Nationale Einheit
Uri Avnery, 11. April 2015
MEINE ERSTE Reaktion nach den Wahlen war: „Nur keine
Einheitsregierung!“
Meinen ersten Artikel nach den Wahlen widmete ich zum
großen Teil der Gefahr einer „Nationalen Einheits-Regierung, obwohl
die Möglichkeit solch einer Regierung, die sich auf Likud und Labor
gründet, zu dieser Zeit tatsächlich sehr weit weg erschien.
Aber als ich auf die Zahlen schaute, hatte ich einen
quälenden Verdacht: Dies sieht wie etwas aus, das mit einer
Likud-Labor-Verbindung enden wird.
Jetzt hat diese Möglichkeit plötzlich ihren Kopf
erhoben. Jeder spricht davon.
All meine Gefühle rebellieren gegen diese
Möglichkeit. Aber ich schulde es mir selbst und meinen Lesern, diese
Option leidenschaftslos zu prüfen. Auch wenn Logik ein seltenes
Erzeugnis in der Politik ist, versuchen wir, es auszuprobieren.
IST EINE „Nationale Einheitsregierung“ für Israel
gut oder schlecht?
Schauen wir uns als erstes die Zahlen an.
Um in Israel eine Regierung zu bilden, sind
wenigstens 61 Sitze in der 120-Sitze–Knesset nötig. Likud (30) und
Labor (24) sind jetzt zusammen 54. Es kann mit großer Sicherheit
vermutet werden, dass Benjamin Netanjahu beinahe sicher die
historische Verbindung mit den zwei orthodoxen Fraktionen, der
ashkenasishen Torah-Partei (6) und der orientalischen Schas-Partei
(7) – zusammen 67 – erneuern will. Das ist genug für eine stabile
Regierung.
Netanjahu scheint entschlossen zu sein, auch Moshe
Kahlons neue Partei (10) dazu zu nehmen, als eine Art Subunternehmer
für die Wirtschaft. Zusammen sind es eindrucksvolle 77 Sitze.
Wer würde außerhalb bleiben? Zunächst die Gemeinsame
Arabische Partei (13), dessen neuer Führer Eyman Odeh automatisch
den Titel „Leiter der Opposition“ erhält – mit all seinem Prestige
und seinen Privilegien – ein erstes Mal für Israel. Kein Araber hat
jemals diesen Titel erhalten.
Dann ist da Merez (5), reduziert auf eine kleine
linke Stimme.
Und dann sind da noch die zwei extremen rechten
Parteien. Die eine von Naftali Bennett (reduziert auf 8) und die
noch kleinere von Avigdor Liebermann (jetzt nur noch 6)
Irgendwo dazwischen ist der Star der vorhergehenden
Wahlen, Yair Lapid (jetzt reduziert auf 11).
Die anfängliche Aussicht schien, eine sehr rechte
Koalition zu werden, die aus Likud, den zwei orthodoxen Parteien,
den beiden extrem-rechten Parteien und Kahlon - zusammen 67 Stimmen
– bestehen. (Die Orthodoxen weigern sich, mit Lapid in derselben
Regierung zu sitzen).
Dies sind vielleicht mit kleineren Veränderungen -
dann die zwei Optionen.
WARUM ZIEHT Netanjahu - wie es jetzt scheint – die
Nationale Einheitsoption vor?
Zunächst verachtet er seine beiden mit ihm
verbundenen Rechten – Bennett und Lieberman. Aber man muss nicht
jemanden lieben, um ihn in seine Regierung aufzunehmen.
Ein viel wichtigerer Grund ist die wachsende Furcht
vor Israels Isolierung in der Welt.
Netanjahu ist im Augenblick in einen grimmigen Kampf
mit Präsident Obama verwickelt. Er ist mit allem, was er hat, gegen
den iranischen Deal. Aber dieser Deal wird auch von der EU,
Deutschland, Frankreich, Russland und China unterschrieben.
Netanjahu gegen die ganze Welt.
Netanjahu hat keine Illusionen. Da gibt es hunderte
von Möglichkeiten für Obama und die EU, Rache an Netanjahu zu
nehmen. Israel ist beinahe total abhängig von den US, soweit es die
Waffen betrifft. Es benötigt das US-Veto in den UN und
US-Subventionen kommen auch gelegen. Die israelische Wirtschaft ist
auch sehr vom europäischen Markt abhängig.
In dieser Situation wäre es schön, Isaak Herzog an
Bord zu haben. Er ist das letzte Feigenblatt, ein netter liberaler
Linker als Außenminister, Sohn eines Präsidenten, Enkel eines
irischen Oberrabbiners, manierlich, europäisch aussehend, englisch
sprechend. Er würde die Ängste der Außenminister in aller Welt
beschwichtigen, die scharfen Ecken Netanjahus entschärfen,
diplomatische Krisen verhindern.
Die Labor-Partei in der Regierung würde auch die
Flut antidemokratischer Gesetze blockieren, die sich in der letzten
Knessetperiode angesammelt hat. Sie würde auch den geplanten Ansturm
auf das Oberste Gericht, Israels letzte Bastion gegen die Barbaren,
verhindern. Die führende Gruppe der Likud-Extremisten machen aus
ihrer Absicht, das Gericht zu kastrieren und die Gesetzesvorlagen,
die sie auf Lager haben, zu erlassen, kein Hehl.
Labor könnte auch die Wirtschaftspolitik des Likud -
allgemein als „schweinischer Kapitalismus“ bekannt, der die Armen
ärmer und die Ultra-Reichen sogar noch ultra-reicher gemacht hat,
mildern. Die Wohnungsbeschaffung könnte wieder erschwinglich werden,
der Verfall des Gesundheits- und Bildungssystems könnte angehalten
werden.
Die Aussicht, wieder Minister zu werden, lässt bei
manchen Labor-Funktionären das Wasser im Munde zusammenlaufen. Einer
von ihnen, Eytan Kabel, ein enger Verbündeter von Herzog, hat schon
eine Erklärung veröffentlicht, in der er Netanjahus Iranpolitik voll
und ganz unterstützt und die viele die Augenbrauen hochziehen
ließ.
Die Labor-Partei hat noch keine kritische
Stellungnahme zu Netanjahus Standpunkt zum Iran geäußert. Sie
kritisiert nur - halb-, wenn nicht gar viertelherzig – die Angriffe
des Ministerpräsidenten gegenüber Obama.
ANDRERSEITS, was ist so falsch an einer Nationalen
Einheitsregierung?
Nun, zunächst lässt sie das Land ohne wirksame
Opposition.
Um zu funktionieren, benötigt die Demokratie eine
Opposition, die eine alternative Politik entwickelt und für die
nächsten Wahlen eine Auswahl ermöglicht. Wenn alle größeren Parteien
in der Regierung sind, welche alternativen Kräfte und Ideen könnten
dann eine notwendige Auswahl anbieten?
Ein Zyniker mag hier bemerken, dass die Laborpartei
eigentlich keine große Opposition war. Sie hat im letzten Jahr den
überflüssigen Gaza-Krieg mit all seinen Grausamkeiten unterstützt.
Ihre Verbündete, Zipi Livni, hat die palästinensischen Verhandlungen
immer weiter hinausgezögert, ohne dass der Frieden eine Elle näher
gekommen ist. Labors Opposition gegenüber der rechten
Wirtschaftspolitik war schwach.
Die Wahrheit ist, dass sich die LaborPartei nicht als
Opposition eignet. Sie war 44 aufeinander folgende Jahre an der
Macht gewesen (von 1933 - !977) zunächst in der zionistischen
Organisation und dann im neuen Staat). „Regierend“ zu sein, hat
sich tief ihrer Natur eingeprägt. Selbst unter Likud-Regierungen,
war Labor nie eine entschlossene und wirksame Opposition.
Aber für die Linken ist die Hauptopposition gegenüber
einer Einheitsregierung genau das, was Netanjahu veranlassen kann,
sie einzusetzen: weil sie das große Feigenblatt liefert.
Die Labor-Partei in der Regierung wird jede
ausländische Kritik von Netanjahus Politik und Aktionen dämpfen.
Israels Linke, die - aus Verzweiflung - um ausländischen Druck auf
Israel bittet, wie einen allumfassenden Boykott (BDS) und
pro-palästinensische UN-Resolutionen, wird enttäuscht sein. Um solch
eine Kampagne in Bewegung zu bringen, braucht man eine
rechts-extreme Regierung in Jerusalem.
Unter dem Nationale-Einheit-Schirm kann Netanjahu
fortfahren, die Siedlungen zu erweitern, die palästinensische
Autonomie zu sabotieren, endlose Verhandlungen durchzuführen, die
aber nirgendwohin führen, ja sogar von Zeit zu Zeit einen kleinen
Krieg führen.
Nach vier solchen Jahren mag die Laborpartei
aufhören, eine wirksame Kraft in der israelischen Politik zu sein.
Einige könnten denken, dass dies eine gute Sache sei. Mit dieser
degenerierten Kraft aus dem Weg, kann eine neue Generation
politischer Aktivisten eine Chance haben, die schließlich eine reale
Oppositionspartei schafft.
VIELLEICHT wird die Entscheidung dazu nicht in
Jerusalem oder Tel Aviv getroffen, sondern in Las Vegas.
Ich habe einen heimlichen Verdacht, dass in
Wirklichkeit Netanjahu seine Befehle von Sheldon Adelson erhält.
Adelson besitzt Netanjahu so sehr wie sein Casino in
Macao und die US-republikanische Partei. Falls er einen
republikanischen Präsidenten installieren will, um das Weiße Haus zu
seinem Bestand von anderen Aktiva hinzuzufügen, muss er die Spaltung
zwischen der Obama-Regierung und der israelischen Regierung
vertiefen. Dies könnte die US-amerikanischen-Juden veranlassen, in
Scharen zum republikanischen Banner zu strömen.
Wenn dieser Verdacht wahr wird, wird Netanyahu die
Labor-Partei nicht wirklich umwerben, sondern sie nur als Trick
benützen, um den Preis seiner voraussichtlich extrem rechten Partner
zu drücken.
ZWEI JUDEN sind auf einer Kreuzfahrt.
Mitten in der Nacht weckt einer den anderen.
„Schnell, steh auf! Das Schiff sinkt.“
Der andere gähnt nur. „Was kümmerst du dich darum?
Ist es dein Schiff?“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)