Krieg ist eine
Geisteshaltung
Uri Avnery
Vortrag in Berlin am 20.10.05
Fachtagung über „Gewaltfreie Kindererziehung
Vor ein paar
Jahren sprach ich mit einer jungen israelischen Autorin. Ich war
erstaunt, dass von ihr trotz ihres Erfolges und des Lobes ihrer
Rezensenten - und das in relativ jungem Alter - solche
Unsicherheit ausging.
Als ich sie
direkter befragte, brach sie zusammen. „Das habe ich noch nie
jemandem erzählt. Meine ganze Kindheit war eine Hölle. Ich wusste
nicht, dass meine beiden Eltern in Auschwitz gewesen waren. Sie
sprachen nie davon. Ich wusste nur, in unsrer Familie gibt es ein
schreckliches Geheimnis - es war so schrecklich, dass es mir
verboten war, sogar danach zu fragen. Ich lebte in ständiger Angst,
unter ständiger Drohung. Ich hatte nie ein Gefühl der Sicherheit."
Das ist Gewalt
– keine physische Gewalt, aber trotzdem Gewalt. Viele israelische
Kinder haben diese Erfahrung gemacht, auch als der Staat Israel
immer mächtiger geworden war und Sicherheit – großgeschrieben ! -
schließlich zu einem Fetisch geworden ist.
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Wir Israelis und Palästinenser leben in einem
Dauerzustand von Krieg. Er hat nun mehr als 120 Jahre gedauert. Eine
fünfte Generation von Israelis und Palästinensern ist in diesen
Krieg hineingeboren worden, wie ihre Eltern und Lehrer. Ihre ganze
psychische Einstellung ist vom Krieg von frühester Kindheit an
beeinflusst worden. Jeder Tag ihres Lebens wird von den täglichen
Nachrichten von Gewalt beherrscht.
In vielen
Hinsichten ist der israelische Konflikt einzigartig. Um einen
komplizierten historischen Prozess in vereinfachter Weise
darzustellen, war er etwa folgendermaßen:
Am Ende des 19.
Jahrhunderts wurde vielen europäischen Juden klar, dass der
wachsende Nationalismus aller Völker fast immer von einem bösartigen
Antisemitismus begleitet war und auf eine Katastrophe hinführte. Sie
entschieden, selbst eine Nation zu werden und einen Staat für Juden
zu gründen. Sie wählten Palästina, die alte Heimat ihres Volkes, um
dort ihren Traum zu verwirklichen. Der Slogan hieß: „Ein Land ohne
Volk für ein Volk ohne Land.“
Aber Palästina
war nicht leer. Das Volk, das dort lebte, war natürlich dagegen,
dass ein anderes Volk von irgend woher kam und Ansprüche auf sein
Land erhob.
Der Historiker
Isaak Deutscher beschrieb den Konflikt auf diese Weise: Eine Person
lebt in der oberen Etage eines Gebäudes, in dem ein Brand
ausgebrochen ist. Um sich selbst zu retten, springt sie aus dem
Fenster und landet auf einem zufällig Vorbeigehenden und verletzt
ihn schwer. Zwischen beiden wächst eine tödliche Feindschaft. Wer
ist schuld daran?
Jeder Krieg
schafft Angst, Hass, Misstrauen, Vorurteile, Dämonisierung. Um so
mehr, wenn ein Krieg generationenlang dauert. Jedes der beiden
Völker hat ein eigenes Narrativ entwickelt. Zwischen den beiden
Narrativen – dem israelischen und dem palästinensischen – gibt es
nicht die geringste Ähnlichkeit. Was ein israelisches Kind und ein
palästinensisches Kind von frühester Kindheit an über den Konflikt
lernt - zu Hause, im Kindergarten, in der Schule und in den Medien –
ist total verschieden.
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Nehmen wir ein
israelisches Kind : selbst wenn seine Eltern und Großeltern keine
Holocaust-Überlebenden sind, erfährt es, dass Juden während der
ganzen Geschichte verfolgt worden sind. Es lernt tatsächlich, dass
die Geschichte nichts anderes als eine endlose Reihe von
Verfolgung, Inquisition und Pogromen war, die zur entsetzlichen Shoa
führten.
Ich las einmal
die Berichte von israelischen Schulkindern, die nach einem Besuch in
Auschwitz zur Aufgabe bekamen, aufzuschreiben, welche Schlüsse sie
nun ziehen würden. Etwa ein Viertel von ihnen schrieb: Meine
Schlussfolgerung ist, dass nachdem, was die Deutschen uns angetan
haben, wir Minderheiten und Ausländer besser als andere behandeln
müssen. Aber drei Viertel schrieben: „Nachdem, was die Deutschen uns
angetan haben, ist es unsere höchste Pflicht, die Existenz des
jüdischen Volkes zu schützen, und zwar mit allen erdenklichen
Mitteln, ohne Begrenzung."
Dieses Gefühl,
das ewige Opfer zu sein, besteht hartnäckig, auch nachdem wir eine
mächtige Nation geworden sind. Dies steckt tief in unserm
Bewusststein.
Schon im
Kindergarten und dann in jedem Schuljahr erlebt ein jüdisches Kind
in Israel eine Reihe jährlicher nationaler und religiöser Feiertage
(zwischen beiden gibt es kaum einen Unterschied). Es sind
Gedenktage, an denen Juden Opfer wurden und um ihr Leben kämpften.
- Chanukka: man erinnert sich an den
Kampf der Makkabäer gegen die griechischen Unterdrücker.
- Purim:
der Sieg über die Perser, die die Juden ausrotten wollten.
- Pessach: die Flucht der Israeliten aus
der ägyptischen Sklaverei.
- Der Gedenktag
für die israelischen Soldaten, die in unsern vielen Kriegen gegen
die Araber gefallen sind.
- Der
Unabhängigkeitstag, unser verzweifelter Kampf ums Überleben im
1948er-Krieg, in dem unser Staat gegründet wurde.
-
Der
Holocausttag;
- Der 9. im
Monat Av, als der Tempel zweimal zerstört wurde, einmal von den
Babyloniern und fünf Jahrhunderte später von den Römern;
-
Der
Jerusalemtag, als wir im Sechstagekrieg außer dem östlichen Teil
der Stadt ganz Palästina, die Sinai-Halbinsel und die syrischen
Golan Höhen eroberten.
- Nur Yom
Kippur ist ein rein religiöser Feiertag, aber in unserm
Gedächtnis ist er unweigerlich mit dem schrecklichen Krieg von 1973
verknüpft.
Für jede dieser
Gelegenheiten gibt es - jahrein, jahraus - besondere
Unterrichtseinheiten, die ihre Bedeutung erklären und ihre
Bedeutsamkeit unterstreichen. Der Höhepunkt ist der Sederabend am
Pessachabend, bei dem man des Auszugs aus Ägypten gedenkt. In jeder
jüdischen Familie rund um den Globus findet dieselbe Zeremonie
statt. Jedes Mitglied der Familie vom Ältesten bis zum Jüngsten
spielt seine Rolle, und alle fünf Sinne - sehen, hören, schmecken,
riechen, fühlen - nehmen daran teil. Jeder Jude, so säkular er auch
sein mag, erinnert sich an dieses hypnotisierende Geschehen in
seiner Kindheit, die er jedes Jahr in der Wärme und Herzlichkeit der
versammelten Familie verbracht hat.
Im Bewusstsein
der Kinder vermischen sich all diese Ereignisse. Meine Frau Rachel,
die viele Jahre lang Lehrerin der 1. und 2. Klasse der Grundschule
war, sagte, dass die Kinder nicht verstehen, wer vor wem kam: die
Römer oder die Briten, die Babylonier oder die Araber.
Der summierende
Effekt davon ist eine Weltansicht, in der Juden in jeder
Geschichtsphase und in jedem Land von der Vernichtung bedroht
gewesen sind und um ihr Leben kämpfen mussten. Die ganze Welt ist,
war und wird immer „gegen uns“ sein. Gott – ob es ihn gibt oder
nicht – hat uns unser Land versprochen, und niemand sonst hat ein
Recht auf dieses. Das schließt auch die palästinensischen Araber
ein, die hier seit mindestens 1300 Jahren leben.
Mit solch einer Gesinnung ist es schwer, Frieden zu
schließen.
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Nun lassen Sie
mich ein palästinensisches Kind nehmen. Was lernt es?
- Dass es zum
arabischen Volk gehört, das im Mittelalter ein ruhmreiches Reich mit
einer blühenden Zivilisation hatte, während die Europäer noch
Barbaren waren. Die Araber lehrten die Europäer Wissenschaften und
brachten ihnen die Aufklärung.
- Dass die
barbarischen Kreuzfahrer ein entsetzliches Blutbad in Jerusalem
anrichteten und Palästina schändeten, bis sie von dem großen
muslimischen Helden Salah-al-din (Saladin) vertrieben wurden .
- Dass die
Palästinenser Jahrhunderte lang von räuberischen Fremden gedemütigt
und unterdrückt wurden – zuerst von den Türken, dann von den
europäischen Kolonialherren, die die Zionisten nach Palästina
brachten, um alle Hoffnung der Araber, in den eigenen Ländern frei
zu werden, zu unterdrücken.
- Dass während
der Nakba (Katastrophe) von 1948 das halbe palästinensische Volk aus
seinen Häusern und seinem Land von den Zionisten vertrieben wurde
und dass seit 1967 fast alle Palästinenser entweder als Flüchtlinge
oder als Opfer einer endlosen und grausamen Besatzung
dahinvegetieren.
Jedes
palästinensische Kind wächst mit einem tiefen Gefühl von Groll und
Demütigung auf und dem Gefühl, Opfer einer großen Ungerechtigkeit zu
sein, nur fähig, sein Volk allein durch gewalttätigen Kampf,
Heldentum und Selbstopfer zu erlösen.
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Wie kann
Frieden zwischen zwei Völkern gemacht werden, deren beide Narrative
derart entgegen gesetzt, scheinbar unvereinbar und unversöhnlich
sind?
Sicherlich
nicht durch diplomatische Manöver. Diese können die Situation
vorübergehend erleichtern, aber sie können selbst dem Konflikt kein
Ende setzen. Die Geschichte des Oslo-Abkommens zeigt: wenn man sich
nicht mit den Wurzeln des Konfliktes, die tief in der Psyche beider
Völker stecken, befasst, dann ist ein Abkommen nichts als ein
kurzlebiger Waffenstillstand .
Frieden ist ein
Geisteszustand. Die Hauptaufgabe beim Friedenmachen ist mental: man
muss die beiden Völker und jedes einzelne Individuum dahin bringen,
das eigene Narrativ in einem neuen Licht zu sehen und – was noch
wichtiger ist – das Narrativ der anderen Seite zu verstehen. Man
muss den Tatbestand verinnerlichen, dass die beiden Narrative wie
die zwei Seiten ein und derselben Münze sind.
Das ist vor
allem ein pädagogisches Unterfangen. Als solches ist es
unglaublich schwierig, weil es zuerst von den Pädagogen begriffen
werden muss, die ja selbst von der einen oder anderen dieser
Weltanschauungen durchdrungen sind.
Lassen Sie mich
eine kleine Geschichte erzählen: Meine Frau Rachel unterrichtete in
ihrer Klasse die biblische Geschichte von Abraham, wie er ein Stück
Land in Hebron von Ephron, dem Besitzer, kaufte, um seine Frau
Sarah dort zu beerdigen. Zuerst bot Ephron das Stück Land als
Geschenk an. Und erst nach vielem Bitten nannte er einen Preis: 400
Schekel und sagte: „Was ist das zwischen dir und mir?“ (Genesis 23).
Rachel erklärte
ihren Kindern, dass dies die Art sei, in der Beduinen in der Wüste
ihre Geschäfte bis heute machen. Es wäre unhöflich und grob, gleich
mit dem Preis zu kommen, man muss die Ware erst einmal als Geschenk
anbieten. So wird der Handel höflich und das Leben zivilisierter.
Während der Pause fragte Rachel ihre Kollegin von der
Parallelklasse, wie sie ihrer Klasse das biblische Kapitel erklärt
habe. „Ganz einfach!“, antwortete diese, „dies ist ein typisches
Beispiel für arabische Heuchelei. Man kann ihnen kein Wort glauben.
Sie bieten dir ein Geschenk an, und dann verlangen sie einen hohen
Preis!“
Damit Frieden
möglich wird, muss die ganze Mentalität verändert werden. Das ist
es, was meine Freunde und ich im israelischen Friedensblock Gush
Shalom versuchen zu tun. ( vgl. 101 Thesen )
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Ist das
überhaupt möglich?
Während ich
hier im Zentrum dessen spreche, das einmal die Hauptstadt Preußens
war, erinnere ich mich an meine Kindheit, als ich ein Schüler im
ehemaligen Preußen war, das zu jener Zeit noch von Sozialdemokraten
regiert wurde.
Als ich 9 Jahre
alt war und im Vor-Hitler-Hannover lebte, erzählte die Lehrerin vom
Denkmal des Hermanns des Cheruskers im Teutoburger Wald :
„Hermann steht mit dem Gesicht zum Erzfeind,“ sagte sie und fragte:
„Wer ist unser Erzfeind?“ Die Kinder antworteten wie aus einem
Munde: „Frankreich! Frankreich!“
Heute nach
einem Krieg, der Jahrhunderte dauerte, sind Deutschland und
Frankreich nicht nur Verbündete, sondern Partner in dem wunderbaren
Unternehmen eines vereinigten Europa.
Wenn dies hier
geschehen konnte – dann ist Frieden überall möglich.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |