Ein
Omelette in ein Ei zurückverwandeln
Uri Avnery, 24.11.07
ICH
WACHTE durch ein Geräusch aus tiefstem Schlaf auf. Draußen
war eine Bewegung, die
von
Minute zu Minute lauter wurde. Es war der Schrei einer
aufgeregten Menge. Es war wie ein Freudentaumel.
Ich
steckte meine Nase zur Tür meines Hotelzimmers in Haifa
hinaus. Mir wurde von begeisterten Leuten erzählt, die
UN-Vollversammlung habe gerade die Teilung des Landes
beschlossen.
Ich
kehrte in mein Zimmer zurück und schloss die Tür hinter mir.
Mir war nicht nach Feiern zumute.
Es
war der 29. November 1947 – ein Tag, der unser Leben für
immer veränderte.
WIE
KONNTE ich mich in diesem historischen Augenblick nur so
einsam, entfremdet und vor allem traurig fühlen?
Ich
war traurig, weil ich das ganze Land liebe – Nablus und
Hebron nicht weniger als Tel Aviv und Rosh-Pina.
Ich
war traurig, weil ich wusste, dass es viel, viel
Blutvergießen geben wird.
Aber
es war hauptsächlich eine Frage meiner politischen
Einstellung.
Ich
war 24 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor hatte ich mit einer
Gruppe von Freunden eine politisch-ideologische Gruppe
gegründet, die im Yishuv (die hebräische Bevölkerung
Palästinas) ungeheuren Ärger verursachte. Unsere Ideen, die
sehr starke Reaktionen provozierten, wurden als gefährliche
Ketzerei betrachtet.
Der
„Junge Palästina-Kreis“ („Erez-Yisrael- Hatz’ira“ auf
hebräisch) veröffentlichte von Zeit zu Zeit ein Magazin,
das „ba-Ma’avak“ („Im Kampf“) genannt wurde, und der
deshalb allgemein als die „ba-Ma’avak-Gruppe“ bekannt wurde,
die eine revolutionäre neue Ideologie vertrat, deren
Hauptpunkte folgende waren:
-
Wir, die junge in diesem
Land aufgewachsene Generation sind eine neue Nation.
-
Nach unserer Sprache und
Kultur sollten wir die „Hebräische Nation“ genannt werden.
-
Der Zionismus hat diese
Nation ins Leben gerufen und damit hat er seine Mission
erfüllt.
-
Ab jetzt hat der Zionismus
keine weitere Rolle zu spielen. Er ist ein Hindernis für die
freie Entwicklung der neuen Nation und sollte deshalb
demontiert werden wie das Gerüst nach dem Bau eines Hauses.
-
Die neue Hebräische Nation
ist tatsächlich ein Teil des jüdischen Volkes – wie die neue
australische Nation z.B. ein Teil des angel-sächsischen
Volkes ist, aber eine eigene Identität, seine eigenen
Interessen und eine neue Kultur hat.
-
Die Hebräische Nation
gehört zum Land und ist ein natürlicher Verbündeter der
arabischen Nationalbewegung. Beide Nationalbewegungen
wurzeln in diesem Land und seiner Geschichte - von der
antiken semitischen Zivilisation bis zur Gegenwart.
-
Die neue Hebräische Nation
gehört nicht zu Europa und dem „Westen“, sondern zum
erwachenden Asien und zum semitischen Raum – einem Terminus,
den wir erfanden, um uns selbst von dem
europäisch-kolonialen Terminus „Naher Osten“ zu
distanzieren.
-
Die neue Hebräische Nation
muss sich selbst als voller und gleicher Partner in der
Region integrieren. Zusammen mit all den Nationen des
semitischen Raumes kämpft sie für die Befreiung der Region
von den Kolonialmächten.
MIT
DIESER Weltanschauung lehnten wir natürlich die Teilung des
Landes ab.
Zwei
Monate vor der UN-Teilungsresolution – Ende September 1947 –
veröffentlichte ich eine Broschüre „Krieg oder Frieden im
semitischen Raum“, in dem ich einen völlig anderen Plan
vorschlug: die hebräische Nationalbewegung und die
palästinensisch-arabische Nationalbewegung sollten sich zu
einer einzigen Nationalbewegung verbinden und einen
gemeinsamen Staat errichten, der sich auf die Liebe zum Land
– auf Patriotismus, im wahrsten Sinne des Wortes - gründet.
Dies
war weit entfernt von der „bi-nationalen“ Idee, die in
jenen Tagen ihre Anhänger hatte. Ich hatte nie daran
gedacht. Zwei verschiedene Nationen, von denen jede ihre
eigene nationale Vision hat, können nicht in einem Staat
zusammenleben. Unsere Vision gründete sich auf der Schaffung
einer neuen, vereinigten Nation mit einer hebräischen und
arabischen Komponente.
Wir
übersetzten eilig das Wesentliche der Broschüre ins
Englische und Arabische und ich verteilte es an
Redaktionen arabischer Zeitungen in Jaffa. Es war nicht
mehr die Stadt, die ich von früher kannte, als mich meine
Arbeit (als Angestellter eines Rechtsanwaltsbüros) häufig
dort in Regierungsbüros brachte. Die Atmosphäre war dunkel
und unheimlich.
ALS
DIE erwartete UN-Resolution näher kam, entschieden wir uns,
eine Sonderausgabe von ba-Ma’avak herauszugeben, die sich
voll und ganz einer Gegenposition widmete. Ein Student der
Haifaer Technischen Universität war bereit, die Titelseite
zu gestalten – das war der Grund, warum ich mich in diesem
schicksalhaften Moment in einem kleinen Haifaer Hotel
aufhielt.
Ich
konnte nicht wieder einschlafen. Ich stand auf und schrieb
während dieser aufregenden Augenblicke ein Gedicht, das dann
in dieser Sonderausgabe veröffentlicht wurde. Der erste Vers
lautete wie folgt:
„Ich
schwör dir, Mutterland / an diesem bitteren Tag deiner
Demütigung/ du wirst dich aus dem Staub erheben/ groß und
vereinigt./ Die grausame Wunde/ wird in die Herzen deiner
Söhne brennen / bis deine Flaggen,/ vom Meer bis zur
Wüste flattern werden.“
Einer aus unserer Gruppe komponierte eine Melodie dazu, und
wir sangen das Lied in den folgenden Tagen, während wir
Abschied von unseren Träumen nahmen.
IN
DEM Augenblick, als die Resolution angenommen worden war,
war es klar, dass sich unsere Welt total verändert hat,
dass eine Ära zu Ende gegangen war, und eine neue Epoche
begonnen hatte – nicht nur im Leben des Landes, sondern auch
im Leben jedes einzelnen von uns.
Wir
eilten, große Poster an Wände zu kleben, die vor einem
„semitischen Bruderkrieg“ warnten – doch der Krieg hatte
schon begonnen. Nachdem die ersten Kugeln abgefeuert waren,
war die Chance, ein einziges vereinigtes Land zu schaffen,
zerbrochen.
Ich
bin stolz auf meine Fähigkeit, schnell extreme Veränderungen
anzunehmen. Ich hatte es zum ersten Mal tun müssen, als
Adolf Hitler in Deutschland gerade zur Macht gekommen war.
Mein Leben veränderte sich abrupt und vollkommen. Ich war
damals neun Jahre alt, und alles, was vorher geschehen war,
existierte für mich nicht mehr. In Palästina begann ein
neues Leben. Am 29. November 1947 geschah mir dies noch
einmal – mir und uns allen.
Nach
einem wohlbekannten Sprichwort kann man wohl aus Eiern
ein Omelette machen, aber aus einem Omelette keine Eier.
Das ist vielleicht eine banale Feststellung – sie ist aber
sehr war.
In
dem Augenblick, in dem der hebräisch-arabische Krieg begann,
war die Möglichkeit, dass zwei Völker zusammenleben könnten,
erloschen. Kriege schaffen neue Realitäten.
Ich
schloss mich den „Hagana-Bataillonen“ an, dem Vorläufer der
IDF. Als Soldat einer Sonderkommandoeinheit, die später
„Samsons Füchse“ genannt wurde, sah ich den Krieg, wie er
wirklich ist: bitter, grausam, unmenschlich. Zunächst
standen wir palästinensischen Kämpfern gegenüber, später
Kämpfern aus der arabischen Welt. Ich sah Dutzende
arabischer Dörfer, viele während des Schlachtensturms
verlassen, viele andere, aus denen die Einwohner nach der
Eroberung vertrieben wurden.
Es
war ein ethnischer Krieg. In den ersten Monaten wurde kein
Araber hinter unseren Linien gelassen; keine Juden wurden
hinter der arabischen Linie gelassen. Beide Seiten begingen
Grausamkeiten. Am Anfang des Krieges sahen wir Bilder von
Köpfen unserer Kameraden, die auf Pfählen in der Altstadt
Jerusalems herumgetragen wurden. Wir sahen das Massaker,
das die Irgun und Sterngruppe in Deir Yassin begangen hatte.
Wir wussten, wenn wir gefangen genommen werden, werden wir
umgebracht, und die arabischen Kämpfer konnten dasselbe
Schicksal erwarten.
Je
länger sich der Krieg hinzog, um so überzeugter wurde ich
von der Realität eines palästinensischen Volkes, mit dem
wir nach Kriegsende werden Frieden schließen müssen, und
dass der Frieden sich auf Partnerschaft der beiden Völker
gründen müsse.
Während der Krieg weiter ging, drückte ich diese meine
Ansichten in einer Reihe Artikel aus, die damals in Haaretz
veröffentlicht wurden. Unmittelbar nachdem die Kämpfe
beendet waren, und ich - noch in Uniform - mich von meinen
Verletzungen erholte, begann ich, mich mit zwei jungen
Arabern zu treffen (die später beide in die Knesset
gewählt wurden), um einen Weg für diesen Plan vorzubereiten.
Ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass auch noch
60 Jahre später die Bemühungen darum weitergehen.
IN
UNSERN Tagen kommt hier und dort die Idee wieder auf, das
Omelette in Eier zurück zu verwandeln, den Staat Israel und
den werdenden Staat Palästina aufzulösen und einen einzigen
Staat zu errichten – so wie wir damals sangen: „vom Meer bis
zur Wüste“.
Das
wird als neue Idee präsentiert, ist aber tatsächlich ein
Versuch, die Räder der Geschichte zurückzudrehen und eine
Idee zum Leben neu zu erwecken, die unwiderruflich überholt
ist. In der menschlichen Geschichte geschieht dies nicht.
Was in Blut und Feuer während Kriegen und Intifadas
geschmiedet wurde – der Staat Israel und die
palästinensische Nationalbewegung – wird nicht einfach
verschwinden. Nach einem Krieg können Staaten Frieden
schließen und zu einer Partnerschaft gelangen wie
Deutschland und Frankreich, aber sie können nicht zu einem
Staat verschmelzen.
Ich
bin kein nostalgischer Typ. Ich schaue auf die Ideen meiner
Jugend zurück und versuche zu analysieren, welche überholt
sind und was von ihnen geblieben ist.
Die
Ideen der ba-Ma’avak-Gruppe waren tatsächlich revolutionär
und kühn - aber hätten sie wirklich in die Praxis
umgesetzt werden können? Bei der Rückschau wird mir klar,
dass die Idee des „gemeinsamen Staates“ schon unrealistisch
war, als wir sie präsentierten. Vielleicht wäre es ein oder
zwei Generationen früher möglich gewesen. Aber in der Mitte
der 40er-Jahre hatten sich die beiden Völker sehr
verändert. Es war nur noch die Teilung des Landes möglich.
Ich
bin davon überzeugt, dass wir mit unserer historischen
Einstellung Recht hatten: dass wir uns (a) mit der Region,
in der wir leben, identifizieren müssen, (b) mit der
arabischen Nationalbewegung kooperieren und (c) in eine
Partnerschaft mit dem palästinensischen Volk treten müssen.
So lange wir uns als Teil Europas und/ oder der USA sehen,
sind wir nicht fähig, Frieden zu schließen. Erst recht
nicht, wenn wir uns als Soldaten in einem „Kreuzzug“ gegen
die islamische Zivilisation und die arabischen Völker
betrachten .
Wir
sagten schon damals vor der Teilungsresolution: das
palästinensische Volk existiert.
Sogar nach 60 Jahren, während denen dieses Volk Katastrophen
wie wenig andere Völker jemals durchlitten, hängt das
palästinensische Volk noch immer mit beispielloser Ausdauer
an seinem Land. Der Traum des Zusammenlebens in einem Staat
ist zwar ausgeträumt und wird nicht wieder zum Leben
erwachen. Aber ich hege keine Zweifel, dass wenn ein
palästinensischer Staat entstanden sein wird, beide Staaten
Wege finden werden, um zusammen in enger Partnerschaft zu
leben. Die Mauern werden nieder- und Zäune abgerissen
werden, die Grenze wird geöffnet und die Realität des
gemeinsamen Landes wird alle Hindernisse überwinden. Die
Flaggen des Landes – die beiden Flaggen der beiden Staaten –
werden tatsächlich nebeneinander flattern.
Die
UN-Resolution vom 29. November 1947 war eine der
intelligentesten in den Annalen der Organisation. Als einer,
der sie damals energisch ablehnte, erkenne ich heute ihre
Weisheit.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert )
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