Geht in den Schuhen der anderen
Uri Avnery. 6. April 2013
OBAMA IN ISRAEL. Jedes Wort richtig. Jede Geste
echt. Jedes Detail an seinem richtigen Platz. Perfekt.
Obama in Palästina. Jedes Wort falsch. Jede Geste
unpassend. Jedes einzelne Detail am falschen Ort. Perfekt.
ES BEGANN mit dem ersten Augenblick. Der Präsident
der US kam nach Ramallah. Er besuchte die Mukata’a, das Gebäude,
das als Amtssitz des Präsidenten der Palästinensischen Behörde
Mahmud Abbas dient
Man kann die Mukata’a nicht betreten, ohne das Grab
von Yasser Arafat, das wenige Schritte vom Eingang liegt, zu
bemerken.
Es ist einfach unmöglich, dieses Wahrzeichen zu
ignorieren, während man vorbeigeht. Obama gelang genau dieses.
Das war, als ob er dem ganzen palästinensischen Volk
ins Gesicht spuckt. Man stelle sich einen ausländischen Würdenträger
vor, der nach Frankreich kommt und keinen Kranz auf das Grab des
unbekannten Soldaten legte. Oder, dass jemand nach Israel kommt und
nicht Yad Vashem besucht. Es ist mehr als eine Beleidigung. Es ist
dumm.
Yasser Arafat ist für die Palästinenser das, was
George Washington für die Amerikaner ist, Mahatma Gandhi für die
Inder, David Ben Gurion für die Israelis. Der Vater der Nation.
Selbst seine internen Opponenten auf der Linken und auf der Rechten
ehren sein Gedächtnis. Er ist das größte Symbol der modernen
palästinensischen Nationalbewegung. Sein Bild hängt in jedem
palästinensischen Büro und in jeder Schule.
Warum ihn also nicht ehren? Warum nicht einen Kranz
auf sein Grab legen, wie es andere Führer vor ihm getan haben.
Weil Arafat in Israel dämonisiert und verleumdet
worden war - wie kein anderes menschliches Wesen seit Hitler. Und so
ist es noch heute.
Obama fürchtete einfach die israelische Reaktion.
Nach seinem riesigen Erfolg in Israel fürchtete er, dass solch eine
Geste der Wirkung seiner Rede vor dem israelischen Volk schaden
würde.
DIESE ÜBERLEGUNG bestimmte Obama bei seinem kurzen
Besuch auf der Westbank. Seine Füße waren in Palästina, sein Kopf
war in Israel.
Er schritt durch Palästina. Er redete zu Palästina.
Aber seine Gedanken waren bei den Israelis.
Selbst wenn er gute Dinge sagte, war sein Ton falsch,
er konnte einfach nicht den richtigen Ton finden. Irgendwie
verfehlte er das Stichwort.
Warum? Weil ihm vollkommen die Empathie fehlte.
Empathie ist etwas, das schwer zu definieren ist. Ich
bin in dieser Hinsicht verwöhnt worden, weil ich das Glück hatte,
viele Jahre lang neben einem Menschen zu leben, der dies im
Überfluss hatte. Rachel, meine Frau, traf mit jedem, ob hoch oder
niedrig, lokal oder ausländisch, ob alt oder sehr jung, den
richtigen Ton.
Obamas tat dies in Israel. Es war wirklich zu
bewundern. Er muss uns gründlich studiert haben. Er kannte unsere
Stärken und unsere Schwächen, unsere Wahnvorstellungen und
Überempfindlichkeiten, unsere historischen Erinnerungen und Träume
der Zukunft.
Und kein Wunder. Er ist von zionistischen Juden
umgeben. Sie sind seine engsten Berater, seine Freunde und seine
Experten bez. des Nahen Ostens. Allein durch den Kontakt mit ihnen,
nimmt er offensichtlich viel von unserer Sensibilität auf.
Soweit ich weiß, gibt es im Weißen Haus und seiner
Umgebung keinen einzigen Araber, geschweige denn einen
Palästinenser.
Ich vermute, dass er gelegentlich Memoranda über
arabische Angelegenheiten vom Außenministerium bekommt. Aber solch
trockene Mitteilungen wecken keine Empathie. Umso mehr als kluge
Diplomaten jetzt gelernt haben müssen, keine Texte zu schreiben,
die die Israelis kränken könnten.
Wie sollte also der arme Mann sich etwaige Empathie
gegenüber den Palästinensern erworben haben?
DER KONFLIKT zwischen Israel und Palästina hat sehr
solide auf Tatsachen beruhende Gründe. Aber er ist auch schon zu
Recht als ein „Zusammenstoß zwischen Traumata“ beschrieben worden:
das Holocaust-Trauma der Juden und das Nakba-Trauma der
Palästinenser ( Ohne die beiden Kalamitäten zu vergleichen.)
Vor vielen Jahren traf ich in New York einen guten
Freund von mir. Er war ein arabischer Bürger Israels, ein junger
Poet, der Israel verlassen und sich der PLO angeschlossen hat. Er
lud mich ein, in einem Vorort von New York in seinem Haus einige
Palästinenser zu treffen. Sein Familienname war übrigens derselbe
wie Obamas mittlerer Name.
Als ich die Wohnung betrat, war sie vollgestopft
mit Palästinensern aus allen Arten, aus Israel, dem Gazastreifen,
der Westbank, den Flüchtlingslagern und aus der Diaspora. Wir
hatten eine sehr emotional geladene Debatte, voll hitziger Argumente
und Gegenargumente. Als wir gingen, fragte ich Rachel, was ihrer
Meinung nach das überragendste allgemeine Gefühl all dieser Leute
war. „Das Gefühl von Ungerechtigkeit!“ antwortete sie ohne zu
zögern.
Das war genau das, was ich auch empfand. „Wenn Israel
sich für das entschuldigen könnte, was wir dem palästinensischen
Volk angetan haben, dann würde ein Riesenhindernis aus dem Weg des
Friedens weggeräumt worden sein,“ sagte ich ihr.
Es würde ein guter Anfang für Obama in Ramallah
gewesen sein, wenn er diesen Punkt angesprochen hätte. Es waren
nicht die Palästinenser, die sechs Millionen Juden getötet hatten.
Es waren die europäischen Länder und -ja,auch – die USA, die
herzlos ihre Tore für die Juden schlossen, die verzweifelt z dem
Schicksal zu entfliehen versuchten, das ihnen bevorstand. Und es
war die muslimische Welt, die hundert Tausende Juden aufnahm, die
aus dem katholischen Spanien und vor der Inquisition vor etwa 500
Jahren flohen.
UNSER KONFLIKT ist tragisch, schlimmer als die
meisten anderen. Eine seiner Tragödien ist, dass keine der beiden
Seiten allein angeklagt werden kann. Es gibt nicht ein
Narrativ, sondern zwei. Jede Seite ist von seiner absoluten
Richtigkeit überzeugt. Jede Seite nährt ihr überwältigendes Gefühl
des Opferseins. Obgleich es keine Symmetrie zwischen Siedlern und
Einheimischen, zwischen Besatzern und Besetzten gibt. in dieser
Hinsicht sind sie gleich.
Das Problem mit Obama ist, dass er vollkommen und
total das eine Narrative aufgenommen hatte, während er das andere
fast völlig vergaß. Jedes Wort, das er in Israel äußerte, gab
Zeugnis seiner tief verwurzelten zionistischen Überzeugung. Nicht
nur die Worte die er sagte, sondern auch der Ton, die Körpersprache,
alles trug die Anzeichen von Ehrlichkeit. Offensichtlich hatte er
die zionistische Version jedes einzelnen Details des Konflikts in
sich aufgenommen.
Nichts davon war in Ramallah zu sehen. Einige
trockene Formeln. Einige ehrliche Bemühungen, um tatsächlich das Eis
zu brechen. Aber nichts, das die Herzen der Palästinenser berührt.
Er riet seiner israelischen Zuhörerschaft, „ sie
sollten in den Schuhen der Palästinenser gehen“. Aber tat er es
selbst? Kann er sich vorstellen, was es bedeutet, jede Nacht auf das
brutale Klopfen an die Tür zu warten? Vom Lärm der sich nähernden
Bulldozer geweckt zu werden und sich zu fragen, ob sie zum
Zerstören seines Hauses kommen, zu sehen, wie die Siedlung auf
seinem Land wächst und auf die Siedler warten, die ein Pogrom in
seinem Dorf ausführen? Oder sich nicht auf seinen Landstraßen
bewegen dürfen? Oder zu sehen, wie sein Vater an den Checkpoints
gedemütigt wird? Steine auf bewaffnete Soldaten zu werfen und dann
dem Tränengas, Gummi ummantelten Stahlkugeln und zuweilen scharfen
Geschossen ausgeliefert zu sein?
Kann er sich gar vorstellen, viele, viele Jahre einen
Bruder, einen Cousin, einen geliebten Menschen im Gefängnis zu
haben, wegen seiner patriotischen Aktionen oder seiner Überzeugung,
nachdem er die Willkür eines „Militärgerichts“ oder gar kein
Gerichtsprozess durchlaufen hatte?
In dieser Woche starb ein Gefangener, Maisara
Abu-Hamidiyeh, im Gefängnis und die Westbank explodierte vor Wut und
Zorn. Israels Journalisten machten den Protest lächerlich, indem sie
feststellten, dass der Mann an Krebs gestorben war und daher man
Israel nicht die Schuld geben kann.
Hätte sich einer von ihnen einen Moment lang
vorstellen können, was es für einen Menschen bedeutet, Krebs zu
haben und sich die Krankheit langsam in seinen Körper ausbreitet,
von jeder wirklichen Behandlung ausgeschlossen, von der Familie und
Freunden abgeschnitten zu sein, wenn man sich dem Tode nähert? Wenn
es ihr Vater gewesen wäre?
Die Besatzung ist keine abstrakte Angelegenheit. Es
ist die tägliche Realität für zwei ein halb Millionen Palästinenser
in der Westbank und Ostjerusalem, ganz zu schweigen von den
Beschränkungen in Gaza.
Es betrifft nicht nur die Einzelnen, denen
tatsächlich die Menschenrechte verweigert werden. Es betrifft
hautsächlich die Palästinenser als Nation.
Wir Israelis fühlen vielleicht mehr als andere, was
es heißt, zu einer Nation im eigenen Land mit einer eigenen Fahne
zu gehören und dass dies ein Grundrecht jedes menschlichen Wesens
ist. In der gegenwärtigen Epoche ist es ein Teil der menschlichen
Würde. Kein Volk wird sich mit weniger begnügen
Die israelische Regierung besteht darauf, dass die
Palästinenser Israel als den „Nationalstaat des jüdischen Volkes“
anerkennen müssen. Es weigert sich Palästina als „Nationalstaat des
palästinensischen Volkes“ anzuerkennen. Welche Position bezieht
Obama zu diesem Punkt?
NACH DEM Besuch arbeitet nun John Kerry hart daran,
die „Grundlage“ für eine „Wiederaufnahme“ der „Friedensgespräche“
zwischen Israel und der PLO vorzubereiten. (Viele Gänsefüßchen für
so etwas Fadenscheiniges.)
Diplomaten können hohle Phrasen an einander reihen,
um die Illusion des Fortschrittes zu beschwören. Das ist einer ihrer
Haupttalente. Aber nach einem 130 Jahre dauernden Konflikt kann
kein Fortschritt in Richtung Frieden zwischen den beiden Völkern
real sein, wenn es keinen gleichen Respekt vor ihrer nationalen
Geschichte, ihrer Rechte, Gefühle und Hoffnungen gibt.
So lange wie die US-Führung sich nicht selbst zu
diesem Punkt bringt, bleibt die Chance, in diesem gequälten Land
zum Frieden beizutragen, nahezu bei null.
Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)