Die wirkliche Nakba
Uri Avnery, 6.6. 15
VOR DREI Wochen war
Nakbatag – der Tag, an dem Palästinenser innerhalb und außerhalb
Israels an ihre „Katastrophe“ denken – den Exodus von mehr als der
Hälfte des palästinensischen Volkes aus den von Israel besetzten
Gebieten im Krieg von 1948.
Jede Seite hat ihre
eigene Version dieses folgenschweren Ereignisses.
Nach der
arabisch-palästinensischen Version kamen die Juden von nirgendwoher,
und ein friedliebendes Volk wurde angegriffen und aus seinem Land
vertrieben.
Nach der
zionistischen Version akzeptierten die Juden den
Kompromiss-Teilungsplan der UN, aber die Araber wiesen ihn zurück
und begannen einen blutigen Krieg, währenddessen sie von den
arabischen Staaten überredet wurden, ihre Häuser zu verlassen, um
dann mit den siegreichen arabischen Armeen zurückzukehren.
Beide Versionen sind
äußerster Unsinn – eine Mischung von Propaganda, Legende und
verdrängten Schuldgefühlen.
Während des Krieges
war ich Mitglied einer mobilen Kommando-Einheit, und diese war auf
der ganzen Südfront aktiv. Ich war ein Augenzeuge von dem, was dort
geschah.
Ich schrieb während
des Krieges ein Buch („In den Feldern der Philister“) und eines
direkt nach dem Krieg („Die andere Seite der Münze“). Sie erschienen
zusammen 1948 auf Deutsch unter dem Titel „ Die andere Seite der
Münze“. Ich schrieb auch in der ersten Hälfte meiner Autobiographie
(„ Optimistisch“); das im letzten Jahr auf Hebräisch erschien. Ich
werde zu beschreiben versuchen, was wirklich geschah. „1948 - eine
Soldatengeschichte“.
ZU ALLERERST müssen
wir uns davor hüten, 1948 mit den Augen von 2015 zu sehen. So
schwierig es auch sein mag, so müssen wir versuchen, uns in die
Realität von damals zu versetzen. Anders sind wir nicht in der Lage,
das zu verstehen, was tatsächlich geschah.
Der Krieg von 1948
war einmalig. Er war eine Folge historischer Ereignisse, die
nirgendwo eine Parallele hat. Ohne seinen historischen,
psychologischen, militärischen und politischen Hintergrund zu
berücksichtigen, ist es unmöglich, zu verstehen, was damals geschah.
Weder die Auslöschung der einheimischen Amerikaner durch die weißen
Siedler noch die verschiedenen kolonialen Genozide ähneln dem.
Die unmittelbare
Ursache war die UN-Resolution vom November 1947: die Teilung
Palästinas. Sie wurde von den Arabern sofort abgewiesen, die die
Juden als fremde Eindringliche ansahen. Die jüdische Seite
akzeptierte diese Teilung. Aber David Ben Gurion rühmte sich später
damit, er hätte nicht die Absicht gehabt, mit den Grenzen von 1947
zufrieden zu sein. Als der Krieg Ende 1947 begann, lebten im
britisch beherrschten Palästina über 1,250 000 Araber und 635000
Juden. Sie lebten in getrennten Nachbarschaften in den Städten
(Jerusalem, Tel Aviv. Jafa, Haifa) und in benachbarten Dörfern.
Der Krieg von 1948/49
bestand tatsächlich aus zwei Kriegen, die ineinander über-gingen.
Vom Dezember 47 bis Mai 48 war es ein Krieg zwischen den Arabern und
der jüdischen Bevölkerung innerhalb Palästinas, von Mai bis zum
Waffenstillstand anfangs 1949 war der 2. Krieg. Es war ein Krieg
zwischen der neuen israelischen Armee und den Armeen der arabischen
Länder – hauptsächlich der jordanischen, ägyptischen, syrischen und
irakischen.
IN DER ersten und
entscheidenden Phase war die palästinensische Seite in zahlreichen
Dörfern klar die überlegene Seite. Die arabischen Dörfer
beherrschten fast alle Landstraßen; die Juden konnten sich nur in
eilig gepanzerten Bussen und mit bewaffneten Wächtern bewegen.
Doch die jüdische
Seite hatte eine vereinigte Führung unter Ben Gurion und schuf eine
vereinigte, disziplinierte, gut organisierte militärische Truppe,
während die Palästinenser nicht in der Lage waren, eine vereinigte
Führung und Armee aufzubauen. Dies zeigte sich als entscheidend.
Auf beiden Seiten gab
es keinen wirklichen Unterschied zwischen den Kämpfern und den
Zivilisten. Die arabischen Dorfbewohner besaßen Gewehre und Pistolen
und eilten zur Szene, wenn eine vorbeifahrende jüdische
Fahrzeugkolonne angegriffen werden sollte. Die meisten Juden waren
in der Haganah organisiert, der bewaffneten
Untergrund-Verteidigungskraft. Die beiden „terroristischen“
Organisationen, der Irgun und die Stern-Gruppe, vereinigten sich
mit der gemeinsamen Kraft, der Haganah.
Auf beiden Seiten
wusste man, dass dies ein existentieller Kampf war.
Auf der jüdischen
Seite war es die unmittelbare Aufgabe, die arabischen Dörfer an den
Landstraßen zu vertreiben. Das war der Beginn der Nakba,
Von Anfang an warfen
Gräueltaten böse Schatten auf beide Seiten. Wir sahen Araber, die in
Jerusalem mit abgetrennten Köpfen unserer Kameraden marschierten.
Es gab auch Gräueltaten, die von unserer Seite begangen wurden,
die ihren Höhepunkt in dem berühmten Deir Yassin –Massaker fanden,
einem Jerusalem benachbarten Ort. Es wurde von der
Irgun-Stern-Gruppe angegriffen. Viele seiner männlichen Bewohner
wurden massakriert, mit vielen Frauen marschierte man durch das
jüdische Jerusalem. Vorfälle wie diese schufen von Anfang an die
Atmosphäre des existentiellen Kampfes.
Durchweg war dies ein
total ethnischer Kampf zwischen beiden Seiten, von denen jede Seite
behauptete, das ganze Land sei ausschließliche seine Heimat und
leugnete die Behauptung der anderen Seite. Lange bevor der Ausdruck
„Ethnische Säuberung“ aufkam, geschah dies während des ganzen
Krieges. Nur wenige Araber blieben in den von Juden eroberten
Gebieten (im Etzion Block, in der Altstadt von Jerusalem) Überhaupt
keine Juden blieben in den wenigen von arabischer Seite eroberten
Stadtteilen.
Als der Mai näher kam
und die Erwartung, dass sich arabische Armeen in den Konflikt
einmischen würden, versuchte die jüdische Seite, eine Zone zu
schaffen, aus der alle nichtjüdischen Bewohner entfernt wurden.
Man muss verstehen,
dass die arabischen Flüchtlinge nicht „das Land verließen“. Als ihre
Dörfer beschossen wurden – gewöhnlich bei Nacht - nahmen sie ihre
Familien mit sich und flohen ins nächste Dorf, das dann unter Feuer
kam und so weiter. Am Ende fanden sie zwischen sich und ihrem Heim
eine Waffenstillstandslinie.
DER PALÄSTINENSISCHE
Exodus war kein gerader Prozess: Er veränderte sich von Monat zu
Monat, von Ort zu Ort und von Situation zu Situation.
Zum Beispiel: die
Bevölkerung von Lod war gezwungen zu fliehen, da wahllos auf sie
geschossen wurde. Als Safed erobert wurde – gemäß dem Kommandeur:
Wir trieben sie nicht aus – öffneten wir nur einen Korridor für
sie, damit sie fliehen konnten.
Bevor Nazareth
besetzt wurde, signierten die örtlichen Führer ein Dokument der
Übergabe, und der Stadtbevölkerung wurde Leben und Besitz
garantiert. Der jüdische Kommandeur, ein kanadischer Offizier mit
Namen Dunkelman wurde dann mündlich der Befehl gegeben, sie zu
vertreiben. Er weigerte sich und verlangte einen schriftlichen
Befehl, der niemals ankam. Darum ist Nazareth noch heute eine
arabische Stadt.
Als Jafa erobert
wurde, flohen die meisten Einwohner übers Meer nach Gaza. Diejenigen
die nach der Übergabe blieben, wurden auf Lastwagen geladen und in
Richtung Gaza geschickt.
Während der große
Teil der Vertreibung aus militärischer Notwendigkeit geschah, gab es
sicher einen unbewussten, halb bewussten oder bewussten Wunsch, die
arabische Bevölkerung loszuwerden. Es lag „im Blut“ der
zionistischen Bewegung.- noch bevor Theodor Herzl überhaupt an
Palästina dachte. Tatsächlich schlug Theodor Herzl - als er den
Entwurf seines bahnbrechenden Buches „Der Judenstaat“ schrieb -
den jüdischen Staat in Patagonien (Argentinien)zu gründen und
forderte auf, alle einheimischen Bewohner zu vertreiben.
Nachdem die
arabischen Armeen sich im Mai den Krieg eingemischt hatten, wurden
die Ägypter nur 22km vor Tel Aviv gestoppt. Mit der UN wurde eine
ein-Monat langeFeuerpause verabredet, und von der israelischen
Seite wurde diese dazu benützt, sich selbst mit schweren Waffen
(Artillerie, Panzern, Militärflotte, Kampfflieger) auszurüsten –
ja, die von Stalin für sie in der Tschechei geliefert wurde( sie
wurden im 2. Weltkrieg für die Wehrmacht produziert und einige
Gewehre hatten noch Hakenkreuze eingeritzt. In der sehr schweren
Schlacht vom Juli begann die israelische Seite zu gewinnen. Von da
an wurde die militärische Entscheidung getroffen, die arabische
Bevölkerung zu vertrieben. Die . Einheiten bekamen den Befehl, auf
jeden Araber zu schießen, der versuchte, in sein Heimatdorf
zurück-zukehren
Der entscheidende
Moment kam zum Ende des Krieges, als entschieden wurde, den
Flüchtlingen die Rückkehr nicht zu erlauben. Es gab keine offizielle
Entscheidung. Die Idee kam nicht einmal auf, als die jüdischen
Flüchtlinge aus Europa, die Überlebenden des Holocaust, das Land
überfluteten und die Orte füllten, die von den Arabern. verlassen
worden waren.
Die zionistische
Führung war sich sicher, dass innerhalb einer oder zweier
Generationen die Flüchtlinge vergessen sein werden. Das war ein
Irrtum
ES SOLLTE daran
erinnert werden, dass all dies nur wenige Jahre nach der
Massenvertreibung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und
den baltischen Staaten geschah, was als normal akzeptiert wurde.
Wie eine griechische
Tragödie wurde die Nakba durch den Charakter all seiner
Teilnehmer, Täter und Opfer aufbereitet. Jede Lösung des „Problems“
müsste mit einer bedingungslosen Entschuldigung von Israel für
seinen Teil der Schaffung der Nakba beginnen.
Die praktische Lösung
muss wenigstens eine symbolische Rückkehr einer Ansiedlung der
Mehrheit von Flüchtlingen auf israelischem Gebiet sein, eine
Mehrheit von Flüchtlingen in den Staat Palästina, wenn er entsteht,
und eine großzügige Kompensation an jene, die sich entscheiden ,
dort zu bleiben, wo sie sind oder woandershin auszuwandern.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs vom Verfasser autorisiert)