch schon
besiegt hat. Das wurde ein paar Tage nach einer palästinensischen
Kommandoaktion gesagt - die sogar bei der Armee einige stille
Bewunderung ausgelöst hat - es war ihr gelungen, auf der
Philadelphi-Achse in einem darunter durchgegrabenen Tunnel mit
einer Menge Sprengstoff einen ganzen Armeeposten in die Luft zu
sprengen und ihre Überreste zu erstürmen. (Dies verursachte in
Israel keine zu große Aufregung, weil alle fünf getöteten Soldaten
Araber waren, meistens beduinische Freiwillige aus der arabischen
Bevölkerung Israels.)
Vorläufig hat die Zahl der gewalttätigen Angriffe auf israelische
Bürger tatsächlich abgenommen, aber vor allem wegen der Bemühungen
von Abu Mazen. Das mag so eine Weile weiter gehen – solange die
palästinensische Öffentlichkeit einige Hoffnung hat, ein Licht am
Ende des Tunnels zu sehen. Sobald sie diese Hoffnung verliert, wird
sie grünes Licht für eine neue Angriffswelle geben.
Sharon verspricht den Israelis ein wunderbares Jahr, ein Jahr voller
Sicherheit und Ruhe, wirtschaftlichen Wachstum und sozialen
Fortschritt. Aber daraus wird nichts, solange er die Straße des
Friedens blockiert und den Friedensprozess in „Formalin“ legt, wie
sein engster Berater geschrieben hat.
Die
Europäer reden über eine große Geldspende für die Palästinensische
Behörde nach der Wahl von Abu Mazen. Doch ist es eine trügerische
Hoffnung, die so alt wie der Zionismus selbst ist: dass das
palästinensische Volk – oder jedes andere Volk, das für seine
Freiheit kämpft, - gekauft werden kann und sein Land und seine
Unabhängigkeit aufgibt.
Wenn das Geld nicht durch eine massive europäische Intervention für
eine schnelle Beendigung der Besatzung und die Herstellung einer
dauerhaften israelisch-palästinensischen Lösung begleitet wird, dann
hat - nach einem alten Sprichwort - der Berg eine Maus geboren .
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
|