Teure Siedler
Briefe an die Siedler, an die
Yesha, die Medien, Sharon und Prof.Leibowitz
Uri Avnery, 27.8.05
Teure
Siedler –
„teuer“ im buchstäblichsten Sinn.
Endlich muss es ausgesprochen werden, ohne scheinheiliges
Mitleid, ohne „Wenn“ und „Aber“.
Wir haben Milliarden Schekel gezahlt, um Euch im Gazastreifen
anzusiedeln. Wir haben Milliarden bezahlt, um Euch dort zu
halten – und die meisten von Euch lebten dort auf unsere Kosten.
Wir haben Milliarden gezahlt, um Euch zu verteidigen und
Dutzende Soldaten und Soldatinnen verloren dabei ihr Leben. Nun
zahlen wir Milliarden ( acht? zehn? zwölf?), um Euch dort
herauszuholen – mit großzügigen Entschädigungen.
Aber das ist noch nicht alles. Noch immer schreit Ihr, als ob
Ihr noch einmal beraubt worden wäret. Wir würden Euch noch viel
mehr schulden. Ganze Landstriche – am besten entlang der Küste –
sollen speziell für Euch reserviert werden, damit Ihr Euch „als
ganze Siedlungen“ wieder ansiedeln könnt. Damit Ihr für Euch –
abgesondert – leben könnt. Damit Ihr Eure eigenen besonderen
Schulen haben könnt. Damit Ihr als Angestellte der Regierung
als örtlicher Gemeinderat vom Kultus- und
Verteidigungsministerium Gehälter beziehen könnt.
Ich weiß nicht, ob es im Guinnessbuch der Rekorde einen
Abschnitt über Wettbewerbe von Unverschämtheit, Dreistigkeit
und Frechheit gibt – auf jiddisch kurz Chutzpe . Wenn ja, dann
solltet Ihr den Preis konkurrenzlos erhalten. In der
Vergangenheit schuldeten wir jedem einzelnen von Euch eine
Luxusvilla für fast nichts, außerdem die Quelle des
Lebensunterhalts, Land, Wasser – jetzt scheint es, wir schulden
Euch alles, es sei Euer Recht, Euch selbst am Geld der
Kranken, Alten, Behinderten, Kinder, Arbeitslosen zu bedienen,
weil Ihr die Besten der Besten seid; weil Ihr den Bart des
Messias fest haltet; weil Ihr persönlich von Gott auserwählt
wurdet.
Ich hätte mit Euch in Eurer Notlage etwas Sympathie gehabt,
wenn Ihr nur etwas Mitleid mit den Bewohnern der 1500
palästinensischen Häuser gehabt hättet, die Euretwegen zerstört
worden waren – es ist eine größere Zahl an Häusern als die der
Siedler, die jetzt zerstört werden. Wenn Ihr Mitleid für die
Kinder ausgedrückt hättet, die innerhalb einer halben Stunde aus
ihren Häusern vertrieben wurden – ohne Entschädigung, ohne
Hotel und ohne die Hilfe von Psychologen - oder für die
Tausende entwurzelter Bäume, um Euch mehr „Sicherheit“ zu
geben.
Der gute Rabbi Hillel sagte vor 2000 Jahren, als er einen
Totenschädel im Fluss vorbeischwimmen sah: „Der du andere
ertränkt hast, so bist du ertränkt worden ...“
Und bitte, erinnert Euch daran: die Rechnung wurde nicht „vom
Staat“, einer anonymen Institution, gezahlt, sondern von mir und
dem israelischen Leser dieser Zeilen, aus unsern Geldbeuteln.
An
den „Yesha-Rat“ ( Vertreter
der Siedler), Schalom –
Das war es nun. Der Bluff ist beendet. Die Seifenblase ist
geplatzt.
Seit Monaten habt Ihr uns in Schrecken versetzt, habt uns mit
Phantasiezahlen bombardiert: einhunderttausend Demonstranten,
einhundertfünfzigtausend. „Alles in allem haben wir zwei
Millionen Menschen mobilisiert“. Das würde heißen: fast 40% der
israelischen Juden.
Und Ihr drohtet uns: Das ist noch nichts. Im richtigen
Augenblick werden Hunderttausende nach Gush Katif marschieren.
Zehntausende Soldaten und Offiziere werden die Befehle
verweigern. Alle Straßen im Lande werden blockiert sein. Der
Staat wird zum Stillstand kommen. Das ganze Volk wird sich
erheben und den bösen Plan jenes Mannes zunichte machen – von
jenem einen, einzigen Mann – der Euch, die „Erlöser des Landes“,
aus dem Gazastreifen verjagen will.
Und was geschah dann? Der Himmel stürzte nicht in sich
zusammen. Nicht eine einzige Straße wurde blockiert. Nur eine
Handvoll Soldaten verweigerte die Befehle – viel weniger als die
Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen aus dem
Friedenslager. Und im Gegensatz zu ihnen – war keiner bereit,
für ein Jahr oder länger ins Gefängnis zu gehen.
Und was noch wichtiger ist: Ihr seid allein geblieben. Ganz
allein. Das wurde schon vom ersten Augenblick an deutlich, bei
Eurer großen Demonstration, bei der fast niemand teilnahm, der
nicht eine gehäkelte Kipa der National-Religiösen trug oder
eine größere Kipa der zur „Religion zurückgekehrten Juden . Kein
anderer Teil der Bevölkerung hat sich Euch angeschlossen: nicht
die Linken, nicht das Zentrum, nicht die Säkularen vom rechten
Flügel oder gar die Orthodoxen. All die arrogante Protzerei, die
wir morgens und abends hörten, platzte wie eine Seifenblase.
Nichts davon blieb – außer der „Mutter aller Fehlschläge“.
Doch statt voller Scham sich nun von der Bühne zurückzuziehen,
um in sich zu gehen und das Misslingen zu schlucken, verbleibt
Ihr auf dem Gipfel der Chuzpe und macht weiter, als wäre nichts
geschehen.
An
die Medien, Schalom –
Entschuldigen Sie mich, da ich Sie anrede, als wären Sie eine
einzige Person. Zwar bestehen Sie aus vielen Zeitungen,
Radiostationen und Fernsehnetzwerken, aber ich wende mich an Sie
im Singular, weil Sie während der letzten Wochen wie eine
einzige Person reagierten. Sie sprachen alle wie eine Person, in
ein und demselben Stil, in einer Terminologie. Und alle von
Ihnen – von wenigen abgesehen – haben Ihre Pflicht verraten.
Wochenlang haben Sie für die Siedlerpropaganda eine Plattform
bereit gestellt. Alle Zeitungen, alle Radiostationen. Alle
Fernsehnetzwerke. 24 Stunden am Tag. Sieben Tage in der Woche.
Jedes Murren, jeder Rülpser der Siedler wurde zur Schlagzeile,
ja eine Sensation. Die Stimme des Friedenslagers wurde kaum
gehört; die konsequentesten Gegner der Siedler wurden überhaupt
nicht wahrgenommen.
Sie haben uns eine Stunde nach der anderen in ein Meer von
Kitsch geworfen: Geschrei und Heulerei, angebliche Hysterie und
wirkliche Hysterie. Eine unendliche Reihe von Szenen, die
sorgfältig für das Fernsehen mit der bewussten Absicht
vorbereitet wurden, „dies in unser Bewusstsein zu brennen“ und
ein „Trauma zu schaffen“. Vom Dach der Sanur-Festung rief das
Knessetmitglied Aryeh Eldad nach „Käfigen“, um die tragische
Unterwerfung der Helden zu inszenieren, und kein einziger
Reporter zitierte das jiddische Sprichwort : „Ihr Meschiggener,
herub vum Dach!“ (Ihr Verrückten, runter vom Dach!). Anstelle
von Tatsachenberichten wurden wir mit emotionell beladenen
Worten überflutet, wie „herzzerreißende Anblicke“,
„schrecklicher Schmerz“, „wundervolle Jugend“. (Nur gelegentlich
schlüpfte eine wahre Szene mit ein: das mit seiner Mutter
betende Kind, dem klar wurde, dass die Evakuierung weiter ging,
rief voller Staunen aus: „Mama, es hat nicht geholfen!“)
Während all dies weiterging – wo waren denn die
Enthüllungsreporter? Warum wurde uns nichts über die wirkliche
Zahl der Demonstranten gesagt? Wer ist dieser „Yesha-Rat“? Wer
wählte ihn? Welchen rechtlichen Status hat er? Woher kommen die
Millionen, die von ihm bei dieser Kampagne verschwendet werden?
Warum hat keiner nachgeforscht, auf welchem Feld dieses wilde
Unkraut wächst? Was geschieht in dem autonomen
„religiös-staatlichen“ Erziehungssystem, das – auf unsere Kosten
– diese fanatischen Rowdys produziert ?
Und warum hat niemand die Farce dieser selbst deklarierten
Stalingrads und Massadas aufgedeckt, deren Helden genau wussten,
dass niemand Tränengas oder Schlagstöcke gegen sie einsetzen
würde und dass alle Verhafteten am nächsten Tag frei gelassen
werden?
An
den Ministerpräsidenten, Schalom –
Ich entschuldige mich. Ich hatte wirklich nicht geglaubt, dass
Sie die ganze Geschichte bis zum Ende durchziehen würden. Doch
Sie führten aus, was Sie versprochen hatten. Und es ist wirklich
nicht wichtig, warum. Ob Sie letzten Endes keine Alternative
hatten oder ob Sie von Ihrem eigenen Schwung mitgerissen oder
von den Amerikanern gezwungen wurden, dies zu tun. ...
Der wirkliche Test beginnt nämlich erst jetzt. Ihre Aktionen
während der nächsten Tage werden entscheiden, ob Sie einen
ehrenvollen Platz in der Geschichte gewonnen haben oder als ein
Tor in Erinnerung bleiben.
Ein anderer Ministerpräsident, der britische Staatsmann David
Lloyd-George, sprach, während er die Abtrennung von Irland zu
rechtfertigen versuchte, über die Unmöglichkeit, mit zwei
Sprüngen über einen Abgrund zu springen. Sie befinden sich jetzt
genau in dieser Situation. Sie haben mit ihrem Sprung begonnen.
Der Abgrund liegt unter Ihnen. Wenn Sie inne halten, werden Sie
hineinfallen.
Wenn Sie nicht schnell mit den Palästinensern zu einem
historischen Kompromiss kommen, werden Sie selbst die
Realisierung der von Binyamin Netanyahu gemachten Prophezeiung
erleben: eine 3.Intifada wird ausbrechen, und der Gazastreifen
wird zu einer Bühne für Mörsergranaten und Kassam-Raketen
werden.
Jetzt ist keine Zeit, um über die nächsten Wahlen nachzudenken,
sich über die Landaus und Netanyahus, über Likud A und Likud B
Sorgen zu machen. Jetzt ist die Zeit, den Blick zu heben und die
historische Gelegenheit in Angriff zu nehmen.
Das ist Ihr Test – und nur dieser wird entscheiden, ob der
Rückzug aus dem Gazastreifen nur noch eine unbedeutende Episode
oder ein historischer Akt gewesen ist.
Liebe
Beschwichtigungspolitiker –
Da sind Sie wieder, wie die sprichwörtlichen Pilze nach dem
Regen. Sie wollen beschwichtigen, versöhnen, die Kluft
überbrücken.
Da gibt es gar keine Kluft. Im Gegenteil – bei dieser
Angelegenheit war sich das Volk auf eine eindrucksvolle und
sogar erstaunliche Art und Weise einig.
Es gibt keine „Kluft“, sondern eine unvermeidliche
Konfrontation zwischen der großen Mehrheit der Öffentlichkeit
und einer kleinen separatistischen Sekte. Wenn ein Beweis nötig
ist: die Siedler selbst kommen und verlangen besondere
Örtlichkeiten in Israel mit besonderen Schulen – sogar vom
normal religiös-zionistischen Sektor abgetrennt.
Die israelische Öffentlichkeit wünscht fast einstimmig einen
Staat, der sich auf das Gesetz gründet, einen demokratischen
Staat, in dem die Mehrheit entscheidet und die Rechte der
Minderheit respektiert wird; einen normalen, freien und
rationalen Staat; einen Staat mit Grenzen und einer Verfassung;
einen Staat, der zur fortschrittlichen Menschheit gehört; einen
Staat, der alle Religionen achtet, sich aber keiner Religion
unterwirft.
Gegen diesen Staat hat sich eine fanatische Sekte erhoben, eine
Sekte, die einen anderen Staat errichten will: einen auf den
jüdischen Glauben gegründeten, nationalistischen und
rassistischen Staat, der vom göttlichen Gesetz regiert wird, so
wie ihre Rabbiner dieses interpretieren. Sie wollen einen Staat,
dessen Ziel es ist, das ganze Land Israel zu erobern, seine
„fremden“ ( d.h. die arabischen) Bewohner zu vertreiben und es
mit Siedlungen zu füllen.
Zwischen diesen beiden Konzepten kann es keinen Kompromiss
geben, auch keinen falschen; denn der vorgeschlagene Kompromiss
geht immer nur in eine Richtung, die Kapitulation des Staates
Israel. Das wäre der erste Schritt zur Liquidation der
israelischen Demokratie. Die ideologische Unklarheit ist ein
Nebelschleier, hinter dem Zerstörungskräfte wirken. Es wird das
genaue Gegenteil verlangt: ein helles, gnadenlos aufdeckendes
Licht, damit jeder in Israel verstehen wird, um was es bei
diesem Kampf geht.
Nicht Beschwichtigung, sondern Mobilisierung für die
Verteidigung unserer Demokratie ist nötig..
Lieber Professor Yeshayahu Leibowitz, Frieden sei Ihrer
Seele –
Sie sagten mir einmal: als die Anhänger des muslimischen
Predigers Muhammad ibn Abd-al Wahab Mekka eroberten, war die
Zerstörung des Grabes des Propheten Muhammad das erste, was sie
taten, damit die Gläubigen keine Steine anbeten sollten . Nun
wird behauptet, dass die Zerstörung der Synagogen von Gush Kativ,
die erst vor wenigen Jahren gebaut wurden, gegen irgend ein
göttliches Gesetz verstoße.
Mit Ihrer scharfen Zunge würden Sie, ein orthodoxer Jude, diese
Scharlatane vernichten,
so wie Sie einmal die Klagemauer eine „religiöse Diskothek“
genannt haben.
Wir vermissen Sie.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert )