Die Bienen und der Löwenkadaver
Uri Avnery, 30.8. 06
EHUD OLMERT hat einen überzeugenden Beweis für den
großen Sieg über Hassan Nasrallah gefunden: „Ich kann
mich in meinem Lande frei bewegen – Nasrallah
versteckt sich in einem Bunker!“
Man sagt, dass „der Stil den Mann ausmacht“ und mit
diesen Worten zeigt Olmert seine Qualität (oder das
Fehlen derselben). Im Augenblick stehen Dutzende von
israelischen Flugzeugen und Hubschraubern bereit,
Nasrallah zu töten, sobald er sich zeigt. Nasrallah hat
kein einziges Flugzeug, keinen einzigen Hubschrauber, um
Olmert zu töten. Die ungeheure materielle Überlegenheit
der israelischen Armee über eine Guerilla-Organisation
ist keine Errungenschaft Olmerts, aber die Fähigkeit der
Hisbollah, den massiven Angriff unserer Armee zu
überleben. ist sicher Nasrallahs Verdienst.
Nebenbei, warum sollte Nasrallah im Sinne haben,
Olmert zu töten? Er ist eher daran interessiert, dass
Israel von einem gescheiterten Politiker geführt wird,
der seine Inkompetenz bewiesen hat und von dem die
meisten Israelis sagen, er solle doch gehen.
Ein Zyniker mag sagen: Nasrallah möchte, dass Olmert
bleibt, und deshalb beeilte er sich, ihm zu Hilfe zu
kommen. Denn während jeder in Israel davon überzeugt
ist, dass Olmert elendiglich gescheitert war, sagte
Nasrallah in dieser Woche während eines Interviews:
„Wenn ich gewusst hätte, dass Israel so reagieren würde,
wie es reagierte, dann hätte ich nicht die zwei Soldaten
gefangen nehmen lassen.“
Wie erwartet, haben Olmert und seine Leute diesen Satz
zu seinen Gunsten ausgelegt: Seht, Nasrallah
entschuldigt sich! Das beweist, dass er geschlagen
wurde! Also hat Olmert trotz allem gewonnen.
ABER DIE meisten Israelis nehmen dieses dumme Geschwätz
nicht ernst. Sie sind davon überzeugt, dass wir den
Krieg nicht gewonnen haben, dass die Macht der
Abschreckung der israelischen Armee beschädigt wurde,
dass die libanesische Armee und die internationale
Truppe, die an der Grenze aufgestellt werden nicht für
uns den Job erledigen werden, an dem unsere eigene
Armee gescheitert ist.
Was sollte also getan werden, wenn die Öffentlichkeit
glaubt, von einer Gruppe inkompetenter Politiker und
militärischer Führer regiert zu werden?
Das ist im Augenblick die große Frage, die die ganze
Nation beschäftigt. Ein paar Dutzend Reservesoldaten
und Zivilisten demonstrierten gegenüber dem Büro des
Ministerpräsidenten, andere saßen zu Hause und
meckerten. Sie wissen, dass Olmert, Peretz und Halutz
entfernt werden müssen. Aber wie kann das ausgeführt
werden?
Das Naheliegendste wäre, auf die Straße zu gehen und zu
demonstrieren. Wenn Hundert- tausende die Plätze füllen
würden, würde Olmert vielleicht zurücktreten, wie es
Golda Meir zu ihrer Zeit tat. Doch Olmert ist nicht
Golda, und auch Golda klebte ein halbes Jahr nach
ihrer Niederlage im Yom-Kippur-Krieg noch an ihrem
Amtssessel. Doch wo sind die Hunderttausende?
Eine andere Möglichkeit wäre, eine staatliche
Untersuchungskommission zu ernennen, die das Trio
entlassen könnte. Das wäre gut, sogar sehr gut, ist
aber schwierig. Nach dem Gesetz kann nur die Regierung
beschließen, solch eine Kommission zu ernennen, und nur
die Regierung kann über den Inhalt der Untersuchung
entscheiden. Erst wenn solch eine Entscheidung getroffen
wurde, geht die Sache an den Präsidenten des Obersten
Gerichtshofs, der dann über die Zusammensetzung der
Kommission entscheidet.
Solch eine Untersuchung braucht natürlich ihre Zeit.
Bevor sie jemanden wegen Versäumnissen anklagt, muss sie
ihn warnen und ihm gestatten, von einem Anwalt vertreten
zu werden, Zeugen im Kreuzverhör zu vernehmen und
Dokumentationen anzufordern – und das ist ein langsamer
Prozess. In der Zwischenzeit regieren die Inkompetenten
weiter und beginnen womöglich noch einen Krieg, um uns
den letzten vergessen zu lassen. Selbst wenn die
Kommission einen Zwischenbericht herausgibt, würde
allein dies wenigstens ein halbes Jahr dauern.
Aber Olmert & Co sind nicht bereit, dies zu riskieren.
Deshalb ernannten sie in dieser Woche zwei
Untersuchungskomitees, die keine staatlichen
Untersuchungskommissionen sind und die ihnen erlauben,
ihre Mitglieder zu ernennen. Kein Untersuchungskomitee
wird die Entlassung der Leute fordern, die es ernannt
haben.
GIBT ES NOCH einen anderen Weg, sie loszuwerden?
Das Einfachste wären Neuwahlen. Doch auch das ist
nicht so einfach, wie es klingt. Nur die Knesset kann
das entscheiden, was bedeuten würde, dass sich die
Knessetmitglieder selbst entlassen müssten. Dafür
bestehen herzlich wenig Aussichten!
So wie die Dinge im Augenblick liegen, würde außerdem,
wenn Wahlen in der gegenwärtigen Situation stattfinden
würden, die Rechten gewinnen. Die Stimme des
Friedenslagers war während des Krieges vollkommen
ausgeschaltet und auch jetzt hat sie keinen Platz in
den Medien. Die Folge davon ist, dass die gehörte
Kritik am Krieg fast nur aus dem rechten Lager kommt.
Die Öffentlichkeit fragt nicht: Warum haben wir diesen
Krieg begonnen? Sie fragt: Warum haben wir nicht
gesiegt? Und sie antwortet: die korrupten Politiker
haben der Armee nicht erlaubt zu siegen. Eine neue
Regierung ist nötig, eine rechte und patriotische, um
die Armee zu rehabilitieren und noch einen Krieg zu
beginnen, der den Job zu Ende bringt.
Eine neue Regierung ohne Wahlen in der Knesset
einzusetzen, würde dasselbe Resultat zeigen, weil die
einzige Alternative zur augenblicklich bestehenden eine
Koalition wäre, die den Likud einschließen würde und
wenigstens eine der beiden faschistischen Parteien.
Nicht erfreulich.
Eine andere Möglichkeit: die augenblickliche Koalition
im Amt zu lassen und nur Olmert und Peretz zu ersetzen.
Doch wie? Durch eine Revolte in der Kadima-Partei, die
Olmert ersetzt, und eine Revolte in der Labor, die
Peretz ersetzt. In der Labor gäbe es solch eine
Möglichkeit. Aber wer wird in der Kadima, einer
fiktiven Partei, die keinerlei Parteiinstitutionen hat,
revoltieren?
Also: in der Theorie gibt es mehrere Optionen - und
alle sind schlecht. Dies spaltet das „Protestlager“.
Einige Protestierende verlangen um jeden Preis eine
staatliche Untersuchungskommission. Andere wollen, dass
die Dreierbande– Olmert, Peretz und Halutz – ohne
Untersuchung zurücktreten. Was die beiden Gruppen
vereint, ist ihre Unterstützung durch die extreme
Rechte und besonders durch die Siedler, die – nach der
besten Tradition der Erfinder der „Dolchstoßlegende“
nach dem 1. Weltkrieg – erklären: „Die verräterischen
Politiker haben der siegreichen Armee einen Dolch in
den Rücken gestoßen.“
Nebenbei bemerkt, ist die Zahl der Demonstranten sehr
viel kleiner als die Tausende, die das Friedenslager
mitten im Krieg mobilisierte, um gegen diesen Krieg zu
protestieren.
WAS WIRD also geschehen? Man kann nur mit dem Sprichwort
antworten: „Die Kunst der Prophetie ist schwierig,
insbesondere was die Zukunft betrifft.“
Man weiß im Augenblick gar nicht, was sich in der
nächsten Zukunft ereignen wird. Aber es lohnt sich,
darüber nachzudenken, welche Auswirkung der Krieg auf
Dauer auf die öffentliche Meinung haben wird.
Samson, der Held, sah einen Bienenschwarm, der in einem
Löwenkadaver Honig machte. Er sagte: „Süßigkeit ging
aus vom Starken“ (Richter 14)
(Das war derselbe Samson, der von den Philistern
entführt wurde und der der 1. Selbstmordattentäter in
der Geschichte dieses Landes wurde.) Könnte dieser Satz
sich auch in unsern Zeiten erfüllen? Könnte aus
diesem entsetzlichen Krieg noch etwas Gutes
hervorgehen?
Vielleicht. Im Augenblick bringt dieser Krieg in Israel
nur Gefühle der Angst, der Frustration, Beschimpfung
und Demütigung hervor: Warum können wir eine kleine
„Terror-Organisation“ nicht besiegen? Unsere politischen
Führer haben sich als dumm erwiesen, unsere
militärischen Führer als inkompetent. Die Dinge müssen
in Ordnung gebracht werden.
Ich glaube jedoch, dass sich in der öffentlichen Meinung
langsam eine neue Überzeugung breit machen wird: Der
Krieg zeigt, dass die Zeit der leichten Siege vorbei
ist. Dass in jedem neuen Krieg unser Hinterland mit
betroffen sein wird; dass unsere Armee nicht allmächtig
ist, wie man uns weis machen wollte.
Und vor allem eins: dass der Krieg kein Problem löst,
dass es vielleicht tatsächlich keine militärische
Lösung gibt und dass es besser wäre, wenn wir mit unsern
Nachbarn reden würden.
Es ist nicht einfach, zu einer solchen Schlussfolgerung
zu kommen - da ist eine emotionale und ideologische
Revolution nötig. Das braucht Zeit. Man muss aber kein
Universitätsprofessor sein, um dies zu begreifen. Es
genügt gesunder Menschenverstand und die Erfahrung aus
den letzten Jahrzehnten. Viele Leute, einschließlich
derer, die man „das einfache Volk“ nennt, haben – Gott
sei Dank - beides.
Diejenigen, die sich beklagen, dass der zweite
Libanonkrieg vor seinem Ende gestoppt wurde, sollten an
den Erfolg von Schuberts Unvollendeter erinnert
werden.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert ) |