Mit Hamas reden
!
Uri Avnery, 28.1.06
Wie zwei sehr müde Ringkämpfer, die einander umklammert halten und nicht in
der Lage sind, sich von einander zu trennen, so kleben die
israelische und palästinensische Gesellschaft an einander.
Die
palästinensischen Wahlen in dieser Woche finden im Schatten der
israelischen Wahlen statt. Wer ist Ehud Olmert? Hat sich die
Labor-Partei wirklich verändert? Wird die nächste israelische
Regierung wirklich zum Verhandeln bereit sein? Welche Führung kann
uns besser von der Besatzung befreien?
Die israelischen
Wahlen – in genau 2 Monaten – werden im Schatten der
palästinensischen Wahlen stattfinden. Was kann man nach dem Sieg der
Hamas tun? Sollen wir bereit sein, mit einer palästinensischen
Regierung zu verhandeln, die – Gott bewahre! – einen Hamas-Minister
hat?
Palästinenser
wissen eine Menge über die israelische Demokratie. Aber für Israelis
ist eine palästinensische Demokratie eine unbekannte Größe.
Natürlich beweisen Wahlen an sich noch nicht, dass das System wirklich
demokratisch ist. Es gibt alle möglichen Arten von Wahlen.
So gab es z.B.
Wahlen in der Sowjetunion. Einem Wähler, der ein Wahllokal betrat,
wurde ein geschlossenes Kuvert gegeben. Ihm wurde gesagt, er solle
dies in die Wahlurne stecken. „Warum? Darf ich nicht wissen, wen ich
wähle?“ fragte er. „Natürlich nicht,“ erwiderte der Funktionär
empört, „in der Sowjet Union haben wir geheime Wahlen!“
Das Gegenteil
davon spielte sich in einem ägyptischen Dorf ab, das ich vor Jahren
an einem Wahltag besuchte. Der Ort war in einer fröhlichen
Karnevalsstimmung. Im Wahllokal war alles offen. Was sollte denn
auch versteckt werden? Freundliche Polizisten halfen alten Frauen,
den richtigen Zettel – für Mubarak – in die Urne zu stecken. Es gab
keinen anderen Kandidaten.
Aber keiner, der
in den letzten Wochen die Westbank besuchte, konnte einen Moment
daran zweifeln, dass sich hier die erste hausgemachte arabische
Demokratie entwickelt – die erste wirkliche Demokratie in der
arabischen Welt. Es gab zwar ein paar Anzeichen von Anarchie: hier
und dort bedrohten bewaffnete Gruppen einander. Aber das waren von
den Medien stark übertriebene Randerscheinungen. Der Wahlkampf war
real, die Parteien waren real, Politiker kämpften um Macht und
Einfluss. Jede glatte Fläche in den Dörfern und Städten war mit
bunten Wahlplakaten beklebt. Ohrenbetäubende Lautsprecher plärrten
Slogans und Lieder. Und besonders wichtig: die Wähler waren mit
einer echten Wahl zwischen alternativen und klaren Wahlprogramme
konfrontiert – etwas, was bei israelischen Wahlen keinesfalls sicher
ist.
Es ist nicht
einfach, Wahlen unter Besatzung abzuhalten, wenn der Besatzer offen
gegen eine der großen Parteien kämpft, Kandidaten verhaftet oder
sogar tötet, bedeutende Führer im Gefängnis festhält und überall
Sperren errichtet. Und wie erwartet, wenn eine dumme Militärmaschine
sich in politische Angelegenheiten einmischt, sind die Ergebnisse
genau das Gegenteil von den beabsichtigten: die Erklärungen und
Aktionen der israelischen Regierung gegen die Hamas haben ihr nur
geholfen.
Ich sprach mit
einem der Fatahführer über die Aktionen der israelischen Regierung
gegen Hamas im besetzten Ost-Jerusalem, wo Wahlveranstaltungen
verboten, Kandidaten verhaftet und Wahlplakate abgerissen wurden.
Der Mann lachte: „Was denken Sie? Dass Hamasanhänger
Wahlveranstaltungen und Wahlposter braucht, um zu wissen, wen man
wählen soll? All dies erhöht ja nur die Anziehungskraft der Hamas.“
Die Ergebnisse zeigen, dass er recht hatte.
Wie kommt es, dass diese Palästinenser so nach einem demokratischen Leben
verlangen?
In dieser Sache
besteht ein großer Unterschied zwischen den Generationen – ein
Unterschied, der einer der offensichtlichsten Phänomene in der
palästinensischen Gesellschaft ist.
Die alte
Generation und besonders die Führer, die nach dem Oslo-Abkommen mit
Arafat aus Tunis zurückgekommen waren, haben nie in einer
demokratischen Gesellschaft gelebt. Arafat selbst hat sein Leben in
verschiedenen arabischen Diktaturen verbracht: in Ägypten, Kuwait,
Jordanien, Tunis, Libanon, wo jede Person in der einen oder anderen
autoritären, sektiererischen Fraktion politisch sogar gefangen ist,
sicher weit davon entfernt, eine wirkliche Demokratie zu sein.
(Arafat hörte immer aufmerksam zu, wenn ich mich über die
Möglichkeit ausließ, die offizielle Israelpolitik durch die
Veränderung der öffentlichen Meinung zu verändern. Aber ich hatte
nicht den Eindruck, er nehme mir das ab.) Das Modell, an das die
älteren Leute denken, ist eine sehr begrenzte „Demokratie“ im
jordanischen Stil.
Die mittlere
Generation hat völlig andere Ideen. Zehntausende von ihnen sind
längere Zeiten in Israels Gefängnissen gewesen. Dort lernten sie
Hebräisch, hörten Radio Israel und schauten israelisches Fernsehen.
Sie haben gesehen, wie israelische Demokratie funktioniert.
Das wäre ein
Modell, das sie gerne adoptieren würden (Mein Freund Sirhan Salameh,
nun der Bürgermeister von A-Ram, der 12 Jahre im Gefängnis
verbrachte, erzählte mir: „Woran wir den größten Spaß hatten, waren
die Szenen in der Knesset, wo jeder den Ministerpräsidenten
anschreien
konnte. Wir verglichen dies mit der Situation in arabischen
Parlamenten. Wir entschieden uns, dass wir uns solch ein Parlament
wünschten.“
Es muss ganz
klar gesagt werden: diese Wahlen sind eine große Errungenschaft für
die palästinensische Gesellschaft, einen Ehrentitel für ein Volk,
das unter der Besatzung leidet, dessen unabhängiger Staat noch ein
Traum ist. Jeder sollte vor ihr den Hut ziehen!
In Israel waren in dieser Woche die palästinensischen Wahlen im Zentrum der
politischen Aufmerksamkeit. Ehud Olmert, der seine Stellung als
stellvertretender Ministerpräsident ausbauen möchte, um sich selbst
als Führer für Sicherheit darzustellen, berief eine Konferenz des
üblichen Haufens von Generälen und Shin Bet-Typen ein, die auf eine
Situation immer nur durch die Zielvorrichtung ihrer Waffe schauen
und durch ihren üblichen Mangel an politischer Weitsicht glänzen.
Was sollte man tun, wenn ... Wie sich verhalten, wenn ...
Was kam dabei
heraus? Israel wird nicht mit einer palästinensischen Regierung
verhandeln, wenn sie Hamas einschließt. „Man kann von uns nicht
verlangen, mit einer Gruppe zu verhandeln, die nach der Zerstörung
Israels zielt“ etc. etc.
Das ist Unsinn
mit Tomatensoße, wie man auf hebräisch sagt. Oder in diesem Fall
Unsinn mit Blut.
Israel muss mit
jeder palästinensischen Führung verhandeln, die vom
palästinensischen Volk gewählt wurde. Wie bei jedem anderen Konflikt
in der Geschichte wählt man nicht die Führung des Gegners - einmal
weil der Gegner nicht damit einverstanden wäre und – sodann, genau
so wichtig - ein Abkommen mit solch einer Führung nicht halten
würde.
Je umfassender
die Führung ist, um so besser. Wenn ein Abkommen erreicht wird, ist
es entscheidend wichtig, dass alle Sektionen der palästinensischen
Bevölkerung daran gebunden sind. Und wesentlich ist es, gerade die
extremsten Faktionen mit einzuschließen. Hätte sich Hamas nicht
dafür entschieden, an den Wahlen teilzunehmen, dann hätte es dazu
gezwungen werden müssen.
Eine Gruppe, die
bereit ist, mit Israel zu verhandeln, erkennt allein dadurch den
Staat Israel an. Und wenn sie nicht bereit ist zu verhandeln, taucht
dieses Problem gar nicht erst auf. Das ist logisch. Aber Generäle
und Politiker sind keine Professoren der Logik - was wissen sie
schon über Verhandlungen und Abkommen?
Auf der
palästinensischen Seite: allein die Tatsache, dass Hamas an den
Wahlen teilnimmt, die ihre Grundlage im Oslo-Abkommen haben,
beweist, dass das palästinensische politische System sich in
Richtung Frieden bewegt. Obwohl der Hamas-Sieg wie ein Rückschlag
für den Frieden aussieht, kann das wirkliche Ergebnis ganz anders
aussehen. Es kann die extreme Bewegung moderater machen und
absichern, dass jedes Abkommen stabiler und dauerhafter sein wird.
Auf der
israelischen Seite: die Spaltung des Likud, die Schaffung von Kadima,
und der Führungswechsel in der Laborpartei zeigen, dass sich das
israelische politische System in dieselbe Richtung bewegt. Die
Bewegung - ob groß oder klein – die Richtung ist eindeutig.
Nachdem beide
Völker ihre neue Regierung aufgestellt haben, werden sie mit
einander reden müssen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
Nach den Wahlen: die
Zeitungsanzeige von Gush Shalom in Haaretz am 27.1.06
Und jetzt - auch
mit Hamas!
Mit der ins
palästinensische Parlament und vielleicht auch in die Regierung
einziehenden Hamas gibt es eine historische Gelegenheit, diese
Bewegung , ihre Führer, Mitglieder, Sympathisanten und Wähler in den
Friedensprozess einzubinden.
Jedes so
erreichte Friedensabkommen wird so stärker und dauerhafter.
Jede
palästinensische Gruppe, die mit der Regierung von Israel redet,
erkennt auf
diese Weise den Staat Israel praktisch an.
In der
Vergangenheit galt dies für die PLO. In derselben Weise gilt dies
jetzt für die Hamas
(dt. er)
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