Das Grab der Hure
Uri Avnery, 6.3.10
VOR EINIGEN WOCHEN wurde der Türke Mehmet Ali Agca, der versucht
hatte, Papst Johannes Paul II in Rom zu töten, nach 28 Jahren
Gefängnis entlassen.
Das Motiv für seinen Akt wurde niemals aufgeklärt . Aber ein
palästinensischer Führer erzählte mir einmal seine Version: Gott
erschien Ali Agca im Traum und sagte zu ihm: geh in die heilige
Stadt und töte den verdammten Polen. Aber der Türke hat ihn
missverstanden. Statt nach Jerusalem zu gehen und Menachem Begin zu
töten, ging er nach Rom …
Das zeigt wieder einmal, dass heilige Stätten einem auf den Wecker
gehen können .
DER VERSTORBENE Yeshayahu Leibowitz, ein praktizierender Jude und
resoluter Gegner des religiösen Establishments, pflegte die Taten
der Wahabiten zu loben, die radikale Sekte, die vor 200 Jahren den
Islam von „Unreinheiten“ säubern wollte. Das erste, was sie nach der
Eroberung Mekkas tat, war die Zerstörung des Grabes des Propheten
Muhammeds. Die Verehrung von Gräbern war ihrer Meinung nach eine
heidnische Abscheulichkeit. Leibowitz lobte diesen Akt und zürnte
den religiösen Juden, die „Heilige Stätten“ verehrten.
Damit stand er auf festem biblischem Boden. Im letzten Kapitel der
Torah (5.Mos.34) steht: „So starb Moses, der Knecht des Herrn
daselbst im Lande Moab .. und er begrub ihn… aber keiner hat sein
Grab erfahren bis auf den heutigen Tag.“ Auch die Autoren der Bibel
glaubten, dass die Verehrung von Gräbern eine widerwärtige
Gewohnheit von Götzendienern sei.
Im
Laufe von Generationen wurden auch die Juden von dieser schlechten
Angewohnheit angesteckt. Orthodoxe Juden hielten Gottesdienste am
Grab von Rabbi Nachman in der Ukraine und von Rabbi Abu Hatzira in
Ägypten. Die Mutation des Judentums, das zu einer Art
Staatsreligion in Israel wurde, hat diesen Götzenkult in einen
heiligen Kult verwandelt.
Während der ersten Jahre des Staates ging ein Beamter des
Religionsministeriums (wie es damals genannt wurde), ein gewisser
Shmuel Sanwill Kahane durch das Land und entdeckte rechts und links
Heilige Stätten. Er fand Gräber von muslimischen Scheichs und
verkündete, dass diese tatsächlich alles Gräber unserer Vorväter
seien. Sie wurden zu Heiligen Stätten erklärt und von seinem
Ministerium übernommen.
So
wurde das Ministerium vergrößert und auch sein Budget, es zog
Touristen an und „bewies“, dass Juden in diesem Land tiefe Wurzeln
hätten. Säkulare Israelis lächelten spöttisch, und einige religiöse
Juden, wie Leibowitz waren wütend.
Aber nach dem Sechs-Tage-Krieg und dem Beginn der Besatzung nahm die
Verehrung Heiliger Stätten einen unheimlicheren Charakter an. Sie
wurde von den Siedlern instrumentalisiert.
HEILIGE STÄTTEN zu nützen, um die Eroberung und Massaker zu
rechtfertigen, ist keineswegs eine israelische oder jüdische
Erfindung.
Eines der abscheulichsten Beispiele ist der erste Kreuzzug. Papst
Urban II, rief die Christen Europas auf, sich zu erheben und das
Heilige Grab – nicht das Land Palästina, nicht die Stadt Jerusalem,
sondern nur einen besonderen Ort zu befreien: das Grab, in dem -
nach christlicher Tradition – Jesus vor seiner Auferstehung
begraben lag.
Für dieses Grab haben Tausende von Christen enorme Entfernungen bis
Jerusalem zurückgelegt, haben unterwegs Massen von Leuten (meist
Juden) ermordet und nach der Eroberung der Stadt ein entsetzliches
Massaker angerichtet. Nach christlichen Chroniken hätten sie
knietief in Blut gewatet. Die Opfer waren Muslime und Juden, Männer,
Frauen und Kinder.
Aber wir müssen keine 911 Jahre zurückgehen, um fanatische oder
zynische Führer zu finden, die sog. Heilige Stätten benützten, um
monströse Taten zu rechtfertigen. Als Slobodan Milosevic die
ethnische Säuberung des Kosovo durchführte – einen Genozid - war
seine zentrale Behauptung, dass das Land für die Serben heilig sei.
Und tatsächlich fand 1389 dort eine historische Schlacht statt. Die
christlichen Serben wurden von den ottomanischen Muslimen
geschlagen, und diese beherrschten während der nächsten 600 Jahre
das Land. Während dieser Zeit nahm die lokale Bevölkerung freiwillig
den Islam an. Aber die Serben machten aus dem Schlachtfeld eine
Heilige Stätte – ein seltenes Beispiel, dass ein Volk seine
Niederlage feierte (wie die Juden auf Massada)
Wenn Binyamin Netanyahus Lieblingsausdruck – „Der Felsen unserer
Existenz“ – in Serbien existieren würde, dann hätte Milosevic ihn
sicher verwendet. Er behauptete, dass das Kosovo das spirituelle und
religiöse Zentrum des serbischen Volkes sei, trotz der Tatsache,
dass die überwältigende Mehrheit seiner Bewohner jetzt albanische
Muslime sind. Bis zum heutigen Tag erkennt Serbien den unabhängigen
Staat Kosovo nicht an, weil dort die alten serbischen Kirchen und
Klöster stehen.
UND HIER? Seit Beginn der Besatzung dienen die „Heiligen Stätten“ in
der Westbank als Waffen in den Händen der Siedler. Sie gehen
dorthin, um die jüdische Herrschaft über die Heiligen Orte des
Judentums wieder herzustellen, um Gottes Geboten zu gehorchen, sagen
sie.
Die Geschichten der Bibel spielen sich meistens in diesen Gebieten
ab. Die Siedler und die israelische Armee nennen sie „Judäa und
Samaria“. Ortsnamen sind Akte der Annexion. Sie bestätigen den
Besitz des jüdischen Volkes aus alten Zeiten ( In den 50ern hat der
britische Historiker Steven Runciman, ein führender Experte der
Kreuzzüge, meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass die
Namen irgendwie verdreht worden sind: Die Israelis leben im Land
der Philister – von dem der Name Palästina abgeleitet ist -
während die Palästinenser in dem Land leben, das das alte
Königreich Israels war.
Die erste Siedlung wurde von einer Gruppe religiöser Leute
gegründet, die mittels einer Täuschung nach Hebron gingen. Da der
israelische Militärgouverneur Juden verboten hatte, die Stadt zu
betreten, baten sie um Erlaubnis, dort ein paar Tage zu bleiben, um
ihre Pessachgebete in der heiligen Stadt zu verrichten.
Seitdem ist die „Höhle von Machpela“ in Hebron zu einem heiligen
Schlachtfeld geworden. Nahebei haben sich die extremsten jüdischen
Siedler eingerichtet. Sie sind fanatische Araberhasser, und sie
haben es sich zur Aufgabe gemacht, die 160 000 Araber, deren
Familien seit Generationen dort leben, zu vertreiben. Der
verrufenste Massenmörder unter den Siedlern, der Arzt Baruch
Goldstein, massakrierte 29 betende Muslime in der Ibrahims-Moschee,
um die Heilige Stätte zu „reinigen“.
Heilige Stätten dienen nun als Rechtfertigung für die
Raubexpeditionen, die man Siedlungen nennt. Landstücke werden
überall in den besetzten Gebieten gestohlen – wegen ihrer
Heiligkeit. Die extremsten Siedlerführer, die alle „Rabbiner“
sind, kämpfen für die Befreiung der Gräber. Einer von ihnen führt
einen Kreuzzug an ( oder eher einen Davidssternzug), um „das
Josephsgrab“ mitten in Nablus in Besitz zu nehmen. Das würde Nablus
in ein zweites Hebron verwandeln. Die israelische Armee befördert
die Siedler in gepanzerten Fahrzeugen dorthin, damit sie dort
„beten“ können.
Aber nicht nur „Vorväter der Nation“ verdienen heilige Gräber, auf
denen Blut vergossen werden kann. Jede zweite Gestalt in der Bibel
kann eines bekommen und so ein Ziel für Siedler werden. Im
Augenblick wütet eine Schlacht um das „Grab von Othniel“, der den
Namen Othniel, Sohn von Kenaz trägt, eine vage biblische Gestalt.
Die muslimischen Bewohner von Hebron glauben, dass es das Grab des
Gründers ihrer Stadt sei.
Vor wenigen Tagen fielen Siedler in eine alte Synagoge in Jericho
ein, die von Muslimen seit Generationen bewahrt worden war. Juden
hatten kein Problem, friedlich dorthin zu gehen – die
Stadtverwaltung Jerichos, ein Teil der palästinensischen Behörde,
hat alle Juden dort zum Gebet hingelassen. Aber die Siedler wollten
nicht zum Beten kommen. Sie wollten erobern.
Das erinnert mich an eine andere Prophetie von Yeshayahu Leibowitz
über Jericho. Die Siedler würden auch das Grab von Rahab, der Hure,
in Jericho heiligen. Diese Heldin der Bibel (Josua 2), die Hure, die
ihre Stadt betrog und den Eindringlingen half, sie zu erobern, und
die dann alle Bewohner umbrachten, verdient sicherlich die
Verehrung der Siedler.
ES
IST nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass die Verehrung dieser
heiliger Stätten offenkundig absurd ist. Es gibt kein einziges Grab
im Land, das ernsthaft mit einer biblischen Gestalt - real oder
eingebildet - in Verbindung gebracht werden kann. Die meisten
heiligen Gräber gehören lokalen arabischen Scheichs, von denen wegen
ihrer Rechtschaffenheit angenommen wird, dass sie in der Lage
seien, Vermittler zu Allah zu sein. Die Örtlichkeit der meisten
Heiligen Stätten – einschließlich des christlichen „Heiligen
Grabes“ ist sehr zweifelhaft - vorsichtig ausgedrückt.
Das stimmt auch für die beiden Orte, wo in letzter Zeit blutige
Aufstände ausgebrochen sind: Das Rachelgrab in Bethlehem und die
Höhle von Machpela in Hebron.
Dies ist nicht der Ort zu fragen, ob „unsere Mutter Rachel“ eine der
attraktivsten Bibelgestalten, in das Reich der Legende oder der
Geschichte gehört. Aber sogar nach der Legende wurde sie nicht an
der Stelle beerdigt, die ihren Namen trägt. Viele der Bibelexperten
( von denen, die glauben, dass sie wirklich existierte) denken, dass
sie nördlich und nicht südlich von Jerusalem begraben wurde. Es ist
muslimische Tradition, die ihr Grab in den isolierten, bescheidenen
Bau setzte, der auf Briefmarken Palästinas in der britischen
Mandatszeit erscheint. Viele Generationen muslimischer, jüdischer
und christlicher Frauen haben dort gebetet und baten Rachel darum,
sie mit Kindern zu segnen. Dieser Kuppelbau kann nicht mehr gesehen
werden: die Armee hat ihn mit einem Festungswall und Toren umgeben,
so dass er jetzt bedrohlich aussieht, eine hässliche Kopie einer
Kreuzfahrerburg.
Das Gebäude in Hebron, bekannt als Machpela-Höhle – tatsächlich aber
gar keine Höhle – ist auch von der Muslimtradition bewahrt worden,
die es Ibrahims-Moschee nennt. Viele Bibelexperten, die die
Geschichte von Abraham nicht als Legende abtun, glauben, dass die
Höhle an einer anderen Stelle liegt. Aber an dieser Stelle ist viel
Blut vergossen worden.
In
dieser Woche fanden an beiden „Heiligen Stätten“ Zusammenstöße
statt. Sie waren durch Netanyahus Entscheidung verursacht worden,
sie auf eine Liste von Stätten jüdischen „Kulturerbes “ zu setzen,
die von der israelischen Regierung saniert werden sollen. Da aber
beide auch für Muslime, Juden und Christen heilig sind, ist dieser
einseitige Akt nichts anderes als eine Enteignung und eine
offensichtliche Provokation. Falls wirklich der Wunsch bestehen
sollte, diese Stätte zu renovieren, dann hätte dies in einem
gemeinsamen Komitee der Vertreter beider Völker und aller drei
Religionen erreicht werden können.
Vor Jahren wurde ich von dem inzwischen verstorbenen Bürgermeister
von Florenz Giorgo la Pira eingeladen, am gemeinsamen Gebet eines
katholischen Priesters, eines muslimischen Scheichs und eines
jüdischen Rabbiners in der Machpela-Höhle teilzunehmen . Obwohl ich
ein eingeschworener Atheist bin, ging ich hin. Damals ging mir durch
den Kopf, dass solch eine Stätte sehr wohl als Symbol der
Bruderschaft für beide Völker des Landes dienen könnte.
Gemeinsame Liebe für das Land, einschließlich all seiner Perioden
und Stätten - heilig oder nicht - könnten als spirituelle Basis für
Frieden und Versöhnung dienen. Sogar jetzt hoffe ich, dass der Tag
kommt, dass die Schulkinder beider Staaten, Israel und Palästina,
die Annalen dieses Landes in all seinen Perioden kennen lernen
werden und nicht nur die jüdische Geschichte hier und die
muslimisch-arabische Geschichte dort: der wunderbare Reichtum der
Geschichte dieses Landes von der Zeit der Kanaaniter bis zum
heutigen Tag könnte ein starkes Band knüpfen.
Doch die Absichten Netanyahus und seiner Siedler sind genau das
Gegenteil: die Geschichte in ein Instrument der Besatzung zu
verwandeln und das Grab der Hure mit Siedlungen zu umgeben.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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