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Meuterei auf der Titanic
Uri Avnery, 1. Oktober 2011
HIER IST eine Geschichte, die niemals vorher
erzählt wurde.
Als die Titanic auf ihrem Weg über den Atlantik
war, meuterte ihre Mannschaft.
Sie verlangte höhere Löhne, weniger beengte
Unterkünfte, bessere Ernährung. Sie versammelte sich auf dem unteren
Deck und weigerte sich, von dort wegzugehen.
Ein paar alte Mannschaftsmitglieder aus dem
Maschinenraum schlugen vor, den Protest in seinem Kern zu erweitern.
Sie behaupteten, der Kapitän sei äußerst inkompetent, die Offiziere
seien Trottel und dass die Reise in einer Katastrophe enden würde.
Aber die Führer des Protestes wiesen sie zurück.
„Gehen wir nicht über unsere praktischen Forderungen hinaus,“ sagten
sie, „der Kurs des Schiffes ist nicht unser Problem. Was auch immer
einige von uns über den Kapitän und die Offiziere auf der Brücke
denken mögen, wir sollten die Dinge nicht miteinander vermischen.
Das würde den Protest nur aufsplittern.“
Die Passagiere mischten sich nicht ein. Viele
sympathisierten mit dem Protest, wollten aber nicht darin verwickelt
werden.
Es wird gesagt, dass eine betrunkene englische
Lady mit einem Glas Whisky in der Hand an Deck stand, als sie einen
riesigen Eisberg sich drohend nähern sah. „Ich hatte um etwas Eis
gebeten,“ murmelte sie,“ aber dies ist lächerlich!“
SEIT ETWA einer Woche waren alle israelischen
Medien auf die Vorgänge der UN gerichtet.
Ehud Barak hatte vor einem „Tsunami“ gewarnt.
Avigdor Lieberman sah ein „Blutbad“ voraus. Die Armee war auf
riesige Demonstrationen vorbereitet, die sicher in nie gesehener
Gewalt enden würden. Keiner konnte an irgendetwas anderes denken.
Und dann verschwand über Nacht der blutige
Tsunami wie eine Fata Morgana, und der soziale Protest kam wieder
zurück. Raus aus dem Kriegszustand, rein in den Wohlfahrtsstaat.
Warum? Die von Binjamin Netanjahu ernannte
Kommission, die die Wurzeln des Protestes untersuchen und Reformen
vorschlagen sollte, hat ihre Arbeit in Rekordzeit beendet und legte
einen dicken Band von Vorschlägen auf den Tisch. Alle waren sehr
gut. Kostenlose Erziehung ab dem 3.Lebensjahr, höhere Steuern für
die sehr Reichen, mehr Geld für Häuser usw.
Alles sehr schön, aber bei weitem nicht das, was
die Demonstranten gefordert hatten. Fast eine halbe Million
Demonstranten ging vor Wochen nicht deshalb auf die Straße.
Professoren der Ökonomie griffen die Vorschläge an, andere
Professoren der Ökonomie verteidigten sie. Eine lebhafte Debatte
folgte.
Dies geht ein paar Tage so. Aber dann muss etwas
passieren – vielleicht ein Grenzzwischen- fall oder ein Pogrom in
einem palästinensischen Dorf durch Siedler oder eine
pro-palästinensische Resolution in der UNO – und die ganze
Medienmeute schwenkt um, vergisst die Reformen und wendet sich den
guten alten Schrecken zu..
In der Zwischenzeit dient das Militärbudget als
Zankapfel. Die Regierungskommission hat vorgeschlagen, das Budget um
drei Milliarden zu kürzen – weniger als eine Milliarde Dollar – um
die bescheidenen Reformen zu finanzieren. Netanjahu hat seine
Zustimmung gegeben.
Keiner nimmt dies sehr ernst. Der kleinste
Vorfall wird die Armee in die Lage versetzen, ein Sonderbudget zu
fordern, und anstelle von abgesprochenen winzigen Abzügen wird es
noch einen großen Zuschuss geben.
Aber die Armee hat schon – buchstäblich - ein
Höllenspektakel gemacht und die Katastrophe beschrieben, die über
uns kommen wird, wenn die teuflische Kürzung nicht in seinen
Anfängen erstickt wird. Wir werden im nächsten Krieg eine
Niederlage erleben, viele Soldaten werden getötet werden, das
zukünftige Untersuchungskomitee wird die jetzigen Minister anklagen.
Sie kriegen schon jetzt das große Zittern.
ALL DIES zeigt, wie leicht nationale
Aufmerksamkeit vom „Protest-Modus“ zum „Sicherheits-Modus“ umkippen
kann. An einem Tag heben wir auf der Straße die Fäuste, am nächsten
besetzen wir die nationalen Wälle, entschlossen, unser Leben teuer
zu verkaufen.
Dies kann zu der Schlussfolgerung führen, dass
die beiden Probleme in Wirklichkeit ein Problem sind und zusammen
gelöst werden müssen. Aber diese Schlussfolgerung trifft auf
entschiedenen Widerstand.
Die jungen Führer und Führerinnen des Protestes
bestehen darauf, dass die Forderung nach Reformen alle Israelis
vereint – Männer und Frauen, Junge und Alte, Linke und Rechte,
Religiöse und Säkulare, Juden und Araber, Aschkenasi und Orientalen.
Darin liegt ihre Macht. In dem Augenblick, wo Fragen der nationalen
Politik hochkommen, wird die Bewegung auseinander brechen. Ende des
Protestes.
Mit dem ist es schwierig, zu argumentieren.
Das stimmt. Die Rechten klagen die
Protestierenden sowieso an, sie seien verkappte Linke. Sehr wenig
Nationalreligiöse erscheinen auf den Demonstrationen und überhaupt
keine Orthodoxen. Orientalische Juden – traditionelle Wähler des
Likud sind unterrepräsentiert, wenn auch nicht völlig abwesend. Man
spricht von einer Bewegung des „weißen Stammes“ – Juden aus Europa.
Noch ist es der Bewegung gelungen, eine offene
Trennung zu vermeiden. Die Hunderttausende Demonstranten waren nicht
dazu aufgerufen, sich mit einer besonderen Partei oder einem
besonderen Glauben zu identifizieren. Die Führer können zurecht
behaupten, dass ihre Taktik – falls es eine Taktik ist - bis jetzt
Erfolg hatte.
DIESE ÜBERZEUGUNG ist durch Vorfälle vor kurzem
in der Laborpartei bestätigt worden.
Diese schon halbtote Partei – in den Umfragen
nur noch 7% der Wähler – ist plötzlich zu neuem Leben erwacht. Eine
lebhafte Vorwahl der Parteiführung hat etwas Farbe auf ihre Wangen
zurückgebracht. Bei einem Überraschungssieg ist Shelly Yacimovich
als Parteivorsitzende gewählt worden.
Shelly ( Ich mag diese langen fremden Nachnamen
nicht) war in der Vergangenheit eine scharfzüngige
Radio-Journalistin mit ausgesprochen feministischen und
sozialdemokratischen Ansichten. Vor sechs Jahren trat sie in die
Labourpartei ein und wurde unter Amir Peretz, dem damaligen
Parteiführer, in die Knesset gewählt, den sie nun vernichtend
geschlagen hat.
In der Knesset hat sich Shelly als eine fleißige
und unnachgiebige, kämpferische Aktivistin, was soziale Probleme
betrifft, ausgezeichnet. Sie ist eine jung aussehende 51erin, eine
Einzelgängerin, bei ihren Kollegen nicht beliebt, ohne Charisma,
eine Solistin. Doch die einfachen Parteimitglieder zogen sie den
Mitgliedern der korrupten alten Garde vor, vielleicht aus purer
Verzweiflung. Die Atmosphäre im Land - durch die soziale
Protestbewegung hervorgerufen - hat sicher zu ihrem Erfolg
beigetragen.
In all den Jahren, in denen sie Mitglied in der
Knesset war, hat sie keine der nationalen Probleme erwähnt – Krieg
und Frieden, Besatzung, Siedlungen. Sie hat sich ausschließlich auf
soziale Probleme konzentriert. Am Abend der Vorwahlen, schockierte
sie viele Mitglieder ihrer Partei, indem sie öffentlich die Siedler
rhetorisch umarmte. „Die Siedlungen sind weder eine Sünde noch ein
Verbrechen,“ behauptete sie, „sie wurden von den
Labourpartei-Regierungen dorthin gesetzt und sind ein Teil des
nationalen Konsenses“.
Shelly mag dies wirklich glauben oder dies als
gute Taktik ansehen – Tatsache ist, dass sie dieselbe Linie annahm
wie die Protestbewegung: die sozialen Probleme sollten von
nationalen Angelegenheiten getrennt werden. Es scheint, als könne
man Rechter sein, was die Besatzung betrifft, und Linker, wenn es um
die Steuer der Reichen geht.
ABER IST DAS MÖGLICH?
Am Morgen der Labour-Vorwahlen geschah etwas
Erstaunliches. In einer geachteten Meinungsumfrage kam die
Labourpartei von 8 auf 22 Knessetsitze und überholte Zipi Livnis
Kadima, die von 28 Sitzen auf 18 sank.
Eine Revolution? Nicht ganz. All die neuen
Labourstimmen kamen von Kadima. Aber ein Schritt von Kadima zur
Labour, an sich interessant, ist nicht bedeutsam. Die Knesset ist in
zwei Blöcke gespalten – einen national-religiösen und den
Mitte-Links-Arabischen. So lange wie der rechte Block einen 5% Rand
hat, wird es keine Veränderung geben. Um eine Veränderung zu
bewirken, müssen genügend Wähler von der einen Schale der Waage auf
die andere springen.
Shelly glaubt, wenn man nationale Probleme außer
Acht lässt und sich auf soziale Fragen konzentriert, können die
Wähler dahin gebracht werden, den Sprung zu machen. Einige sagen:
das ist es, was zählt. Welchen Nutzen hat es, ein Friedensprogramm
vorzulegen, wenn man die Regierung nicht ändern kann? Lasst uns erst
mal an die Macht kommen - egal durch welche Mittel - und dann in
Richtung Frieden sehen.
Gegen dieses logische Argument gibt es die
entgegengesetzte Behauptung: wenn man anfängt, die Siedler
anzunehmen und die Besatzung ignoriert, wird man als kleiner
unbedeutender Partner in einer rechten Regierung enden, wie es
vorher schon geschehen ist. Frage Shimon Peres! Frage Ehud Barak!
Und dann gibt es die moralische Frage: kann man
wirklich singen „das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“ und die
tägliche Unterdrückung der vier Millionen Palästinenser in den
besetzten Gebieten ignorieren? Wenn man seine Prinzipien auf dem Weg
zur Macht verlässt - was wird man dann mit jener Macht tun?
DIE JÜDISCHEN hohen Feiertage, die vorgestern
begonnen haben, schenken eine Pause zum Nachdenken. Politik bleibt
stehen. Die Protestführer versprechen, in einem Monat eine weitere
riesige Demonstration abzuhalten, die sich auf soziale Forderungen
beschränkt.
In der Zwischenzeit schwimmt die Titanic, dieses
wunderschöne Meisterwerk der See-Architektur weiter durch die
Meereswogen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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